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Gesellschaft / Kultur


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Produktart: Buch
Verlag: disserta Verlag
Erscheinungsdatum: 08.2012
AuflagenNr.: 1
Seiten: 192
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Mit ihren Kinder- und Hausmärchen setzten die Brüder Grimm neue Maßstäbe und wurden zum Vorbild für Generationen deutscher und internationaler Volkskundler. Diese Studie zeigt, dass die offiziellen Behauptungen der Brüder Grimm zu ihrer Sammeltätigkeit und Vorgehensweisen in offensichtlichem Widerspruch zu ihren tatsächlichen Arbeitsmethoden stehen. Ein kritischer Blick auf Inhalt und Aufbau der Vorrede zu Kinder- und Hausmärchen lässt bereits erahnen, dass die Grimms nicht die ganze Wahrheit erzählten, sondern lediglich Bruchstücke ihres großen Fachwissens vermittelten, welche sich mit der romantischen Auffassung von einer sich im Absterben befindenden deutschen Erzähltradition und den Forderungen des angehenden Biedermeiers deckten. Das Ideal der Brüder Grimm bestand aus der romantischen Vorstellung einer reinen und unmittelbaren Volksdichtung, die sich seit einer zeitlich unbestimmbaren Vergangenheit unter einfachen und ungebildeten Menschen auf dem Lande erhalten hatte. Weil die Grimms ihre Märchen für ihre eigene Gegenwart vermittelten, spielte die romantische Trauer über den inzwischen vergangenen naiv-kindlichen Glückszustand eine entscheidende Rolle. Die Brüder Grimm sind jedoch niemals - wie z.B. ihr dänischer Nachfolger Evald Tang Kristensen - Märchen sammelnd von Dorf zu Dorf gewandert. Ihre bekanntesten Stoffe und beliebtesten Motive stammen nicht, wie behauptet, aus dem einfachen Volk, sondern aus dem frankophilen Bürgertum ihrer Heimatstadt Kassel oder von den Adelsfamilien Haxthausen und Droste-Hülshoff. Die Grimms mussten daher die verlorene Tradition, die sie bewahren wollten, zuerst selbst erschaffen. Hierbei zeigt sich bei den Brüdern Grimm die dem Romantiker auszeichnende, wundersam herablassende Einstellung zur reinen Volksüberlieferung: Was ihnen fragmentarisch und unvollkommen vorkam, wurde ausgetauscht oder aus Fragmenten verschiedener Herkunft zu einer neuen Ganzheit zusammengeschrieben. Bei der enormen Vielfältigkeit des Quellenmaterials hätte man charakteristische stilistische und erzähltechnische Unterschiede zwischen den einzelnen Grimmschen Märchen erwarten müssen. Dass dies nicht der Fall ist, zeugt zum einen davon, dass die Grimms bei der Redaktion von Kinder- und Hausmärchen anders vorgingen, als sie offiziell zugaben, und zum anderen von Wilhelm Grimms durchdachten und aufwendigen Bearbeitungen jedes einzelnen Märchentextes. Durch ihren Einsatz ist eine unschätzbare Erzähltradition rechtzeitig schriftlich festgehalten worden. Doch sowohl der Qualitätsanspruch der Brüder Grimm als auch ihre literarischen Ambitionen bewirkten, dass das Unmittelbare der mündlichen Erzählungen, wie sie in ihrer Märchensammlung präsentiert wurden, für immer verlorenging.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2.2., Die Brüder Grimm und ihre Quellen: 2.2.1. Junge Frauen aus Kassel: Wenn man sich den Idealen der Brüder Grimm bewusst ist, kann es kaum verwundern, dass sich unter den Erzählern und Erzählerinnen, die zum ersten Grimmschen Märchenband beigetragen haben, erstaunlich wenig Menschen aus einfachen Verhältnissen zu finden sind. Ausgerechnet ihre bekanntesten und beliebtesten Märchen sollten die Grimms nicht in der Volksdichtung finden, sondern von einem kleinen Kreis blutjunger Frauen aus dem gehobenen Kasseler Bürgertum mitgeteilt bekommen. Märchen wie Brüderchen und Schwesterchen, Rotkäppchen, Aschenputtel, Schneewittchen und Dornröschen stammen in der Form, wie sie erstmals in Kinder- und Hausmärchen übernommen wurden, von der Apothekerstocher Dorothea Wild, die später Wilhelm Grimm heiraten sollte, und den Geschwistern Jeanette und Marie Hassenpflug. Aus dem Anmerkungsband der Brüder Grimm geht darüber nichts hervor. Dort erfährt man z.B., dass die Grimmsche Version von Rotkäppchen ‘aus den Maingegenden’ stammt, während Aschenputtel, Schneewittchen und Dornröschen hingegen in Hessen aufgenommen worden seien. Die Grimms hatten gute Gründe, die Identität ihrer jungen Beiträgerinnen gekonnt zu verschleiern schließlich entsprachen diese Mädchen ganz und gar nicht dem Grimmschen Ideal von der Volksdichtung. Lediglich dem eigenen Handexemplar vertraute Wilhelm Grimm an, dass Dornröschen von Marie Hassenpflug und Rotkäppchen von ihr und ihrer Schwester Jeanette stammten. Bei den Beiträgerinnen der ersten Stunde handelte es sich um junge gutsituierte Bürgerstöchter im Alter zwischen 15 und 20 Jahren. Allesamt waren sie literarisch gebildet, eloquent, mit französischer Literatur vertraut und international orientiert. Dorothea Wilds Familie stammte aus der Schweiz die Hassenpflug-Schwestern hingegen entstammten einer alten hugenottischen Familie. In ihrem kulturell und literarisch stark französisch geprägten Elternhaus wurde die Unterhaltung bis 1809 in französischer Sprache geführt. Der massive französische Einfluss erklärt nicht nur den Umstand, weshalb die Märchen, die die Brüder Grimm von den Hassenpflugs erzählt bekamen, von einem völlig anderen Charakter sind als die zum Teil plattdeutschen Erzählungen der Familie Haxthausen, sondern auch weshalb man in eben diesen Märchen den deutlichsten französischen Unterton in der ganzen Grimmschen Sammlung feststellen kann Grimms Rotkäppchen ist z.B. kein braves, biederes deutsches Mädchen vom Schlage Schneeweißchen oder Rosenrot. In der ersten Grimm-Version von Dornröschen ist der französische Hintergrund kaum zu ignorieren: Beinahe die Hälfte des Märchens wurde von Marie Hassenpflug fast wörtlich aus Charles Perraults Version übernommen. Dieser Umstand wurde von Märchenforschern zwar bemerkt, aber aus unbekannten Gründen hat man sich jahrzehntelang ‘nichts dabei denken wollen und gesagt, das ist seltsam und kaum zu erklären.’ Den Brüdern Grimm schien die Sachlage jedoch peinlich bewusst gewesen zu sein: ‘Es ist nochmals geprüft, was verdächtig schien,’ bemerkte Wilhelm Grimm in der Vorrede zur zweiten Ausgabe von Kinder- und Hausmärchen, ‘das heißt was etwa hätte fremden Ursprungs oder durch Zusätze verfälscht sein können, und dann alles ausgeschieden.’ Es sieht tatsächlich nach Schadensbegrenzung aus, als er die bekannten Märchen Blaubart und Der gestiefelte Kater aus der zweiten Ausgabe wegließ. Diese beiden Erzählungen stammten ebenfalls aus dem Hause Hassenpflug und kamen den Grimms am Ende wohl doch zu Französisch vor. Wären die Grimms jedoch konsequent gewesen, hätten sie nicht nur Blaubart und Der gestiefelte Kater, sondern nach der Erstauflage ebenfalls Rotkäppchen und Dornröschen aus ihrer Sammlung nehmen müssen. Beide Erzählungen besitzen - auch nach der Grimmschen Umschreibung und Eindeutschung - mit ihren gewagten sexuellen Anspielungen eine unverkennbare französische Prägung und unterscheiden sich zu sehr von dem einheitlichen Ton der restlichen Sammlung, um als glaubhafte Beispiele der deutschen Volksdichtung zu gelten. Sie als Märchen aus Hessen und den Maingegenden anzugeben und in den Anmerkungen nur auf die Perraultschen Titel hinzuweisen, als wären die französischen Vorbilder lediglich interessante, ausländische Parallelfassungen, grenzt an doppelte Fälschung.

Über den Autor

Henrik Petersen, 1970 in Nordschleswig, Dänemark, geboren, studierte Germanistik und Anglistik an der University of Southern Denmark in Odense, wo er mit einer Arbeit über die Brüder Grimm promovierte. Die Schwerpunkte seiner Forschung gelten vor allem der deutschen Literatur im Zeitraum 1795-1910, verschiedenen mythologischen und psychologischen Themen, deutschen und dänischen Volksmärchen sowie dem deutschen und skandinavischen Früh- und Hochmittelalter. In dem vorliegenden Buch zieht der Autor eine vorläufige Bilanz seiner Studien über die Arbeitsmethoden der Brüder Grimm bei der Ausarbeitung von Kinder- und Hausmärchen und ihre Rolle als Begründer des Mythos‘ über das deutsche Volksmärchen.

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