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  • Identitätserleben bei transsexuellen Menschen: Zwei narrative Interviews und ihre identitätstheoretische Interpretation

Pädagogik & Soziales


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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 03.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 100
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Wenn ein Mensch einen eindeutig weiblichen oder männlichen Körper hat, sich damit aber nicht identifizieren und die entsprechenden Rollenanforderungen nicht erfüllen kann, wird von einer Störung der Geschlechtsidentität gesprochen. Kommt ein dringender Wunsch hinzu, den eigenen Körper mit medizinischer Hilfe an den des anderen Geschlechts anzupassen, ist von Transsexualität oder Transidentität die Rede. Die Methode des narrativen Interviews ermöglicht den Erzählenden, selbst zu entscheiden, von welchen Teilen ihrer Biographie sie berichten wollen. In dieser Studie werden zwei narrative Interviews mit Betroffenen analysiert, so dass individuelle Erfahrungen mit dem Geschlechtswechsel sichtbar werden. Die beiden Erzählungen lassen zwei Hauptthemen erkennen: Die Interviewten hatten schon immer das Gefühl, anders zu sein und empfinden die Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität durch ihre Umwelt als existenzielle Bedingung für ihr Wohlbefinden. Anhand dieser Kernthemen wird ein theoretisches Feld eröffnet, welches sich ausgehend von allgemeinen Thesen der Sozialisationstheorie den Überlegungen E. H. Eriksons zuwendet und die Theorien G. H. Meads und E. Goffmans einbezieht.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2.1, Was ist Transidentität? Um den Begriff ‘Transidentität’ in einem Satz zu definieren, ließe sich feststellen: Transidente Menschen leben in der ständigen inneren Gewissheit, sich im falschen Körper zu befinden. Sie empfinden sich eigentlich dem anderen Geschlecht zugehörig (de Silva 2005 Eicher 1992 Reinhardt 2005 Rüffer-Hesse, Hartmann 2004, Sonnenmoser 2008). Ihr Selbstbild widerspricht somit ihrer körperlichen Erscheinung. Sie nehmen ihr körperliches Geschlecht zwar realistisch wahr, empfinden dieses aber als subjektiv falsch. Dabei werden sowohl die körperlichen Merkmale des Ursprungsgeschlechts abgelehnt, als auch die daran geknüpften gesellschaftlichen Rollenanforderungen. Dabei leiden die Betroffenen sehr unter der Diskrepanz zwischen der erlebten Geschlechtsidentität und den körperlichen Voraussetzungen. Sie versuchen den Leidensdruck dadurch zu mindern, indem sie die typische Kleidung des Gegengeschlechts tragen, entsprechendes Ausdrucks- und Rollenverhalten erlernen und mit Hilfe von hormonellen und chirurgischen Eingriffen versuchen, den Körper an das subjektive Erleben anzugleichen. Auf der rechtlichen Ebene versuchen die Betroffenen den Vornamen und den Personenstand, die jede Person in ihren Ausweisen einem Geschlecht zuordnen, der erlebten Geschlechtsidentität anzupassen (Reinhardt 2005, S.6 de Silva 2005, S. 261 Rüffer-Hesse, Hartmann 2004). Transidentität tritt prinzipiell unabhängig vom biologischen Geschlecht auf. Einzige Voraussetzung ist, dass das biologische Geschlecht eindeutig männlich oder weiblich sein muss, da es sich ansonsten um eine Form der Intersexualität handelt. So gibt es biologische Männer, die sich selbst als Frauen wahrnehmen, so genannte Mann-zu-Frau-Transidente (MzF). Und es gibt biologische Frauen, die sich als Männer identifizieren, Frau-zu-Mann-Transidente (FzM). Außerdem unterscheiden einige Autor_innen noch zwischen homosexuellen und nicht- homosexuellen Transidenten (Smith et al. 2005). Daran zeigt sich, dass die Transidentität unabhängig von der sexuellen Orientierung besteht. In Bezug auf die Epidemiologie stellt Reinhardt (2005, S. 9) fest, dass heute ca. 8000 bis 10000 transidente Menschen in Deutschland leben. Sonnenmoser (2008, S. 174) spricht von 2000 bis 6000 Betroffenen. Über die Entstehung von Transidentität bestehen derzeit unterschiedliche Annahmen: Vermutungen über somatische Ursachen reichen von einer hormonellen Beeinflussung des Fötus mit gegengeschlechtlichen Hormonen während der Schwangerschaft, über Störungen in nicht genauer identifizierbaren Arealen des Gehirns, bis hin zu Störungen des Glykoproteinhaushaltes (Green 2007, S. 121f). Als psychodynamische Ursache wird ein zum Teil unbewusster Wunsch der Eltern vermutet, ein Kind anderen Geschlechts zu haben. Auch ein Fehlen des gleichgeschlechtlichen Elternteils, oder dessen negative Besetzung stehen im Verdacht, eine positive Identifikation mit dem eigenen biologischen Geschlecht zu verhindern (Sonnenmoser 2008, S. 175). Unter den Betroffenen und ihren Angehörigen ist die Annahme eines angeborenen Defektes weit verbreitet. Diese Meinung wird zum Teil auch von den behandelnden Psycholog_innen und Ärzt_innen vertreten. Keine dieser Annahmen konnte sich bisher in als anerkannte Lehrmeinung durchsetzen. 2.2, Transidentität aus historischer Perspektive: Die Frage nach der Entstehung von Transidentität, lässt sich nicht in dem Sinne beantworten, dass ein Zeitpunkt in der Geschichte auszumachen wäre, an dem dieses Phänomen zum ersten Mal aufgetreten ist. Vielmehr wird angenommen, dass es Transidentität in allen Kulturen und zu jeder Zeit gab. Hirschauer vergleicht Transidentität mit einem seltenen Insekt oder einem neuen Elementarteilchen, das nur endlich im 20. Jahrhundert entdeckt wurde, ‘d.h. korrekt beschrieben, von anderen Syndromen abgetrennt und schließlich erfolgreich behandelt’ (Hirschauer 1992, S.55), auch wenn die Resultate der medizinischen Behandlung noch recht unvollkommen und für die meisten Betroffenen nicht vollends zufriedenstellend sind. Weiter schreibt Hirschauer über die Bedeutung der Medizin: ‘In der Medizin wird also meist mit dem Konzept der Transsexualität geographische und historische Universalität beansprucht’ (Hirschauer 1992, S.55). Das heißt, dass verschiedenste Phänomene des Geschlechtswechsels in anderen Kulturen und Epochen aus heutiger Perspektive und mit heutigen Konzepten betrachtet und unter dem Begriff der Transsexualität zusammengefasst werden. Die fortlaufende Erneuerung des Konzepts hat dazu geführt, dass die Sexualwissenschaft des 20. Jahrhunderts Transsexuelle identifiziert, wo die des 19. Jahrhunderts ‘Homosexuelle’ erkannte und die Medizin des 17. Jahrhunderts über ‘Hermaphroditen’ sprach. So kommt es im Laufe der Geschichtsschreibung zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung von heute als verschieden betrachteter Phänomene. Hirschauer geht es nicht darum, die Einheit des Gegenstandes mit einem Ursprung zu unterstellen und sagt mit Foucault: ‘Das tröstliche Spiel der Wiedererkennung ist zu sprengen. Wissen bedeutet auch im historischen Bereich nicht ‚wiederfinden’ und vor allem nicht ‚uns wiederfinden’’ (Foucault 1977 zit. Nach Hirschauer 1992, S.56) Vielmehr geht es ihm um eine Genealogie des Gegenstandes, um ‘eine ‚Ahnenreihe’ von Phänomenen mit zunächst verworrenen Verwandtschaftsverhältnissen’ (Hirschauer 1992, S.56). In Bezug auf Transidentität besteht die Verwandtschaft zu den Konzepten der Homosexualität und des Hermaphroditismus, die Hirschauer in einem allgemeinen gesellschaftlichen Problem sieht: der Unterscheidung von Geschlechtern. Die Aussagekraft von anatomischen Unterschieden und die Einteilung von Menschen in die zwei Kategorien ‘männlich’ und ‘weiblich’ stellt eine kulturelle Leistung dar und ist nicht vordiskursiv vorhanden (vgl. Butler 1995, Hirschauer 1992). Hirschauer definiert zwei routinemäßige Methoden, durch welche die Geschlechtszugehörigkeit durch die Gesellschaft konstruiert wird. Zum einen ist dies die Inspektion der Genitalien eines jeden Neugeborenen und zum anderen ‘die ‚Alltagsmethode’ der kommunikativen Geschlechtszuschreibung aufgrund von Kleidung, Mimik, Habitus usw.’ (Hirschauer 1992, S. 56). Irritationen entstehen bei diesen Routinen, wenn die Geschlechterkategorien sowohl in ihrer Eindeutigkeit, als auch in ihrer Konstanz bedroht werden. In der abendländischen Kultur führten: uneindeutige Genitalien in der Geburtssituation (Hermaphroditismus), die Wahl gleichgeschlechtlicher Partner für sexuelle Kontakte (Homosexualität) und die Öffentliche Beanspruchung der Darstellungsweisen und des Titels des anderen Geschlechts (Transidentität) zu Problemen bei der Kategorisierung. Um mit solchen Problemfällen umzugehen, wurden Sonderverfahren der Geschlechtsbestimmung entwickelt. Damit verbunden waren jeweils verschiedene Formen der Diagnose und Benennung, politische und juristische Verfahren der Zuweisung, sowie technische Methoden der Geschlechtsdetermination. In der historischen Entwicklung sieht Hirschauer den so genannten ‘Willen zum Wissen’ dessen Leitidee, laut Foucault, die Unterstellung eines wahren Geschlechtes sei. Diese Annahme über die Existenz eines ‘wahren Geschlechtes’ und der dazugehörigen ‘wahren Sexualität’ führte dazu, dass Menschen mit uneindeutigen Genitalien, Individuen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, sowie virile Frauen und passive Männer als eine Art ‘Irrtum’ betrachtet wurden (Hirschauer 1992, S. 56). In diesem Sinne lässt sich auch die Transidentität als Konzeption eines ‘wahren Geschlechts’ in einem ‘falschen’ Körper betrachten.

Über den Autor

Dr. rer. med. Evelyn Kleinert studierte Soziologie und Soziale Verhaltenswissenschaften (M.A.). Anschließend arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Leipzig in verschiedenen Forschungsprojekten (u.a. zu psychoonkologischen Themen, Kinderwunsch-Motiven nicht-heterosexueller Menschen und zu interkulturellen Teams im Krankenhaus) sowie in der Lehre (u.a. Ausbildung von Schauspielpatient_innen und studentischen Tutor_innen Kurse in ärztlicher Gesprächsführung für Medizinstudierende Vorlesungen und Seminare zum Thema Geschlecht und Gesundheit ). Sie promovierte im Fachbereich Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie. Für ihr Forschungsinteresse an sozialen Minoritäten bedient sie sich sowohl qualitativer als auch quantitativer Methoden.

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