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  • Erinnernde Literatur - Die Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der deutschen Nachkriegsliteratur

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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 06.2012
AuflagenNr.: 1
Seiten: 124
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Fast siebzig Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches stehen die Jahre der totalitären Diktatur noch immer im Zentrum des zeithistorischen Interesses. Die in den 1990ern ausgetragene Debatte um die Errichtung des Holocaust-Mahnmals in Berlin sowie die mediale Präsenz der Thematik zeugen von einem regelrechten Gedächtnis-Boom an der Schwelle des 21. Jahrhunderts. Das allmähliche Wegfallen der Zeitzeugen-Generation kann als einer der Hauptfaktoren für die Brisanz des gegenwärtigen Erinnerungsdiskurses betrachtet werden. Wir befinden uns unmittelbar vor einem Generationswechsel, der uns vor eine Reihe von Herausforderungen stellt: Die wichtigste aber auch heikelste Herausforderung besteht darin, trotz des fehlenden direkten Bezuges, die erfolgreiche Übermittlung der Erfahrungen der nationalsozialistischen Vergangenheit an die zukünftigen Generationen zu garantieren. Die Walser-Bubis-Debatte Ende der 1990er Jahre hat gezeigt, dass es im Erinnerungsdiskurs des ausgehenden 20. Jahrhunderts, neben der Frage nach der Zukunft des Erinnerungsdiskurses, vor allem um die Diskussion über eine verantwortungsbewusste Erinnerungsform gegenüber den verschiedenen Opfergruppen geht. In dieser Untersuchung soll nun folgenden Fragestellungen nachgegangen werden: In welchem Maß wurde die Literatur der verschiedenen Nachkriegsgenerationen dieser Forderung gerecht? Welchen Entwicklungsprozess hat der Erinnerungsdiskurs über die Generationen hinweg durchgemacht? Welche Rolle kann oder muss die Literatur in dieser Problematik übernehmen? Und welchen Beitrag kann sie für eine adäquate Erinnerungsübermittlung an die kommenden Generationen leisten?

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2, Die Generation der Zeitzeugen: In den fast siebzig Jahren nach der Befreiung Deutschlands gab es immer wieder öffentliche Kontroversen über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Bundesrepublik. Der Begriff der Vergangenheitsbewältigung gewann im Laufe der Jahre zunehmend an Bedeutung. Der Begriff an sich lässt den gemeinsamen Kernpunkt der Debatten erahnen. Es geht überwiegend um die Diskussion über den Umgang mit der Erinnerung an die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes, häufig darum, inwiefern diese der Konstruktion einer nationalen Identität der Deutschen hinderlich sei oder ob die ständige Thematisierung der Vergangenheit in der Verantwortung der Deutschen liege. Die Meinungen divergieren innerhalb der Generationen, wobei eine Tendenz in eine bestimmte Richtung in jeder Altersstufe zu überwiegen scheint. Vorausgehend wird eine intragenerationelle Einteilung in die Weimarer Generation und in die Flakhelfer-Generation dargelegt, um ein repräsentatives Bild des Umgangs mit der Thematik aus Sicht der Generation der Zeitzeugen zu erstellen. Als Weimarer Generation werden die Jahrgänge 1900–1912 bezeichnet, die durch die vielschichtigen Krisen in der Weimarer Republik entsprechend geprägt wurden. Ein Großteil dieser Generation engagierte sich in Jugendorganisationen und setzte sich für die Beseitigung der sozialen Missstände ein. Viele von ihnen wurden Anhänger der Nationalsozialistischen Partei und besetzten hohe Ämter innerhalb des Regimes. Die Flakhelfer-Generation hingegen, die für die vorliegende Untersuchung am bedeutungsvollsten ist, besteht aus den Jahrgängen 1926 bis 1930 und umfasst die Jugendlichen, die ab 1943 ‘als Luftwaffenhelfer zur Luftverteidigung des Deutschen Reiches eingesetzt wurden.’ In Hinblick auf die Frage nach dem Grad der Verantwortung an den Verbrechen ist eine Differenzierung dieser intragenerationellen Unterteilung wichtig, da sich die Vertreter der Weimarer Generation bei der Machtübernahme bereits im Erwachsenenalter befanden, sich also durchaus bewusst waren, welche Ämter sie ausführten, wohingegen die Flakhelfer, durch die Hitler-Jugend sozialisiert (und dementsprechend manipuliert), bereits als Jugendliche ‘zur Verteidigung des Deutschen Reiches’ eingezogen wurden. Für die Zeitzeugen-Generation markierte der Tag der Befreiung Deutschlands am 8. Mai 1945 einen markanten Bruch, der mit der Umwälzung aller bisher angeeigneten Wertvorstellungen einherging. Die allgemeine Stimmung der Bevölkerung äußerte sich in einer Tabuisierung des Geschehenen. In dieser Abwehrhaltung sieht Mitscherlich eine Schutzreaktion, die es den Deutschen überhaupt möglich machte, nach diversen Traumata, wie der Bombardierung durch die Alliierten oder der Massenvergewaltigungen der Frauen, in die Zukunft zu blicken. In dieser unmittelbaren Nachkriegszeit wurde die Grundlage für die spätere Opferperspektive gelegt, hinter der sich viele Deutsche in den nachfolgenden Jahren versteckten. An dieser Reaktion änderte auch die Maßnahme der alliierten Besatzungstruppen nichts, die nach der Befreiung der Konzentrationslager die Anwohner zwangen, sich die Brutalität der Verbrechen anzusehen, um ein Stellung- und Verantwortungsnahme zu erwirken. Konrad Adenauer gab in der Regierungserklärung vom 20. September 1949 die allgemein herrschende Stimmung wieder, als er forderte: ‘[...] Vergangenes vergangen sein zu lassen [...].’ Auch die jüngsten Jahrgänge der Kriegsbeteiligten, die Generation der Flakhelfer, zu der auch Martin Walser und Günter Grass gehören, war überwiegend darum bemüht, das Erlebte aus der eigenen Wahrnehmung zu verwerfen. Im Gegensatz zu der nachfolgenden Achtundsechziger-Generation konfrontierten sie die Eltern, die dieses Regime gebilligt hatten, weder mit Fragen noch mit Vorwürfen. Stattdessen zog man sich aus Gründen der ‘Entideologisierung und Entpolitisierung’ aus der politischen Öffentlichkeit in den Bereich des Privaten zurück. Aleida Assmann beschreibt fünf psychische Verdrängungsstrategien, die dazu führten, dass die Mehrheit der Deutschen in der Nachkriegszeit eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Schuldanteil ausgeblendete: Aufrechnen, Externalisieren, Ausblenden, Schweigen und Umfälschen boten den Deutschen die Möglichkeit, die Vergangenheit aus dem Gedächtnis zu verbannen, um sich auf diese Weise der Zukunft zuwenden zu können. Diese Vermeidungsreaktion, die unmittelbar nach Kriegsende als natürliche Schutzreaktion die einzige Möglichkeit des Weitermachens dargestellt haben mag, wandelte sich im Laufe der Jahre in eine kollektive Verantwortungslosigkeit gegenüber den sechs Millionen Opfern der NS-Verbrechen und ihren Angehörigen. Als Tendenz beherrschte diese Reaktion das Nachkriegsdeutschland. Erst durch die Forderungen der Achtundsechziger-Generation gelangte die Erinnerung an das Geschehene allmählich in das Bewusstsein der Deutschen. Die Grundlagen für ein Umdenken wurden jedoch bereits Ende der 1950er Jahre gelegt, als Autoren der Flakhelfer-Generation, darunter auch Martin Walser und Günter Grass, anfingen in ihren Werken die Stimme für eine Thematisierung der Verbrechen unter dem NS-Regime zu erheben. In diesem Zusammenhang scheint die Friedenspreisrede, die Martin Walser im Jahre 1998 in der Frankfurter Paulskirche hielt und die im Folgenden näher untersucht wird, in einer ersten Annäherung befremdlich. Wie kann ein Autor, dem aufgrund seines vorherigen literarischen Schaffens ein erheblicher Anteil am Umdenken bezüglich des Umgangs mit der Vergangenheit der eigenen Nation zuerkannt werden kann, einige Jahre später in einer Rede den Rückzug der Erinnerung aus der Öffentlichkeit fordern? Um die Auffassung des ehemaligen Flakhelfers bezüglich der Erinnerung an die Vergangenheit zu verstehen und einzuordnen, wird in den beiden nachfolgenden Kapiteln sowohl die Debatte um die Friedenspreisrede als auch Walsers sehr umstrittener Roman Ein springender Brunnen analysiert. 2.4., Günter Grass: Im Krebsgang: Im Krebsgang als perspektivische Novelle in Bezug auf die Täter-Opfer-Problematik Günter Grass' Novelle Im Krebsgang erschien im Jahr 2002. Erzählt wird die Versenkung des KdF-Schiffes Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 durch ein sowjetisches Unterseeboot. Auf dem Gustloff-Schiff befanden sich Tausende von deutschen Flüchtlingen, die nach Kriegsende ihre Heimat im Osten verlassen mussten und auf dem sinkenden Schiff ihr Leben verloren. Zu den Überlebenden der Katastrophe zählt die Protagonistin Tulla Pokriefke, die ihren Sohn Paul, der spätere Ich-Erzähler, auf dem sinkenden Schiff gebar. Die Thematisierung des Leids der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, ein bis dahin, aus Gründen der politischen Korrektheit, weitestgehend tabuisiertes Thema, ließ die Vermutung aufkommen, der linke Intellektuelle Grass hätte die politische Seite gewechselt. Doch eine nähere Betrachtung der Krebsgang-Novelle zeigt, dass die eigentliche Hauptthematik des Werks sich nicht so sehr auf das historische Ereignis an sich bezieht, sondern vielmehr auf die Fragen zu der kollektiven und individuellen Erinnerung, zu der Problematik, die Vergangenheit narrativ darzustellen, sowie auf die Frage, welche Bedeutung der Vergangenheitsüberlieferung über mehrere Generationen hinweg zukommt. Ähnlich wie die Autobiographie Ruth Klügers besteht Grass' Novelle aus einem komplexen Gefüge aus verschiedenen Erzählebenen und Erzählsträngen. Wie in weiter leben haben sie die Funktion, auf die Problematik der narrativen Darstellung von Vergangenheit hinzuweisen. Die Thematisierung des Leids der deutschen Flüchtlinge nach dem Zerfall des Dritten Reiches fand im Großen und Ganzen positive Kritik. Besonders die Kritiker, die den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik als Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands sahen, lobten Grass für sein ‘seit langem wichtigste[s] Buch’. Andere kritisierten an der Novelle vor allem die Verschiebung von der Opfer- zur Täterperspektive, mit der Grass' eine angebliche Normalisierung der Holocaust-Verbrechen beabsichtigen würde. Im Folgenden wird zu diskutieren sein, ob diese Rezeptionen der Novelle gerecht werden. Geht es dem Autor darum, das deutsche Leiden nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes in das Bewusstsein der Gesellschaft zu rücken? Oder beabsichtigt er nicht eher die Gründe für den zweiten Untergang des Gustloff-Schiffes (nämlich dessen Untergang in der Erinnerung) ausfindig zu machen und damit die geschichtliche Rekonstruktion eines solchen historischen Ereignisses und seiner Bedeutung für die Zukunft zu akzentuieren?

Über den Autor

Anne Molitor, M.A., geboren 1985 in Luxemburg, schloss im Jahr 2011 ihr Studium der Germanistik und der Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. mit dem akademischen Grad der Magistra Artium erfolgreich ab. Im Verlauf des Studiums kristallisierte sich ein verstärktes Interesse am Thema Nachkriegsliteratur heraus. Die Begegnung mit deutschen Kommilitonen/innen führte der Autorin vor Augen, in welchem Maß die deutsche Vergangenheit noch 70 Jahre nach dem Zerfall des deutschen Reiches an der Enkelgeneration haftet und bewog sie dazu, sich intensiver mit den Fragen des zeitgenössischen Erinnerungsdiskurses zu beschäftigen.

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