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Geisteswissenschaften


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Produktart: Buch
Verlag: Bachelor + Master Publishing
Erscheinungsdatum: 11.2011
AuflagenNr.: 1
Seiten: 54
Abb.: 10
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

‘Seid gegrüßt, edle Damen und Recken! Es ist mir eine Freude, euch hier zu erblicken! So tretet doch näher und nehmet Teil an dem Treiben hier! Feuerspuckende Gaukler, wagemutige Ritter, kräuterkundige Hexen und frohlockende Musikanten: All dies könnt ihr hier erleben!’ So oder so ähnlich hat es wohl schon jeder gehört, der bereits ein Mittelalterfest besucht hat – sei es auf einer Burg, auf einem Altstadtfest oder einem Weihnachtsmarkt. Ein Herold, der die Massen unterhält, ein Schauspiel, das begeistert, und Verkaufsstände, mit fast allem, was das Herz begehrt, ziehen ein breites Publikum an. Interessant ist auf solchen Veranstaltungen, dass Schausteller und Verkäufer gleichermaßen nicht nur während der Öffnungszeiten in mittelalterliche Kleidung schlüpfen und versuchen, ein ebensolches Leben vorzustellen. Selbst wenn die Besucher nicht mehr anwesend sind, bleiben die Akteure in ihrer Gewandung und leben bestmöglich auf mittelalterliche Weise. Diese Studie geht den Gründen für das gelebte Mittelalter nach. Im Vordergrund stehen die Akteure, die sich bewusst mit dem Mittelalter beschäftigen und ihre Freizeit nach mittelalterlichem Vorbild gestalten, indem sie aktiv an Mittelalterveranstaltungen teilnehmen (beispielsweise als Ritter, Nonne, Narr oder Bauer), um sich für einige Zeit dem Trubel der Gegenwart zu entziehen oder den Besuchern darzustellen, wie man damals lebte, oder indem sie sich im privaten Fähigkeiten aneignen (Weben, Schmieden) und Gegenstände (Holzgeschirr, Rüstungen) anschaffen, die sie mit dem Mittelalter konnotieren. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, warum sich Menschen vorübergehend in eine andere Zeit versetzen. Warum machen sie sich solche Mühen, ihre eigene Kleidung, ihre Möbel und ihre Instrumente selbst zu fertigen oder sich eine alte Technik anzueignen? Warum verzichten sie bewusst auf den Luxus des 21. Jahrhunderts? Mit teilnehmender Beobachtung, Umfragen und einem Interview wird in der vorliegenden Arbeit nachgespürt, was die Beweggründe sind und welche Faszination sich dahinter verbirgt.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 3.1.1, Gründe für die aktuelle Mittelalterrezeption: Was die Gründe für die starke Beachtung des Mittelalters seit Ende des 20. Jahrhunderts betrifft, sind sich Wissenschaftler einig: Sie sehen in dieser Entwicklung ähnliche Ursachen wie Ende des 18. Jahrhunderts als die Romantiker Zuflucht vor Kapitalismus, Selbstsucht und dem damit einhergehenden Verfall von Werten suchten. Sie sehnten sich nach wunderbaren Zeiten und dem Gefühl der Gemeinschaft, was sie in einem idealisierten Mittelalter fanden. Genauso glauben sich heutzutage manche Menschen in einer Welt wiederzufinden, die ihrer Ansicht nach das Zauberhafte verloren hat und zu aufgeklärt ist. Die heutige Gesellschaft muss sich - wie bereits Generationen vor ihr - mit Zeitplänen und finanziellen Fragen auseinandersetzen. Gemeinschaft sowie der direkte Kontakt zur Natur und das Leben in dieser, wie es noch vor einigen Jahrhunderten zu bestehen schien, fehlen Mittelalterbegeisterten. Sie empfinden die Gesellschaft als zu schnelllebig. Der Wunsch nach mehr Mystik aber auch nach mehr direktem Kontakt zur Natur lässt sie nach einer Parallelwelt suchen, in der sie ihre Bedürfnisse befriedigen können so lange und in dem Umfang wie sie es bevorzugen. Es heißt, dass ‘Menschen des Mittelalters [...] 'ohne beständige oder beständig drohende Nationalkriege, ohne Zwangs- und Massenindustrie mit tödlicher Konkurrenz, ohne Kredit und Kapitalismus' [leben konnten].’ Dabei ist das heutige Klischee jener Epoche unter Anderem von der Romantik geprägt und wird von den Medien weitergetragen, ist aber häufig bar jeglicher Realität. Eine weitere Erklärung kann aber auch in dem gestiegenen Wissensdrang an Geschichte allgemein liegen. Die Zahl der Menschen, die sich dem Mittelalter zuwenden, wächst, da diese Epoche in den Medien gegenwärtig äußerst präsent ist. Es geht also vor Allem darum, die subjektiv empfundenen negativen Aspekte der Gegenwart mit solchen Vorstellungen vom Mittelalter auszugleichen und auf individuelle Weise auszuleben, die im Kontrast zu diesen stehen. Da heutzutage mehr Freizeit zur Verfügung steht als jemals zuvor, ist dies auch ohne Probleme möglich. Wer will, kann sich in seinem privaten Umfeld in jeglicher Intensität dem Mittelalter widmen und seine Leidenschaft nach außen tragen. Folglich lassen sich mit diesen Auslegungen Rückschlüsse auf die Gesellschaft des auslaufenden 20. und 21. Jahrhunderts ziehen: Wie werden Gegenwart und Vergangenheit aufgefasst? Wie beeinflusst die eine Vorstellung die andere? Durch die besprochene Mittelalterrezeption werden die Unannehmlichkeiten der Gegenwart ausgeglichen beziehungsweise herausgehoben oder sogar Ergänzungen hinzugefügt. Es handelt sich also nicht um Bemühungen, das Mittelalter so authentisch wie möglich wiederzugeben und zu erleben, sondern um pures Lebensgefühl. Die Menschen des Industriezeitalters spiegeln in ihrer Mittelalterrezeption die Gegenwart wider und zeigen damit ihren Missmut über aktuelle Entwicklungen auf. In Teilen unserer Gesellschaft hat sich Unbehagen herauskristallisiert, das mit Flucht in die Vergangenheit kompensiert werden soll. Der Fortschritt wirkt auf manche einschüchternd. Sie sehen sich konfrontiert mit nicht mehr beeinflussbarer und undurchschaubarer Machtausübung sowie dem Rückgang natürlicher Lebensräume. Die Wertesysteme scheinen sich verschoben zu haben. Der gesellschaftliche Druck auf den Einzelnen wird durch das engere Zusammenleben immer größer. Das Mittelalter erlaubt als eine einerseits so entfernte und (dadurch) andererseits mit so vielen Sehnsüchten beladene Welt dem Einzelnen Zuflucht vor den Belastungen des modernen Alltags. 3.1.2, Beurteilung der aktuellen Mittelalterrezeption: Das Mittelalter lässt sich an fast jeden Lebensbereich, an jegliche Zeit und an nahezu alle Altersgruppen angleichen. Vor allem die Medien benutzen das Stichwort 'Mittelalter' in Verbindung mit affirmativen oder negativen Zusätzen, um Emotionen und damit Interesse zu erwecken. Kritisieren lässt sich, dass es sich häufig nicht um historisch korrekte Darstellungen handelt. Vielmehr werden die Sehnsüchte der Empfänger ermittelt und das Programm an deren Erwartungen angepasst, indem sich vieler Klischees bedient wird oder Erklärungen - des Verständnisses wegen - stark vereinfacht werden. Das Problematische hierbei ist: Ein Großteil der Bevölkerung bezieht Informationen zur Geschichte nicht aus wissenschaftlichen Büchern, sondern über das Internet, aus dem Fernsehen oder aus Unterhaltungen. Die Gefahr besteht darin, dass selbst der wirklich an Geschichte Interessierte irgendwann nicht mehr weiß, ob es sich um authentische Rezeptionen handelt oder nicht und somit falsche Mittelalterbilder entstehen und übertragen werden können. Als weiteren, aber kaum zu ändernden Kritikpunkt lässt sich konstatieren, dass sich viele nur schwer für belegte Historie begeistern lassen, da diese überwiegend monoton präsentiert wird. Wird dagegen Geschichte in lebendigen Bildern und in mitreißenden Schilderungen dargereicht, was allerdings oftmals auf Kosten der Authentizität geschieht, lassen sich mehr Menschen erreichen. Das zeigt, dass durchaus ein gewisses Maß an Wissbegierde vorherrscht. Allerdings ist das Bedürfnis der Unterhaltung und des Kennenlernens von fremden und außergewöhnlichen Kulturen größer. So scheint das Mittelalter weniger aufgrund dessen geschichtlicher Einbettung von Bedeutung zu sein als vielmehr hinsichtlich des affektiven Zugangs. Das sogenannte 'kollektive Gedächtnis' – geprägt von Maurice Halbwachs – greift hier. Darunter versteht man das Bewahren von Vergangenheit innerhalb einer Gruppe und steht beinahe konträr zur 'historischen Erinnerung'. Das heißt, dass Geschichte und Erinnerung nicht identisch sind und Menschen dazu neigen, sich mehr dem letztgenannten hinzugeben als sich konkret mit der Historie auseinanderzusetzen. Wird beispielsweise ein Bericht in den Medien gesendet, findet er rasch Verbreitung, auch wenn nicht alles korrekt ist, und bleibt im Gedächtnis mehrerer Leute haften. Diese Informationen werden dann im Unwissen weitergegeben, dass ihre Mitteilungen eventuell fehlerhafte Angaben beinhalten. Trotz der fehlenden Belegbarkeit der Informationen entsteht dennoch eine 'kollektive Erinnerung' an das Erzählte und gilt als Geschichte. Deswegen werden mittelalterliche Darstellungen von Gelehrten meist kritisch betrachtet, da diese sich nicht ausschließlich auf wissenschaftliche Texte berufen, sondern sich auch durch Ausprobieren und Mundpropaganda Wissen aneignen und es als 'so könnte es gewesen sein' an ihr Publikum verkaufen.

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