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Geisteswissenschaften


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Produktart: Buch
Verlag: Bachelor + Master Publishing
Erscheinungsdatum: 11.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 64
Abb.: 44
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Komplexität ist in unserer gegenwärtigen Welterfahrung deutlich anhand der allgemeinen Zunahme von Informationen, Lebensentwürfen und Wahlmöglichkeiten spürbar. Blickt man auf die künstlerischen Ideen im Umfeld dieser Ausdifferenzierungsprozesse, so bietet das multiperspektivische Erzählen eine passende Form, die Pluralismus und Polyphonie adäquat darzustellen vermag. Im Zentrum dieser Arbeit steht die Analyse zweier Spielfilme ( Rashomon aus dem Jahr 1950 und Syriana aus dem Jahr 2005), die beide auf sehr unterschiedliche Weise multiperspektivisch erzählen. Anhand dieser beiden Werke erkundet Bärbel Scherf die Bandbreite wie die Funktionalisierungen dieses im filmischen Kontext recht jungen Erzähltypus und geht auch auf die historischen Hintergründe desselben ein. Am Ende steht die Einsicht, dass Rashomon und Syriana sich nicht nur sehr unterschiedlicher Formen multiperspektivischen Erzählens bedienen. Es wird auch argumentiert, dass die Erzählform in beiden Filmen diametral entgegengesetzt funktionalisiert wird: Während die komplexe Erzählstrategie bei Rashomon Gewissheiten in Frage stellt, fungiert sie im Fall von Syriana zur Vertrauensbildung in die Darstellbarkeit der Welt.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 3.1.1, Räume, Grenzen und Ereignisse: Versucht man, mögliche Räume in Rashomon zu detektieren, so bietet sich eine große Vielfalt, obwohl die Schauplätze und Figuren in quantitativer Hinsicht überschaubar sind. Zunächst kann man von drei Zeit-Räumen sprechen. Der Raum der Rahmenhandlung fasst die drei Erzählerfiguren: Einen Holzfäller, einen Mönch sowie einen Landstreicher bzw. namenlosen Bürger. Letzterer befragt die beiden nach ihren Zeugenaussagen und den Aussagen des Samurai, der Frau und des Banditen vor Gericht, an welche sie sich in Rückblenden erinnern. Diese in der Vergangenheit liegende Gerichtssituation kann man als zweiten Zeit-Raum bezeichnen, wobei wiederum in Rückblenden das Geschehen im Wald erinnert wird, was den dritten Zeit-Raum darstellt. Insofern ergibt sich eine ‘doppelt gestaffelte Erzählsituation’. Diese Konstellation kann allerdings noch weiter ausdifferenziert werden: Jede einzelne Figur, die sich an das Geschehen aus ihrer Perspektive erinnert, schafft einen eigenen, subjektiven erinnerten Raum, der sich von denen der anderen erzählenden Figuren unterscheidet: Jeder schreibt den beteiligten Charakteren andere Eigenschaften hinzu, die Ereignisse unterscheiden sich in ihren Verläufen voneinander, lediglich topographische Aspekte bleiben gleich. Beginnen wir mit dem Raum der übergreifenden Rahmenhandlung. Dieser erhält eine klare Verortung: Die ersten Bilder des Films zeigen das halb zerstörte Tempeltor ‘Rashomon’ in Kyoto. Insofern kann man von einem topographischen Raum mit kulturell-referentialisierendem Aspekt sprechen: Rashomon war das größte Tor in Kyoto, erbaut als dieses noch die Hauptstadt Japans war. Mit dem Verfall der Stadt begann sich auch Rashomon mehr und mehr in eine Tempelruine zu verwandeln. ‘Später wurde es zu einem Versteck für Räuber und Diebe, es diente als Lagerstätte für Verstorbene.’ Diese Konnotationen lassen sich auch inhaltlich im Film wiederfinden: Der Holzfäller und der Landstreicher beispielsweise stellen sich letzten Endes als Diebe heraus, und auch Tajomaru wird als ein berüchtigter Bandit beschrieben. Regen prasselt während des gesamten Films an diesem Schauplatz herunter, der verfallene Tempel ragt hoch auf, die Charaktere sitzen melancholisch versunken unter dem Dach. Der semantische Raum wird insofern nicht nur von gewissen historischen Bezügen charakterisiert, sondern ist auch bestimmt von zusätzlichen Konnotationen wie Grübelei und Stillstand. Denkt man ihn im Gegensatz zu den anderen Räumen im Rahmen einer Hierarchie, so stünde er in dieser ganz oben: Durch die Figuren Holzfäller und Mönch und deren Erinnerung kommen die restlichen Räume erst zur Darstellung, erst durch deren Erzählungen und Reflexionen, begleitet von den Fragen des Landstreichers, kommen die direkt Beteiligten des Geschehens zu Wort: ‘Die Frau, ihr Ehemann und natürlich der Räuber – sie werden allein lebendig durch die Projektion dieser beiden, deren Urteil ebenso in Zweifel gezogen werden darf.’ Der semantische Raum um das Tempeltor ist also der wichtigste Raum, der Rahmen, der die Story zusammenhält und in der Gegenwart situiert ist. Außerdem ist er ein dynamischer Raum: Die Kamera wechselt von nahen und halbnahen Einstellungen zu Totalen, von Auf- zu Untersichten und setzt die Protagonisten ‘[…] in immer wieder neuen Konstellationen […] ins Bild.’ Der zweite Zeit-Raum am Gerichtshof dagegen ist schon etwas in die Vergangenheit geschoben, bezüglich seines Modus ist er ein erinnerter Raum, und nur durch diese Erinnerung existent. Holzfäller und Mönch beispielsweise erinnern sich an ihre eigenen Aussagen und die des Banditen, der Frau und des (Geistes des) Samurai. Im Gegensatz zum Ort der Rahmenhandlung ist der Gerichtshof unspezifisch, sehr reduziert und funktionalisiert – würde man ihn nicht als solchen benennen, er könnte auch für einen beliebigen anderen Raum stehen, da er fast leer ist. Zudem ist er vollständig hell ausgeleuchtet, Schatten, wie im Wald oder beim Tempel gibt es keine, die Kamera bleibt statisch und wechselt nur manchmal von einer Halbnahen zu einer Nahaufnahme, die Einstellungen selbst sind lang. Auch die jeweiligen Zeugen, die zur Sprache kommen, bewegen sich nicht. Sie sprechen alle einen unspezifischen Richter an, der selbst nicht antwortet oder zur Darstellung kommt, die Einstellungen sind jedoch aus seiner Perspektive gefilmt. All dies macht den Raum zu einem nicht verorteten, zweckhaften und abstrakten Raum. Damit wird der Fokus auf die bloße Interpretation der Ereignisse gelegt: ‘Their [die Szenen BS] stylistic abstractness serves to identify the courtyard as an entirely theoretical realm, one designed expressly to serve as the setting for the interpretive drama and for no other. And in entering this realm, in assuming the position of the magistrate, we are ourselves defined in an exclusively interpretive role.” Der rein leere Raum, so könnte man somit interpretieren, soll keine Ablenkung schaffen, damit sich die Aufmerksamkeit (des Zuschauers) ausschließlich auf den Akt der Interpretation der Geschehnisse konzentrieren kann. Bestätigt wird diese Annahme durch einen abschließenden Befund von Julika Griem: Der Eindruck, daß Kurosawas Erzählung durch diese visuelle Strategie die Aufgabe der Relationierung der verschiedenen Figurenperspektiven an den Zuschauer delegiert, wird am Ende des Prozesses bestätigt, indem gerade kein Urteil gefällt wird: Die Aufklärung des Verbrechens kann nicht innerhalb der diegetischen Welt geleistet werden, sondern bleibt dem Zuschauer überlassen. Der dritte Zeit-Raum fasst die Geschehnisse im Wald, reicht also noch ein Stück weiter in die Vergangenheit zurück und steht am Ende der interpretativen Kette: ‘[…] as members of the film audience, we interpret the attempt at the gate to interpret the attempt in the courtyard to interpret the events in the woods.’ Auch er ist somit ein erinnerter Raum sowie ein topographischer Raum, jedoch ist er weder so abstrakt wie der Gerichtshof, noch mit historisch-kulturellen Bezügen aufgeladen wie das Tempeltor. Man könnte von ihm als einem Topos sprechen: Es handelt sich um einen typischen, unspezifischen Wald: Die Figuren sind im Gegensatz zum Gerichtshof dynamisch, laufen durch Geäst und Blättergewirr, sind oft davon verdeckt und der Schauplatz wird in starken Licht- und Schattenkontrasten gezeigt. Auch die Kamera ist, wie am Rashomon-Tor, mobil. ‘Sie wechselt zwischen Vogelperspektive und Untersichten, schnellen und langsamen Fahrten […].’ Die Charaktere werden zudem nicht wie während den Prozess-Szenen aus einer Perspektive – nämlich der des unsichtbaren Richters – gezeigt, sondern aus verschiedenen Perspektiven, der Zeit-Raum ‘Wald’ bietet uns damit ‘[…] verschiedene Identifikationsmöglichkeiten und Revisionsmöglichkeiten an […].’

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