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  • Wenn Computerspiele zur Sucht werden: Der Wandel von Sozialbeziehungen bei nicht-stoffgebundener Abhängigkeit

Pädagogik & Soziales


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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 07.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 84
Abb.: 16
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Seit jeher war das Spielen für Menschen von großer Bedeutung, ermöglicht es doch Rückzug aus dem Alltag, Erholung und kreative Entfaltung. Kinder spielen, um ihre (Er-)Lebenswelt zu strukturieren, sich eine eigene Identität zu formen und ihre Rolle im gesellschaftlichen Sozialgefüge zu finden. In unserer hochtechnologisierten und sozial komplexen Zeit sind diese Bedürfnisse ausgeprägter und aufwendiger denn je. Von den modernen Medien werden daher (nicht mehr nur von Heranwachsenden) häufig intuitiv Computerspiele herangezogen, da diese die Möglichkeit bieten, die mit der Selbstsozialisation verbundenen Bedürfnisse nach Macht, Kontrolle und Partizipation zu erfahren und sich nach erfolgreich bewältigten Herausforderungen umgehend zu belohnen. Die Gratwanderung zwischen der Hingabe an das Spiel und der Wahrung der nötigen Distanz gelingt dabei nicht immer. Einige Gamer entwickeln Mediennutzungsschemata, die jenen klassischer Suchtmittelabhängigkeit ähneln, während andere davon unberührt bleiben. Diese Studie untersucht, die an diesem Phänomen beteiligten medieninhärenten und psychodynamischen Faktoren und Mechanismen sowie die potenziell daraus resultierenden psychosozialen Veränderungen.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2.3.1, Gibt es eine Suchtpersönlichkeit? Erklärungsansätze und Faktoren der Suchtentstehung: Seit etwa den 1950er Jahren stellte man sich in der Suchtforschung und der klinischen Psychologie die Frage, wie man einer Abhängigkeitsentstehung entgegenwirken könne. Naheliegenderweise verband man mit dieser Frage die Notwendigkeit der Ursachenforschung auf diesem Gebiet, mit der verschiedene Erklärungskonzepte einhergingen: ‘Sind es eher die Menschen, die eine genetische Anlage dazu haben, einer allgemeinen Suchtpersönlichkeit beziehungsweise bestimmten psychischen Störungen oder schlechten psychosozialen Bedingungen in der Biographie, mit traumatischen Erfahrungen, unbefriedigten Sehnsüchten oder bedenkenlosem Risikoverhalten, sind sie Opfer oder/und Sündenböcke einer Suchtgesellschaft, der gesellschaftlichen Ungleichheit und Ausgrenzung, des zugespitzten Leistungswettbewerbs, einer unbefriedigenden Beziehung oder einer krankmachenden Familiendynamik, der Verführung durch andere Menschen oder durch die Werbung der Orientierungslosigkeit im Wertepluralismus oder der modernen Vernunftorientierung oder sind es die sensibleren, phantasievolleren, kreativeren und daher verletzlicheren Menschen?’ Besonders die Frage nach der Existenz einer spezifischen Suchtpersönlichkeit, also nach einem bestimmten Persönlichkeitsprofil, das nachweislich eine besondere Neigung zur Entwicklung eines Abhängigkeitssyndroms aufweist, wird unter einem gewissen Teil der diesbezüglich forschenden Wissenschaftler bis heute diskutiert. Es existieren gegenwärtig verschiedene Standpunkte zu diesem Thema, eine Einigung ist in naher Zukunft nicht abzusehen. Prof. Dr. KARL MANN, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V. und Mitglied des Drogen- und Suchtrates der Bundesregierung, äußerte sich in einem Interview mit der Zeitschrift Psychologie heute folgendermaßen zu diesem Thema: ‘Das Konzept einer ‚Suchtpersönlichkeit’ ist (…) reine Fiktion – so zeigen Suchtpatienten (…) das gesamte Spektrum der Persönlichkeitseigenschaften wie der Rest der Bevölkerung auch. Bei den Abhängigen finden sich alle sozialen Schichten, Temperamente oder Altersstufen – junge oder ältere Arbeiter und Lehrer genauso wie Phlegmatiker oder Choleriker. Sucht ist unabhängig von Ausbildung oder sozialer Stellung: Unter Alkoholikern etwa finden sich prozentual ebenso viele Akademiker, Ärzte oder Psychologen wie Pfarrer oder Bierkutscher. Die ‚Suchtpersönlichkeit’ ist ein ursprünglich psychoanalytisches Konstrukt, das seit den 50er Jahren auch in der Suchttherapie eine Rolle spielte. Heute muss man davon ausgehen, dass [es] weder in der Forschung noch in der klinischen Praxis irgendwo bestätigt oder hilfreich gewesen wäre. Diesen Kenntnisstand könnte man in der Wissenschaft und der Öffentlichkeit am Anfang des neuen Jahrhunderts endgültig zur Kenntnis nehmen.’ Unabhängig davon, ob jemals ein derartiger Persönlichkeitstyp nachgewiesen werden wird, gibt es jedoch bestimmte Hinweise auf Gemeinsamkeiten unter Süchtiggewordenen, vor allem hinsichtlich der Veränderung ihres Gefühls-, Erregungs- und Bewusstseinszustandes. Der Offenbacher Psychologe und Psychotherapeut WERNER GROSS sieht in jeder Abhängigkeitsentwicklung vor allem eine Flucht aus dem momentanen psychosozialen und lebensweltlichen Jetzt-Zustand des Betroffenen, die jedoch verschiedenartig gerichtet sein kann. Er differenziert diese Ausrichtung in ‘aufputschend, dämpfend oder halluzinogen. [Den] Hintergrund für das wiederholte Aufsuchen dieser Zustände [sieht er] fast immer [in einem] schwach ausgeprägten Selbstwertgefühl, [dass] durch eine Vielzahl von seelischen Verletzungen oder Defiziten, die sich im Laufe der Entwicklung eines Menschen ansammeln und kumulieren, [entsteht].’ Er benennt ferner acht Faktoren, die die Herausbildung von abhängigem Verhalten beeinflussen (vgl. GROSS, 2003, S.257-260): Genetische Faktoren: In der Zwillingsforschung und durch ethnographische Vergleiche konnte nachgewiesen werden, dass selbst genetisch verwandte Menschen eine unterschiedliche Anfälligkeit zur Entwicklung abhängigen Verhaltens aufweisen. So wiesen z. B. Orientale vielfach eine deutlich höhere Alkoholsensibilität auf als Europäer, was als ‚natürlicher Schutz’ gegen Suchtentwicklung interpretiert werden kann. Da dieser Faktor vorrangig im Kontext wirkstoffgebundener Süchte zu nennen ist, ist er im Hinblick auf das Themenfeld mediengebundener Abhängigkeit kaum von Bedeutung. Konstitutionelle Faktoren: Unter Konstitution ist im medizinisch-psychologischen Sinne die Gesamtheit aller morphologischen, physiologisch-biochemischen sowie psychologischen Merkmale eines Menschen, kurz also seine somatischen Gegebenheiten, zu verstehen. Verschiedene - vor allem traditionelle - Psychiater sehen die Existenz eines ‚vererbbaren konstitutionellen Faktors’ für gegeben, der sich (…) auch im zentralen Nervensystem niederschlägt. Im Kontext mediengebundener Abhängigkeit könnten diesbezüglich etwa vererbbare Schädigungen bestimmter Nervenzentren und Gehirnregionen (z. B. die des so genannten ‘Belohnungssystems’) von Bedeutung sein. Frühkindliche Situation: Vor allem psychoanalytische Autoren sehen in der frühkindlichen seelischen Entwicklung einen bedeutsamen Faktor der Abhängigkeitsentstehung im späteren Jugend- bzw. (frühen) Erwachsenenalter. Die Vernachlässigung des Kindes in den ersten Lebensjahren führt unter anderem zum Phänomen der oralen Gier, was sich in einem ‚verschlingenden Weltbezug’, also in einer übermäßigen Konsumorientierung, emotionaler und materieller Unersättlichkeit oder in stetigem Eroberungsdrang, äußert. Weiterhin spielt das so genannte narzisstische Defizit eine nicht unerhebliche Rolle: es beschreibt das Verlangen des Jugendlichen oder Erwachsenen, das Gefühl innerer Leere, Bedeutungslosigkeit und Selbstverachtung durch suchtartiges Verhalten zu betäuben oder es vollends zu verdrängen. Familientradition: Eine zentrale Bedeutung nehmen innerfamiliäre Sozialbeziehungsstrukturen und die durch diese vermittelten Werte, Handlungs- und Problemlösungsmöglichkeiten ein. Wenn Menschen in ihrer Familie nicht lernen, unabhängig zu werden und Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, kann das zu einer süchtigen Entwicklung führen. Konfliktlösungsmechanismen der Eltern werden von den Kindern mittels Modell-Lernen übernommen. Wenn dem Kind also bereits in jungen Jahren von den Eltern gezeigt wird, dass Alkoholkonsum oder die Flucht in exzessives Essen oder Arbeiten als Problemlösung taugen, ist es sehr wahrscheinlich, dass es dieses Verhalten im Verlauf des eigenen Heranwachsens ebenfalls ausprobiert bzw. nachahmt. Im Kontext der Computerspielsucht sei hier besonders auf die Demonstration von Gewaltanwendung als Konfliktlösung’ verwiesen. Peer-Group: ‘Unter ‚Peer-Group’ versteht man die Bezugsgruppe der Gleichaltrigen, deren Normen man übernimmt.’ Ihre Bedeutung für die psychosoziale Entwicklung des Menschen ist enorm. Besonders im Jugendalter und der damit verbundenen Zeit der Ablösung aus dem Normensystem des Elternhauses ist sie eine zentrale Orientierungsinstanz für das eigene Verhalten. ‘Wenn in diesen Peer-Groups der süchtige Umgang mit Drogen als positiv angesehen wird bzw. süchtige Verhaltensweisen als erstrebenswert dargestellt werden, beeinflusst das mitunter die Suchtkarriere.’ Besonders auch im Hinblick auf Computerspielsucht ist das Verhalten der Gleichaltrigen von entscheidendem Rang im Prozess der Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion: Wenn ein Großteil der Kontakte im Freundes- und Bekanntenkreis selbst exzessiv Computerspiele spielt, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Betroffene ein ähnliches Verhalten an den Tag legt. Er erfährt durch sein Spielen Kompetenzbestätigung von Seiten des Spiels und durch die Legitimierung und anerkennende Rückmeldung der Peer-Group auch Bestätigung von außen. Kritische Lebensereignisse: Hier spielen vor allem Ereignisse im Bereich strukturgebender Tätigkeiten wie Arbeit, Schule, etc. eine Rolle, so beispielsweise Stress, Entlassung, Unter- und Überforderung oder das Verrichten von als sinnlos empfundenen Arbeiten. Im privaten Bereich beeinflussen vor allem emotionale strukturverändernde Ereignisse, wie z. B. Scheidung oder Trennung, die Neigung zu abhängigem Verhalten. Auch die einschneidende Erfahrung, Opfer sexuellen Missbrauchs oder gar sexueller Gewalt geworden zu sein, äußert sich nicht selten in einer späteren Suchtentwicklung. Im Hinblick auf Computerspielsucht wird hier ein klarer Bezug zu Flucht- und Ersatzhandlungen erkennbar: berufliche Unter- oder Überförderung kann im virtuellen Rahmen auf die eigenen Fähigkeiten oder Bedürfnisse angepasst werden, erfahrene Geringschätzung lässt sich im Spiel durch fähiges Vorgehen und die damit verbundenen Erfolge kompensieren. Opfern sexuellen Missbrauchs hingegen dient die Entwicklung eines Abhängigkeitsverhaltens eher als - leider oft missverstandene – Strategie, dem sozialen Umfeld den Wunsch anzuzeigen, sich über ihre tragischen Erfahrungen mitzuteilen. Kulturelle Bedingungen: Inwieweit abhängiges Verhalten in Kultur und Gesellschaft toleriert wird, hängt von der Art und dem Grad der Suchtentwicklung sowie von der Zugänglichkeit des Suchtmediums ab. So ist z. B. Alkohol (und teilweise auch Haschisch) in weiten Teilen westlicher Zivilisationen durchaus als ‚gesellschaftliche Schmiermittel’ geduldet und hat darüber hinaus sogar wirtschaftlich-gewerbliche Bedeutung. Doch auch im Bereich nichtstoffgebundener Abhängigkeit ist dieser Faktor von entscheidender Bedeutung. So verkompliziert die fortschreitende Technisierung und Medialisierung in den westlichen Industrienationen zusehends die Festsetzung eines objektiven Grenzwertes, ab dem man von der Herausbildung medienabhängigen Verhaltens sprechen kann. Die zunehmende Medienkompetenz Jugendlicher wird im Hinblick auf die Befähigung der jungen Generation für zukünftige berufliche Laufbahnen vorwiegend gern gesehen der Übergang von funktionalem zu dysfunktionalem Mediennutzungsverhalten verschwimmt damit jedoch ebenso. Lebensstil: Unter dem Begriff des Lebensstils ist im eigentlichen Sinne kein eigenständiger Faktor zu verstehen. Er beschreibt vielmehr eine Art Essenz der bisher genannten Faktoren. Das bedeutet, dass die Kombination aus individuellen Erfahrungen, Kompetenzen, Erlebnissen, Rückmeldungen, Traditionen, Werten, Zielen, Präferenzen, usw. zu einem individuellen Sinnmodell, dem Lebensstil, zusammengefasst werden. Je nach Ausprägung, Fortschritt und Beschaffenheit dieses Konglomerats erfolgt dann intrapersonal die Be- oder Verurteilung von degenerativen exzessiven Verhaltensweisen, wie etwa die der stofflichen oder nichtstofflichen Abhängigkeit. Es erscheint also sinnvoll, diese acht Faktoren weniger als Diagnoseindikatoren eines eigenständigen Suchtpersönlichkeitstypus im Rahmen einer psychologisch-diagnostischen Anamnese, sondern vielmehr als grundlegende Bestandteile einer jeden Suchtentwicklung zu begreifen. Bezug nehmend auf LOVISCACHs Frage nach den weiteren Entstehungsbedingungen ist es ein Kernpunkte der heutigen Ursachenforschung, die Multikausalität in der Entstehungsdynamik zu berücksichtigen und das Wechselspiel der beteiligten Faktoren näher zu beleuchten.

Über den Autor

Patrick Hentschke (*1983) studierte Soziale Arbeit M.A. an der Hochschule Darmstadt und widmete sich dabei insbesondere den Themen Sozialmedizin und subjektorientierte Biografie- und Fallarbeit. Weitergebildet zum Soziotherapeuten/Sozialpsychiatrie ist er heute im Handlungsfeld stationärer und ambulanter Wohnungslosen-, Sucht- und Straffälligenhilfe tätig. Sein forscherisches Interesse gilt insbesondere den Mechanismen biografisch bedingter Identitätskonstruktion und -veränderung sowie der kritischen Analyse des Mensch-Tier-Verhältnisses (Human-Animal-Studies).

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