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  • Die „Beschleunigte Gesellschaft“: Wie wir als Schöpfer der Zeit zu ihrem Opfer werden

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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 07.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 148
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

In diesem Buch schlägt Peter Wöckel eine Brücke über alle zeitrelevanten Wissenschaften und gibt einen Überblick über die umfangreiche Theoriegeschichte und überbordende Literatur zur ‘Zeit’. Dabei ist er dem Mensch als Zeitwesen anthropologisch auf der Spur. Er zeichnet dazu ein interdisziplinär vielschichtiges Bild. Von der Erschaffung der objektiven Zeit in der Physik über das Denken der Zeit in der Philosophie und die psychologische Zeitwahrnehmung lenkt er den Blick schließlich kulturvergleichend auf eine soziologische Darstellung der Wechselwirkung zwischen dem gesellschaftlichen Umgang mit der Zeit und seinen Auswirkungen auf das individuelle und kollektive Bewusstsein. Kritisch werden die Folgen der Zeitnutzung und ihre Instrumentalisierung u.a. in den Bereichen Bildung und Erziehung, Ökonomie und Politik sowie persönlicher und kollektiver Identität aufgezeigt. Es wird deutlich, warum der vielfach prophezeite Ausweg ‚sozialer Beschleunigung‘ mit ‘Zeitmanagement’ zu begegnen, uns immer weiter in die Zeitnot treibt. Peter Wöckel plädiert für Zeitökologie statt -ökonomie, für Zeitbewältigung statt - management und damit für bewusste gesellschaftliche Entschleunigung.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 5, Psychologie der Zeit: Dieses Kapitel soll helfen universell-menschliche bzw. ‚primäre’ Zeiterfahrung und kulturelle-semantische Varianten von einander zu trennen, um somit die kulturelle und interkulturelle Relevanz der Zeitwahrnehmung herauszustellen. Im gleichen Zug soll es verdeutlichen, dass sich der cartesische Dualismus von Geist und Materie, der die Wissenschaften in ‚harte’ Naturwissenschaften und ‚weiche’ Geisteswissenschaften trennt, kaum mehr aufrechterhalten lässt (Götze 2004: 151ff.). Das Feld der Psychologie der Zeit ist wie das der naturwissenschaftlichen und hermeneutischen Zeitforschung sehr breit gefächert, weshalb auch hier nur ein grober Abriss mit Fokus auf das Zeiterleben bzw. die Zeitwahrnehmung gegeben werden kann. Es gilt in den Blick zu nehmen: ‚Wie nimmt der Mensch die Zeit wahr?’ 5.1, Pionierzeit der Zeitpsychologie: Die Geschichte der Psychologie der Zeit beginnt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit William James und Henry Bergson werden erste diesbezügliche Übergänge von der Philosophie zur Psychologie hergestellt (Richelle 1996: 5). Um die Jahrhundertwende beginnen sie die subjektive Wahrnehmung und den Umgang des Menschen mit der Zeit innerhalb der Lebenswelt zu thematisieren (ebd.). Erste zeitpsychologische Experimente werden von Pawlow (1849-1936) und Piaget (1896-1980) durchgeführt und es entstehen grundlegende systematische Abhandlungen über die Psychologie der Zeit (ebd.). So erarbeitet Vittorio Benussi 1913 in seiner ‘Psychologie der Zeitauffassung’ grundlegend notwendige ‘Beziehungen zwischen subjektiver und objektiver Zeit’ (Benussi 1913: 9-55) mit dem Ziel, dem Zeitvergleichen und der Zeiterwartung auf den Grund zu gehen. Paul Fraisse (1911-1996) war es schließlich, der in seiner ‘Psychologie du temps’ von 1957 detailliert für alle weiteren Arbeiten zu diesem Thema relevante Aspekte, die bis heute nicht an Aktualität verloren haben, systematisierte. So unterteilt er zum Beispiel bereits in die ‘Konditionierung der Zeit’ sowie deren Wahrnehmung (Fraisse 1985: 9-150) und benennt dabei Probleme, wie die psychologische Dauer, die Gleichzeitigkeit und die Zusammenhänge zu physischen Veränderungen. Bereits in den 1960er Jahren versucht Fraisse zu ergründen wie die ‘Kontrolle über die Zeit’ (ebd.: 151-200) und die ‘Schätzung der Zeit’ (ebd.: 201-252) möglich sind. 5.2, Psychologie der Zeit heute: Die Chronobiologie, die Psychophysik der Zeit und die Kognitive Psychologie sind drei Faktoren, die die Entwicklung der Psychologie der Zeit entscheidend geprägt haben (Richelle 1996: 5). Daher soll mit ihrer Hilfe weiter systematisiert werden. Die Psychophysik der Zeit und die psychologische Chronobiologie bilden in dieser Untersuchung separate Exkurse. Aus ihnen lässt sich zusammenfassen: Die Chronobiologie geht begründet davon aus, dass es innerhalb aller Organismen interne Taktgeber gibt, versucht diese u.a. zu entschlüsseln und zu verstehen, was diese wiederum antreibt, ob sie also endogen oder exogen beeinflusst werden. Die Psychophysik der Zeit bemüht sich darum, Erkenntnisse der Philosophie und der Psychologie physikalisch nachzuvollziehen, indem sie u.a. nach Zusammenhängen von Raum, Zeit und Geist sucht. Hier werden das Zeitbewusstsein, die Zeitwahrnehmung und die Zeitperspektiven aus kognitionspsychologischer Sicht näher interessieren. Denn die individuelle Entwicklung des Menschen geht einher mit der Erfahrung der Kontinuität (Zeitperspektive) und kontinuierlichen Veränderung des Selbst in der Zeit, sowie der Einzigartigkeit der eigenen Person in Abgrenzung zu anderen (Nelson 2001: 15-24 Welch-Ross 2001: 97-120). Diese Entwicklung ermöglicht nicht nur die zeitliche Ordnung von Ereignissen, sondern auch die Erfahrung, dass andere Menschen andere zeitliche Erfahrungen machen (Nelson 2001: 25ff. Fivush 2001: 35-52). Letztlich erlaubt diese nicht nur die Vorstellung der Einheit des vergangenen, gegenwärtigen (Povinelli 2001: 75-96 Lemmon/Moore 2001: 163-180) und zukünftigen Selbst (Atance/O'Neill 2001: 121-140 Barresi 2001: 141-162), sondern auch die des reflektiven Selbst (Zelazo/Sommerville 2001: 229-252) in der kulturell-historischen Zeit (Nelson 2001: 28f.). 5.2.1, Zeitbewusstsein und Zeitwahrnehmung: Piaget stellte die Vorstellung der physikalische Zeit im kindlichen Entwicklungsprozess als ‘Bewegung der Gegenstände’, die ‘unabhängig von der eigenen Handlung’ stattfindet, der psychologischen Zeit ‘erlebter Geschehnisse’ des bewegten Subjekts gegenüber (zit. nach Götze 2004: 155-156 Brumlik 1998: 226-233). Beide Zeitverständnisse entstehen ‘durch zuerst egozentrisches Ausprobieren unterschiedlicher Geschwindigkeiten von Gegenständen oder Bewegungen eines Subjekts, sodann durch Operationalisierung dieser Kenntnisse’ (ebd.). Das Verständnis der Uhrzeit ist demnach nicht angeboren: ‘Die Uhrzeit muss erlernt werden, und zwar ab jenem Zeitpunkt, von dem an die entwicklungspsychologischen Bedingungen dafür gegeben sind’ (Geißler 2004a: 60). Entwicklungspsychologen haben das Zeitverständnis und dessen Aneignung bei Kindern näher untersucht. Z.B. konnte Lewkowicz experimentell belegen, dass Kinder, ausgehend von ihren intrinsischen biologischen Rhythmen mittels sozialer Interaktion Zeitlichkeit zu nutzen lernen (Lewkowicz 1989: 9-62). Wie sich Zeitvorstellungen bei Kindern durch verschiedene Sprache unterschiedlich entwickelt, wurde von Weist (Weist 1989: 63-118) und Friederici (Götze 2004: 162-163) untersucht. Levin und Wilkening erforschten, wie Kinder Zeit und Dauer durch Zählen quantifizieren (Levin/Wilkening 1989: 119-144) und Levin fand heraus, dass entwicklungspsychologisch zuerst ‚zeitliche Konstanz’ und erst später ‚zeitliche Willkürlichkeit’ erfahrbar wird (Levin 1989: 145-184). Die verschiedenen Repräsentationen zeitlicher Strukturen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (Friedmann 1989, 259-304), die Wertung der Dauer von zeitlichen Intervallen (Poynter 1989: 305-332), die zeitliche Erfahrung und Erinnerung (Block 1989: 333-364), sowie die Verteilung der Aufmerksamkeit bei Kindern (Zakay 1989: 365-398) und die Frage, welche psychologischen Entwicklungsschritte uns daran hindern, uns an die früheste Kindheit zu erinnern (Perner 2001: 181-202) sind weitere zeitlich relevante, entwicklungspsychologische Forschungsfelder, die hier nur bemerkt werden können. Eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung des Zeitbewusstseins ist die ‘Pluralität von Vorstellungen eines vorstellenden Wesens […] in der zeitlichen Ordnung’, denn Vorstellungen sind ‘faktisch in einer früher/später-Relation […] zeitlich geordnet’ (Mohr 1992: 194 Herv.i.O.). Aber ‘[e]ine Sequenz von Vorstellungen ist [jedoch] noch keine Vorstellung einer Sequenz’ (ebd.: 195). Hier kommt ein Problem erneut zum tragen, das auch in der philosophischen Betrachtung Sorge bereitet: ‘Wir können kein Bewußtsein von Zeit aufgrund einer unmittelbaren [sinnlichen] Anschauung von Zeit haben’ (ebd.). Die Bedingung für Zeitbewusstsein ist Selbstbewusstsein, in dem Sinne, dass dem erfahrenden Subjekt klar sein muss, nicht nur eine, sondern in der Zeit wechselnde, zustandsverändernde Vorstellungen (ebd.: 196) zu haben: ‘Das Gegebensein einer zeitlich sukzedierenden Pluralität von Vorstellungen ist notwendiges Implikat des Identitätsinns von Selbstbewußtsein’ (ebd.: 197). Es stellen sich zwei Anschlussfragen: 1) Wie wird uns ein Bewusstsein von Zeit möglich? 2) Wie wird aus der Wahrnehmung der Zeit die eigene Person in der Zeit konstruiert? Die Psychologie von der Wahrnehmung der Zeit stellt, basierend auf der Annahme, dass Gehirnaktivitäten in der Zeit eingebettet und neuronale Codes in gefüllte Spitzen und leere Intervalle unterteilt sind, (Posner 1986, 7) autorenübergreifend Gegensätze von zeitlicher ‚Sukzession’, ‚Gegenwart’ und ‚Dauer’ heraus. Unter dem Begriff der ‘Mental Chronometry’, die definiert werden kann als ‘the study of the time course of information processing in the human nervous system’, wird versucht Gesichtspunkte der Phänomenologie, der Psychologie, psychologischer Performanz, subjektiver Erfahrungen und zeitbezogener Urteile systematisch zu vereinigen (ebd.: 8 Herv.i.O.) Der wichtigste zeitforschende deutsche Vertreter auf diesem Gebiet ist der bereits genannte Neuropsychologe Ernst Pöppel. Er geht grundlegend von Unterschieden in der Zeitwahrnehmung von Kultur zu Kultur aus (Götze 2004: 158). Sein Anliegen ist dennoch zu untersuchen, ob es einen universell-menschlichen ‘Zeittakt’ gibt (ebd. Herv.i.O.). Nach Pöppel besteht ein ‘Unterschied der Arbeitsweise des Gehirns’, der sich existenziell von der klassischen Zeitauffassung Newtons distanziert. Der Mensch besitzt kein Sinnesorgan für einen ‘unmittelbaren Zugang zu Zeit’ (ebd.). Somit ist Zeit nicht durch ‘bloße Anschauung’ erfahrbar, ‘sondern lediglich auf der Grundlage gemachter Erfahrungen und Wahrnehmungen’ (ebd.). Wenngleich es ein physikalisches Problem zu beachten gilt, dass nämlich akustische und visuelle Reize neuronal unterschiedlich schnell verarbeitet werden, schafft sich das menschliche Gehirn entgegen der Newtonschen Kontinuität ‘Perioden oder Systemzustände von etwa dreißig Millisekunden, innerhalb derer ankommende Informationen als zu diesem Zustand gehörig betrachtet werden’ (ebd.: 159). Die psychologische Ebene wird von ihm als die ‚primäre Ebene der Zeitwahrnehmung’ angenommen. Denn ‘Zeiterlebnis wie Aufeinanderfolge, Gegenwart und Dauer sind der Ausgangspunkt einer auf Erfahrung fußenden Reflexion jedes Menschen über die Zeit’ (ebd.: 160f.). Zeitliche Sukzession, also ‘[d]ie Fähigkeit zur Wahrnehmung von Zeitunterschieden richtet das Zeiterleben in erster Linie auf den Zeitfluß, der in die Vergangenheit strömt und das Erlebnis des Jetzt reduziert bis zum vollständigen Verschwinden’ (Hildebrandt 1993: 166). Ein wesentlicher Unterschied der menschlich erlebten Gegenwart zur physikalisch-mathematischen Zeit ist die zeitliche Dauer des Augenblicks im Gegensatz zum mathematischen, ‘ausdehnungslosen Jetztpunkt’ (Morgenroth 2007: 40). Zur experimenteller Erforschung der zeitlichen Abfolge von Ereignissen eröffnet sich die Frage: Ab wann werden zwei Ereignisse nicht mehr als gleichzeitig, sondern als aufeinander folgend wahrgenommen (ebd.)? ‘Die kritische Schwelle, welche die Präzision erlebbarer Zeit begrenzt, wurde in der Psychophysik auch als psychologischer Moment bezeichnet’ (ebd. Herv.i.O.). Die zeitliche Sukzession ergibt sich also aus der Überschreitung des als Gegenwart erlebten Augenblickes. Die Anschlussfrage muss lauten: Wie nimmt der Mensch zeitliche Dauer wahr?

Über den Autor

Peter Wöckel, M.A., wurde 1983 in Gera geboren. Seine Studienzeit beendete er 2011 als Magister Artium der Interkulturellen Kommunikation und der Philosophie. Die ständige Konfrontation mit starren Zeitplänen und Zeitmangel weckte in ihm das Interesse, dem Phänomen der Beschleunigten Gesellschaft auf den Grund zu gehen. Heute setzt er seine Zeit als Lehrer, Trainer, Projekt- und Prozessbegleiter ein.

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