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Kunst & Kultur

Larsen Sechert

Das Theater des Daniil Charms als Strukturtyp des 'anderen' Theaters

ISBN: 978-3-8366-9244-1

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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 07.2010
AuflagenNr.: 1
Seiten: 102
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Charms und die Oberiuten strebten nach einer Sprache (ohne Worte), die jenseits von Verstand und Rationalität lag und die Wirklichkeit als Ganzes zu verstehen vermochte. Nicht nur auf der Bühne und in seinen Texten parodierte Charms banale Alltäglichkeiten, pseudophilosophischen Tiefsinn, leere Rhetorik, Didaktik und Streitigkeiten um nichts auch in seinem alltäglichen Verhalten, oder wie es Debüser nennt: In seinem >Einmanntheater< lebte er wider der Alltagslogik, und er schuf eine Welt, die die Idiotie des Lebens >aufbricht<. Vom sozialen Rollenspieler und Spaßmacher Charms zeugen zahlreiche Anekdoten. So stieg Charms einmal in der Redaktion des Kinderbuchverlages, die sich im sechsten Stock des heutigen ´Haus des Buches´ befand, mit vollkommen ernstem Gesicht und ohne ein Wort zu sagen, aus dem Fenster (...), spazierte über den Sims und kam zum anderen Fenster wieder herein. Schaut man auf Charms´ Stücke, die vielfach auch als Grotesken bezeichnet werden, dann zeigen sich die archaischen Formen in seinem Theaterwerk sehr deutlich. Diese Formen gehen auf eine jahrhundertelange Tradition zurück, die sich dem Strukturtyp des anderen Theaters zuordnen lassen. Die Vertreter dieses Theaters setzten sich dem Kunst-Theater und dem Alltagstheater entgegen, indem sie durch ihre Verfahren die Mechanismen des Kunst- und Alltagstheaters bloßlegten. In der folgenden Arbeit wird untersucht, inwieweit sich das Theater des Daniil Charms zum Strukturtyp des anderen Theaters zuordnen lässt. Charms Kunstschaffen erstreckte sich aber auch noch in unzähligen anderen Lebens- und Kunstbereichen. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit war Charms auch Theatermann, Kleindarsteller, Possenreißer, Philosoph , Komiker und Spielmann. So jedenfalls betitelten ihn unterschiedliche Autoren und Wissenschaftler und bezogen sich dabei stets auf sein Theaterwerk, das sich anhand seiner geschriebenen Theatertexte und der wenigen Aufführungen, die sie zu seinen Lebzeiten erlebten, anhand seiner Theaterkonzeption und kunsttheoretischen Überlegungen und anhand seines öffentlichen Auftretens, sowohl als Kleindarsteller als auch als Alltagsspieler, konstituierte. Das Theater des Daniil Charms ist Gegenstand dieser Arbeit.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2, ‚Die Komödie der Stadt Petersburg’: Auch in Charms´ Die Komödie der Stadt Petersburg ist die Sprache wie im westlichen Theater des Absurden abgewertet, wenn auch nicht so konsequent wie in Elizaveta Bam. Ebenso wird auch in dieser Komödie Bodenlosigkeit der Weltsicht deutlich. So wird zur Ermordung der Figur Krügers Folgendes kommentiert: ‘Er liegt da und seufzt nicht / er schnaubt auch und ist fröhlich. / Am Himmel erlischt eine Lampe / die Leningrad erleuchtet.’ Kennzeichnend für absurdes Theater kommt es hier trotz Tod, Mord, Grausamkeit und Zerstörung zu keiner Tragik oder Seelenerschütterung. Der Tod als tragisches Moment verliert seine Bedeutung. Charms schreibt dieses Stück, als die ehemalige Metropole des russischen Zaren längst zu Leningrad umbenannt worden ist. In seinem Stück rückt er den vergangenen Mythos als das ‘bleiche Petersburg’, und die ‘bodenlose Stadt’ in den Blick und macht den politischen Untergang des ehemaligen Petersburg zur Metapher für die Situation der russischen Dichtung. Müller-Scholle deutet Die Komödie der Stadt Petersburg als eine Parodie auf die vergangenen Zeiten, die sich als eine ‘entmythologisierte Welt’ offenbaren. In diesem Zusammenhang bezeichnet sie Charms` Drama als eine ‘postapokalyptische Clownerie’. Die Figuren im Stück lassen sich als keine identifizierbaren Charaktere analysieren. In Die Komödie der Stadt Petersburg hat jegliche gespenstische Erscheinung und Phantasie ihren Platz. Ebenso durchdringen sich Leben und Tod übergangslos. So ist der Zar Peter im eigentlichen ein ‘fühlloses Denkmal’ oder es liegt Zar Nikolaus II. mit ‘eingefallenen Wangen’ in seiner Ruhestätte, oder so ist Famusov eine lebendig gewordene Figur aus dem Werk Verstand schafft Leben von Gribojedows. Müller-Scholle bezeichnet die dramatis personae als gesichtslose, irreale Wesen, deren Handlungen keiner Logik unterliegen und deshalb auch nicht nacherzählt werden können. Sie bleiben sowohl sich selbst als auch der Welt der Bühnenillusion fremd, was ihre stereotypen Namensnennungen und Selbstdefinitionen zeigen. Auf rätselhafte Weise verschmelzen die Figuren (im Stück Revolutionäre) Schtschepkin, Obernibesow und Kirill Dawyditsch ineinander und offenbaren sich als verschiedene Aspekte ein und derselben Person. Ebenso verschmelzen die Zaren Nikolaus II., Alexander I. und Peter auf surrealistische Weise zu einer Person. So fällt der Krieg gegen Napoleon in die Regierungszeit von Alexander I., obwohl geschichtlich damals Zar Nikolaus II. Krieg gegen Napoleon führte. Wie schon in Elizaveta Bam werden hier alle Bühnenelemente zu Akteuren, ob Tote, Gespenster, ehemalige Zaren oder Gegenstände wie bewegliche Tische. Aber im Gegensatz zu Charms´ späteren Stück sind hier die Figuren nicht Produkt von Willkür, sondern Teufelswerk. So sagt der ‘Oberteufel’ Obernibesow von den dramatischen Figuren: ‘Was sind das für Menschen? Ich habe sie übereilt geschaffen’. Das Stück spielt an Orten wie Petersburg und Piter sowie Leningrad und ‘Leterburg’, im Parlament und im Himmel. Letztlich, so deutet Müller-Scholle, spielt es im Niemandsland, bzw. ‘im Kopf’. Wie Elizaveta Bam kann man es auch als Monodrama deuten, bei dem es wieder um die Darstellung eines Verfolgungswahns geht, wo ‘überall Bösewichter’ vermutet werden. Schauplatz wäre hier das Bewusstsein des Zaren Nikolaus II. Charms stellt in Die Komödie der Stadt Petersburg ein von seinen Wurzeln losgelöstes Russland dar, das sich selbst auf Rudimente seiner Sprache, Geschichte und seines Geistes reduziert. Charms konstruiert hier ein Wahnbild, bei dem selbst der Erlösungsgedanke persifliert wird, in dem alles Teuflische am ‘dritten Tag’ wieder aufersteht. Charms benutzt in seiner Komödie surrealistische Verfahrensweisen. Gesetze von Raum und Zeit sind aufgehoben. Der Zeitfaktor spielt bei Fortbewegungen wie Fliegen auf Flügeln oder im Flugzeug keine Rolle. Die Zeit wird zum Teil bis zur Endlosigkeit ausgedehnt. Städte wie Petersburg, Kasan oder Moskau erscheinen nur als abstrakte Orte. Zum Teil schweben Dinge und Menschen mitten im Raum. Sinneseindrücke überlagern sich und machen eine eindeutige Interpretation unmöglich. Die collageartig zusammengefügten Bildern erzeugen, so Müller-Scholle, eine Art Traumhaftigkeit, welche den Gesetzen der Alogik folgt. Hier zeigen sich Parallelen zur Dichtungstheorie der Surrealisten, die in ihrem Manifest von 1924 eine Wahrheitsfindung jenseits der Verstandesgrenzen wie Wahn und Traum propagierten. Doch läuft letztlich alles Phantastische auf Reales hinaus. So zeugen die rhetorischen Fragen der Figur Vertunow von Missmut gegenüber den Opfern der Revolution: ‘Na Famusov? / Die Sache ist geplatzt, wie? / Er hat das Geißlein spielen wollen / hat jede Menge Kreide gefressen / aber die Nägel zu schneiden vergessen.’ Auch wirken die Worte von Fürst Meschtscherskij konfus und zornig angesichts außer Kontrolle geratener Macht. ‘Das ist nicht die Heimat / sondern eine Kiste unter Hütern hervor. / Auf der Straße tanzen Mandarine / ins Fenster fliegt ein Bart / ich sehe den Wald, quadratförmige Täler.’ Ebenso erinnert Charms Dramentext durch seinen Verzicht auf Logik und seiner Abwendung von der Kontrolle durch den Verstand bei gleichzeitiger Hinwendung an die Kräfte des Unbewussten an die vom Franzosen André Breton formulierten Programmpunkte der Surrealisten. Die Komödie der Stadt Petersburg ist in drei Akte gegliedert. Den ersten Akt beginnt Charms gleich mit dem zweiten Teil, und dem dritten Teil des dritten Aktes fügt er willkürlich ein Zwischenspiel ein. Im zweiten Akt teilt sich die Handlung (insofern man davon sprechen kann, da sich im gesamten Stück keine Handlungsentwicklung nachvollziehen lässt) in zwei Ebenen. Charms lässt die erste Ebene der zweiten folgen, was nicht zuletzt als eine Parodie auf die übliche Dramentechnik zu verstehen ist. Für Müller-Scholle ist Charms´ Drama ein ‘Theater des Todes’ und zugleich eine Metapher der Revolution. In diesem Zusammenhang erhält Die Komödie der Stadt Petersburg eine sinnstiftende Komponente. Am revolutionären Umsturz und deren Folgen entzündet sich, so Müller-Scholle, die Phantasie des Textes. Alles Zufällige wird in Ritualen des Todes aufgehoben. Versteht man den Symbolgehalt einiger Textpartien in diesem Kontext, so lassen sich scheinbar banale Sätze und Aussagen als sarkastisch deuten, was wiederum die Tragik des Geschehens auf einer scheinbar erleichternden Distanz hält. Wind und Zugluft als leitmotivische Bestandteile der Dialoge symbolisieren Mord und Gewalt: ‘Hier herrscht ein unmöglicher Durchzug. Der Zar wird sich erkälten . Zar ist dir kalt? . Nikolaus II. spuckt Blut’. Dann lässt ein Windstoß die Zarin ‘Purzelbäume schlagen wie eine Puppe’, während der Zar ‘an die Decke’ geworfen wird. Diese Metaphorik hilft, Passagen des Zaren wie: ‘Sieh die trauernden Harnische / hängen wie kupferne Winde’, als Todesahnung zu verstehen. Auch die Passage, in denen die Ungeheuer im Chor singen: ‘Wir sind die Lieblinge des Durchzugs’, lässt sich im Kontext des Symbolgehaltes von Wind und Zugluft als Metapher des Todes deuten. Mit dem Kunstgriff der tragischen Ironie deutet Charms zu Beginn des ersten Aktes im ersten Auftritt des Zaren Nikolaus II. das tragische Schicksal der Stadt Petersburg an: ‘Die Zarin / wird mir einen Sohn gebären so stark wie eine Buche.’ In Charms´ Stück ist Holz in jeglicher Erscheinungsform Sinnbild von Abgestorbenem. So ist Krüger ‘wie ein Holzscheit gestorben’, so liegt der Zar ‘gleich einem Klotz’ im Bett, und Maria wird von Obernibesow dadurch getötet, dass er ihr im Traum, wo Maria Obernibesow als Schiff erscheint, einen ‘grauen Mast’ von den Schultern schlägt. Die Figur Maria verkörpert laut Müller-Scholle das alte Russland. Sie unterliegt den obszönen Verlockungen des ‘Oberteufels’ Obernibesows, der sich als Gott ausgibt: ‘Gott das bin ich.’, sich dann jedoch als der ‘Gott mit Beil’ herausstellt, der ‘ein Messerchen’ in den Leib seiner Geliebten stößt. Das ‘Messerchen’ taucht, für Müller-Scholle leitmotivartig, wieder in der Entführung Marias durch die Piraten (von Müller-Scholle ‘als Doppelgänger des Teufels und des Fliegenden Holländers gedeutet) auf. ‘Es kann durchaus als aggressives Sexualsymbol verstanden werden’. Am Schluss folgt Maria Obernibesow, der inzwischen ihr ‘Bräutigam’ geworden ist. Und während sie dem Teufel folgt, singt der kleine Chor das Requiem: ‘Es erlischt die Sonne wie eine Kerze im Wind’.

Über den Autor

Larsen Sechert, Geboren 1976 in Halle, Studium M.A.Theaterwissenschaft, AVLiteraturwissenschaft, Soziologie in Leipzig. Ausbildung zum Schauspieler für Clown & Comedy in Konstanz. Von 2005 bis 2010 künstlerischer Leiter im Theatrium Leipzig. Zahlreiche Auftritte im In- und Ausland als Theaterclown Gerno Knall. Zahlreiche Inszenierungen und Workshopleitungen. Initiator der Straßentheatertage in Leipzig. Gründer des Knalltheaters. (www.knalltheater.de).

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