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Gesundheitswesen


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Produktart: Buch
Verlag: disserta Verlag
Erscheinungsdatum: 01.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 156
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Der fehlende Facharzt für Notfallmedizin in Deutschland bietet seit Jahren Diskussionsstoff. Im europäischen Vergleich gehört Deutschland zu den wenigen Ländern ohne Facharztstatus und ohne Etablierung der Notfallmedizin als eigene Fachdisziplin. Die präklinische Patientenversorgung gilt allgemein als beispielhaft, die innerklinische Notfallversorgung jedoch als vernachlässigt. Aufgrund des föderalistischen Grundprinzips gibt es keine bundesweit einheitlichen Regelungen zu Ausbildungsinhalten, Finanzierung und Vorhaltung von Personal und Technik. Bundesland übergreifende evidenzbasierte Studien existieren nicht. Das vorliegende Buch schafft einen ganzheitlichen Überblick über die notfallmedizinische Situation in Deutschland. Angesichts der Komplexität und Bedeutung der Thematik werden zunächst die Rahmenbedingungen der Notfallmedizin, d. h. die geschichtliche Entwicklung, Finanzstrukturen und rechtliche Aspekte, ausführlich dargestellt, um ein Verständnis für die darauf folgende Beschreibung der präklinischen und innerklinischen Versorgung aufzubauen. Konkret werden theoretische Ausbildungsinhalte der derzeit in Deutschland gültigen Zusatzweiterbildung und der in Europa standardisierten Facharztausbildung aufgezeigt. Der Praxisnähe dienen ein Vergleich im internationalen Kontext mit Fokus auf Frankreich sowie eine eigene Studie und Expertenbefragungen. Ziel des Buches ist es, neben dieser umfassenden Situationsbeschreibung die Auswirkungen des fehlenden Facharztes für Notfallmedizin auf die Qualität der präklinischen und innerklinischen Patientenversorgung darzustellen, mögliche Lösungsansätze für erörterte Probleme aufzuzeigen und in Resümee die Notwendigkeit des Facharztstatus‘ sowie die damit einhergehende Etablierung der Notfallmedizin als eigene Fachdisziplin zu plausibilisieren.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 7. Fehler und Irrtümer in der Notfallmedizin: Notaufnahmen gelten aufgrund der erschwerten Arbeitsbedingungen für pflegerisches und ärztliches Personal als Hochrisikobereich. Allem voran der hohe Zeit- und Entscheidungsdruck, die verschiedenartigsten Krankheits- und Verletzungsbilder mit jeweiligen Behandlungsdringlichkeiten, multikausale Prozessabläufe und Multimorbidität, die tendenziell steigende Patientenfluktuation sowie personale und räumliche Limitationen zeigen die Notwendigkeit für ein strukturiertes Risikomanagement. Die Fehlerinzidenz in der Notaufnahme beläuft sich laut Koppenberg auf 8,8 Teamfehler pro Tag (Vergleich ITS 1,7 Fehler pro Patient und Tag), wobei mindestens die Hälfte aller unerwünschten Ereignisse vermeidbar gewesen wäre. Hauptgründe für Fehler und Irrtümer in der Notfallmedizin sind falsche oder verzögerte Diagnosen und Therapien, die am häufigsten bei Lungenembolie, Myokardinfarkt, Krebserkrankungen, Schlaganfall und Frakturen auftreten. Dies korreliert mit den hohen Myokardletalitätszahlen 2013 im internationalen Vergleich und der Behandlungsfehlerstatistik der BÄK 2012, die von Diagnose- und Therapiefehlern in der Unfallchirurgie (insb. Gonar- und Koxathrose), Onkologie (insb. Mamma Karzinom) und Kardiologie angeführt wird. Hauptgründe für falsche oder verzögerte Diagnostik und Therapie liegen hauptsächlich in der unvollständigen Anamneseerhebung aufgrund sogenannter Bias, d. h. der Voreingenommenheit oder Beeinflussung des behandelnden Arztes, die sich oft in mangelnden Differentialdiagnosen, Fehleinschätzung eigener Fachkompetenz und der von Kollegen sowie in mangelnder Nutzung von Technik und Hilfsmitteln (kein primäres Schreiben von 12-Kanal-EKG bei Verdachtsdiagnose Abdomen oder AMI) widerspiegelt. In vielen Fällen resultiert dies aus unbegründetem Nichteinhalten internationaler Leitlinien und Nichtnutzung von standardisierter Dokumentation bzw. aus lückenhafter Dokumentation (z. B. NotarzteinsatzprotokolI). Interessanterweise wurde die Hypothese verworfen, dass die Richtigkeit der am Notfallort gestellten Erstdiagnose vom Aus- bzw. Weiterbildungsstatus oder von der Fachdisziplin der Notfallmediziner abhängt. Verschiedene Studien belegen, dass Gründe für mangelhafte Diagnose- und Therapie vielmehr mit der Einsatzfrequenz der tätigen Notärzte zusammenhängen und in der fehlenden Ausstattung und Nutzung der Technik auf RTW und NEF, der mangelnden kontinuierlichen Weiterbildung und Schulung der Notfallmediziner und der schlechten Dokumentationsqualität liegen. Diese Aussage kann teilweise durch die eigene Studie unterstützt werden (siehe Kapitel 11. Studie). Kritisch wird in diesem Zusammenhang noch einmal auf die bundesweit uneinheitliche Regelung zur Vorhaltung von Medizintechnik und Medikamenten in der Präklinik (12-Kanal-EKG und Lysemöglichkeit) hingewiesen, die ein leitliniengerechtes notfallmedizinisches Handeln in einigen Bundesländern erschwert oder sogar unmöglich macht. Eine Standardisierung der Rettungsdienstgesetze sowie die Vereinheitlichung der Ausbildungsinhalte für Notfallmediziner ist unumgänglich und muss mit einem strukturierten Risikomanagement zur Risikoidentifizierung (Fehleinschätzungen, mangelnde Überwachungsmöglichkeiten etc.), Risikobewertung (z. B. Eintrittswahrscheinlichkeit), Risikobewältigung (Algorithmen, SOP, Checklisten, Protokolle etc.) und Risikoüberwachung (z. B. CIRS, M&M Konferenzen) einhergehen. So definiert Neumayr folgende Ansprüche an neue Trainingskonzepte: Integration zertifizierter Kurse zur Verbesserung interprofessioneller und interdisziplinärer Zusammenarbeit, d. h. eine einheitliche Ausbildung mit Vermittlung von Lehrinhalten in der Breite Integration evidenzbasierter Lehraussagen, d. h. Etablierung der Notfallmedizin als eigene Fachdisziplin Standardisierte und kompetenzorientierte praktische Erfolgskontrolle, d. h. verpflichtende einheitliche Regelung in den Ländern zu Personal und Ausstattung Standardisierte regelmäßige Kompetenzprüfung, d. h. verpflichtende kontinuierliche Weiterbildung auch für langjährig tätige Notfallmediziner. Zusammenfassend ist zu sagen, dass dringender Handlungsbedarf im Umgang mit Fehlern und Irrtümern in der Notfallmedizin gegeben ist, der durch neue Aus- und Weiterbildungs- bzw. Trainingskonzepte sowie durch ein strukturiertes Risikomanagement unter Akzeptanz der Notaufnahme als Hochrisikobereich unterstützt werden kann. Die Etablierung des Facharztes für Notfallmedizin mit Vermittlung von notfallmedizinischer Kompetenz in der Breite und unter Einbeziehung von sogenannten ‚social skills‘ sollte sich positiv auf die Entwicklung von Behandlungsfehlerstatistiken und Letalitätszahlen auswirken. 8. Klinische Notfallversorgung: Rettungsstellen bzw. Notaufnahmen kommt eine bedeutsame Schnittstellenfunktion bei der Versorgung notfallmedizinischer Patienten zu, da diese immerhin zwischen 30-50% der Gesamtaufnahmen eines Krankenhause ausmachen, wovon wiederum ein erheblicher Teil über den Rettungsdienst erfolgt. Dieses Kapitel beschäftigt sich eingehend mit den Rahmenbedingungen der innerklinischen Patientenversorgung und stellt schwerpunktmäßig die Notwendigkeit interdisziplinär und interprofessionell arbeitender zentraler Notaufnahmen dar. Dazu werden mögliche Formen, architektonische, organisatorische bzw. prozessuale und personale Anforderungen erläutert und Lösungsmöglichkeiten zur Kompensation bestehender Probleme aufgezeigt. Abrundend wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Etablierung der Notfallmedizin als eigene Fachdisziplin und die Einführung des Facharztstatus‘ zur Unterstützung des Konzepts ZNA dienlich oder gar erforderlich sind. 8.1 Rahmenbedingungen – Status-quo: Im Bereich der Notfallmedizin ist deutschlandweit in den letzten Jahren ein steigendes Patientenaufkommen aus mannigfaltigen Gründen zu verzeichnen. Ein Hauptproblem ist der sozio-demographische Wandel: der stetig wachsende Anteil multimorbider Patienten mit komplexen Krankheitsbildern durch höhere Lebenserwartungen trifft auf infrastrukturelle und personale Versorgungsprobleme gerade in Abwanderungsregionen. Die Zahl der Krankenhauseinweisungen durch fehlende flächendeckende haus- und fachärztliche Versorgung steigt ebenfalls tendenziell. Wie bereits geschildert, haben sich viele Kliniken spezialisiert und somit von der akutmedizinischen Versorgung abgewandt, sodass verbleibende Krankenhäuser diese (Fehl-) Entwicklung für den notfallmedizinischen Bereich abfedern müssen. Zudem kollidiert die steigende Zahl selbstständig vorstelliger Patienten mit deren stärkeren Bewusstsein für Erkrankungen, größeren Erwartungen an die Medizin sowie einem veränderten Konsumverhalten (‘ich-sofort-alles-Gesellschaft’) sowie mit dem problematischen Arztmangel und der veränderten Erwartungshaltung der jungen Ärzte (z. B. Frauenanteil, Dienstplanmodelle von Berufspendlern, Work-Life-Balance). Im Ergebnis sinken sowohl Patientensicherheit als auch Mitarbeiterzufriedenheit, und wirklich vital bedrohte Patienten laufen Gefahr der Unterversorgung durch immense Wartezeiten nach ‚first in – first out‘ Prinzip sowie der zunehmenden Leistungsverdichtung. Krankenhausleitungen sehen sich neuen Herausforderungen in der Personal- und Investitionspolitik gegenübergestellt, die effiziente Restrukturierungen von Notfallstationen mit sich bringen. Diese werden nachfolgend dargestellt. 8.2 Entwicklung und Organisationsformen von Notaufnahmen: Noch vor 50 Jahren wurden Notfallpatienten nach zügiger Anamnese und körperlicher Untersuchung hospitalisiert oder operiert, und Notaufnahmen wurden an internistische oder (unfall-) chirurgische Abteilungen angegliedert, unter dessen chefärztliche Leitung sie auch fielen. Gerade diese Entwicklung ist der Grund für die ungenügende Festlegung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Gleichzeitig werden Neustrukturierungen durch bestehende Besitzstandwahrung seitens der Fachdisziplinen an Räume, Technik und Personal erschwert oder boykottiert. Deutsche Notaufnahmen verhaften in dieser Entwicklungsstarre und Experten bemängeln immer wieder die Vernachlässigung der innerklinischen Notfallversorgung. Dem gegenüber haben sich in sämtlichen angelsächsischen und den meisten EU-Ländern längst selbstständig arbeitende Notfallstationen etabliert, und die Notfallmedizin erfährt dort durch hochgradig spezialisiertes Personal mit weitgehenden Entscheidungs- und Handlungskompetenzen seit Jahren Anerkennung und Unterstützung. Allerdings zeichnet sich auch in Deutschland eine Trendwende ab: immer mehr Kliniken entwickeln sich weg von mono- oder multidisziplinär geführten Notaufnahmen, wo einzelne Fachdisziplinen in eigenen Behandlungsräumen nebeneinander arbeiten und sich die ärztliche Kooperation meist auf Konsultationsanforderungen beschränkt, hin zu interdisziplinären zentralen Notaufnahmen unter organisatorischer ober- oder gar chefärztlicher Leitung. Neben ökonomisch motivierten Neustrukturierungsmaßnahmen seitens der Krankenhausleitungen als Antwort auf Veränderungen in der Finanzstruktur und Erlössituation durch die DRG-Einführung soll eine optimale Patientenversorgung sichergestellt werden. Erwähnenswert ist zudem, dass Rettungsstellen in ihrer Außenwirkung eine beachtliche PR-Wirkung zugeschrieben wird. Durch hohe Struktur- und Prozessqualität entlang der Patientenpfade werden Diagnostik und Therapie initiiert und Patientenströme intelligent gesteuert. Allerdings ist dieser Bereich sehr heterogen, und Konzepte reichen von sogenannten Portalkliniken bis hin zu zentral geführten Notaufnahmen mit oder ohne integrierte Ambulanzen. Vorteile sogenannter ‚stand-alone‘ Notaufnahmen ergeben sich insbesondere für Kliniken mit geringerer Bettenzahl, die über Kooperation oder strategische Allianzen mit anderen Kliniken ihre Marktposition durch Angebotserweiterung in Diagnostik und Therapie halten oder ausbauen können und sich ideal in strukturschwachen Regionen eignen. Sie sind vergleichbar mit den aus dem ambulanten Sektor bekannten niedergelassenen Arztgemeinschaften, z. B. medizinischen Versorgungseinheiten (MVZ), die sich aktuell hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen großer Beliebtheit erfreuen. Nachteilig sind die anfangs hohen Investitionskosten und der zeitintensive Aufbau von Kommunikations- und Informationsnetzen (z. B. telemetrische Vernetzung) zwischen Portalnehmern und -gebern sowie die Abhängigkeit von kommunalen bzw. regionalen Rahmenbedingungen. Beispielhaft für ein intelligentes Schnittstellenmanagement ist die Kooperation eines Multiversorgers (Portalgeber) mit einer neurologischen Fachklinik (Portalnehmer). Durch gemeinsame Entwicklung notwendiger Patientenpfade unter gezielter Einbindung eigener und externer Ärzte und durch Unterstützung durch EDV und Teleradiologie kann beispielsweise erfolgreich eine Stroke Unit aufgebaut und zertifiziert werden. So werden Fachärzte aus Rettungsstelle, Radiologie, Innerer Medizin und der Neurologie befähigt, zügig adäquat die Versorgung von Akutpatienten durch Steuerung der Patientenströme in den Hochrisikobereichen zu gewährleisten. Zentral geführte Notaufnahmen zeichnen sich durch ein hohes Maß an Interdisziplinarität bzw. -professionalität aus und bedürfen eines umfangreichen inner- und außerklinischen Schnittstellenmanagements. Im Folgenden werden bauliche (strukturelle), organisatorische (prozessuale) und personale Anforderungen zum erfolgreichen Aufbau und zur nachhaltigen Führung einer interdisziplinär geführten zentralen Notaufnahme aufgezeigt.

Über den Autor

Verena Stockfisch ist Gesundheitsökonomin und Lean Healthcare Expertin. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Projektleiterin in einem Unternehmen, welches auf die Komplettausstattung (Turn-key) von Krankenhäusern spezialisiert ist, arbeitete die Autorin als strategische Unternehmensplanerin in einem Krankenhaus der Maximalversorgung, wo sie erfolgreich mehrere Projekte nach Lean-Kriterien umsetzte. Zudem ist Frau Stockfisch beratend auf Kongressen und Symposien tätig. Fasziniert von den Organisationsstrukturen der Rettungsstelle im Allgemeinen und der Notfallmedizin im Besonderen, vertiefte sie ihr Wissen im Bereich der Notfallmedizin über die berufliche Perspektive hinaus und widmete sich der Thematik des vorliegenden Buches.

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