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  • Ovids Metamorphosen und Tawada Yoko: Rezeption eines lateinischen Werkes bei einer japanischen Autorin

Kunst & Kultur


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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 12.2013
AuflagenNr.: 1
Seiten: 172
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Publius Ovidius Nasos Text aus den Metamorphosen Pyramus und Thisbe ist eine Mischung von verschiedenen Sprachniveaus, mit welchen der Autor spielt, um seine Leser zu unterhalten. Er macht alle möglichen Anspielungen auf Motive aus der elegischen Dichtung und hellenistischen Romanen, die in eine romantische, märchenhafte Stimmung versetzen. Obwohl Ovid uns eine hochdramatische Liebesgeschichte bietet, schreibt er gleichzeitig auf humorvolle Weise. Die japanische Fassung macht jedoch etwas Anderes aus Ovids Text. Sie betont das visuelle Element stärker wegen der Piktogramme und überrascht durch onomatopoetische Akzente an bedeutenden Stellen in der Erzählung, die Geräusche hörbar machen. Tawada Yokos Version der Ovidischen Szene hebt den Realismus hervor, verwandelt den Text in etwas Magisches unter dem Einfluss von Sei Shonagon. Wie Ovid verwebt sie Thisbes Geschichte mit einem anderen Mythos, dem von Iphis, aber wie die Hofdame beschreibt sie verschiedene Momente in ihrem Leben und ihren Gedanken, ganz wie in einem Tagebucheintrag. Jedoch ist die wichtigste Metamorphose, über die Tawada Yoko spricht, diejenige, unter dem Einfluss einer fremden Kultur ein neuer Mensch zu werden.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 3.2, Tawada Yoko als Autorin der Mehrsprachigkeit: Tawada Yoko ist eine interessante Autorin und Sprachkünstlerin der Migrationsliteratur, die mit ihrer Person und ihrem Œuvre auch spannende Vorurteile aufdeckt. Beispielsweise wurde von ihr, nur weil sie Japanerin ist, automatisch angenommen, dass sie sich mit No-Theater auskennt und alles darüber weiß. Tatsächlich aber war sie in Japan nie hingegangen und hatte sich überhaupt nicht damit beschäftigt. Was sie wohl von ihrem Russischstudium, ihrer Großmutter und ihren Reisen weiß, ist aber, dass die russische Puppe Matrjoschka ursprünglich erst Ende des 19. Jahrhunderts nach alten japanischen Vorbildern in Russland hergestellt wurde, was wiederum viele Russen nicht wissen, vielleicht von einer kokeshi, einer schlichten Holzpuppe, die für jedes Kind, das aus Armut getötet werden musste, hergestellt wurde. Die Holzpuppen kokeshi ???wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Tohoku-Region, im Nordosten Japans, dem Zentrum des Onsen-Gebiets, erfunden und waren der Schutz-Talisman der Kinder in Abwesenheit ihrer Eltern, wenn sie nach dem Einbringen der Ernte auf Badekur ins Onsen gingen. Später zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreichten von Tokyo aus auch ausgefeilte feine Spielzeuge aus Zelluloid und Blech die Region und dadurch wurden die kokeshi vernachlässigt. Ursprünglich gab es in den verschiedenen Dialekten, die die Kinder benutzten, um die 60 differenzierte Bezeichnungen für die unterschiedlichen Puppensorten. Die Art der Herstellung, die sehr aufwendig ist und lange dauert, wurde immer vom Meister an den Schüler weitergegeben und man musste sehr lange üben, bis man ein gutes Niveau erreichte. Heute werden sie von Sammlern wertgeschätzt wegen ihrer Schönheit der Einfachheit und ihrem aufwendigen Design, doch versteckt sich dahinter eine Geschichte der Armut und des Lebens unter rauen klimatischen Bedingungen. Sobald man ins Ausland geht, ist man sofort Experte über jeden Bereich seiner eigenen Kultur, auch wenn er nicht im eigenen Interessensgebiet liegt, und deren repräsentativer Vertreter und Botschafter, ob man will oder nicht. Dies konnten sicherlich schon viele Reisende, die sich länger im Ausland aufhielten, beobachten und erleben. ‘I grew up in Japan, where only Japanese is spoken. Everything else is rather … unbelievable. It´s not like Europe, where you have people, who speak other languages very well…’. Tawada Yoko meint, dass man durchaus mehr Ahnung von der eigenen Kultur hat, als diejenigen, die im Land geblieben sind, aber auf eine andere Weise. Denn denjenigen, die immer nur im eigenen Land bleiben, oder nur kurz im Ausland sind, fehlt die Perspektive und Reflexion von außen und damit ein entscheidender Blickwinkel auf dem Weg zur Realität und zur Wahrheit des menschlichen Daseins. So schärft auch eine fremde Sprache das Bewusstsein für die eigene Sprache dadurch, dass man sie ganz anders von außen wahrnimmt. Die ritualisierten Handlungen - im Guten wie im Schlechten - fallen meistens den Fremden stärker auf als den Einheimischen, die sie automatisch durchführen, und Übersetzungen der Körpersprache sind noch viel schwieriger als eine Fremdsprache zu sprechen, weil sich das Körpergefühl nicht so schnell umstellen kann. Ein Ritual besteht schließlich aus vielen Körperbewegungen. Tawadas Auseinandersetzung mit Europa und dessen Denkweise und ihre eigens entwickelte ‘ethnologische Poetologie’, in der sie spielerisch mit Sprachmagie umgeht, erweisen sich als bereichernde Denkherausforderung, im Eigenen das Fremde zu erkennen. Vor allem in der Sprache findet Tawada immer Lücken und Spalten, die auf längst Vergessenes oder nicht Sichtbares hinweisen, mit Hilfe derer sie neue Blickwinkel erschaffen möchte. ‘Why do you write, Ms. Yoko Tawada?’ - ‘This question, of course, is always difficult. You might as well ask: Why do you live?’. Aus der eigenen Mehrsprachigkeit mit all seiner Schwierigkeit kann man Kreativität schöpfen und gewinnen, die Bedeutung und Empfindung der Idee eines einzelnen Wortes und Gegenstands je nach Sprache erweitern und bereichern, und schließlich zu einem neuen, außergewöhnlichen Stil gelangen. ‘Seitdem ich auf Deutsch denke, denke ich in Dialogform. Es wird dort geredet, diskutiert, argumentiert, gefragt, geantwortet oder protestiert. Dabei stelle ich mir keinen einzigen Buchstaben bildlich vor’. Manche Gefühle und Empfindungen oder Ideen von Gegenständen kann man nur in der einen Sprache ausdrücken und nicht in der anderen. Unterschiedliche Sprachen bilden auch andere klangliche und schöpferische Möglichkeiten, die in anderen Sprachen schwer wiedergefunden werden können oder der Klang spielt in einer bestimmten Sprache eine bestimmte Rolle, die er in der anderen nicht spielt. Oder aber in einer Sprache wie dem Japanischen wiederum ist das Visuelle und Bildliche das eigentlich Wichtige und damit auch in der japanischen Kultur wichtiger als in anderen Kulturen wie der deutschen Kultur, in welcher der Klang wichtiger ist als das Visuelle: der Aufbau des Satzes wird plastischer durch das Vorlesen. Die Leute in Japan reden nicht miteinander, sie schauen. Jede Silbe kann aus einem Bild und einer kleinen Bildgeschichte bestehen oder ein Wort kann eine ganze Geschichte beinhalten. Jedes Ideogramm ist Magie und Zauber einer tiefen, geheimnisvollen Geschichte eines Menschen, die dahinter steckt. Damit wird ein japanischer Text zu einer unglaublich reichhaltigen Kulturgeschichte einer Gesellschaft. Für einen Begriff gibt es oft mehrere Möglichkeiten, ihn bildsprachlich zu beschreiben und damit andere Aspekte auszudrücken. In der japanischen Sprache kann es durch die vielen Homophone beim Sprechen und Vorlesen zu mehr Missverständnissen kommen, mit welchen man aber auch spielen kann und sie bewusst hervorrufen. Jede Sprache hat mehrere Möglichkeiten, die zunächst nicht sichtbar sind. Diese Möglichkeiten werden durch eine Fremdsprache sichtbar. Die kulturelle Differenz, die Wahrnehmung der anderen Kultur, lässt uns die Unmöglichkeiten unserer eigenen erkennen. Mehrsprachigkeit kann aber auch zu ungeahnten Schwierigkeiten führen, wie Tawada Yoko es beschreibt, die aber aus wissenschaftlicher Sicht eigentlich wiederum ein Vorteil sind: ‘ … denn immer, wenn ich ganz intensiv an einem deutschen Text gearbeitet habe, habe ich danach das Gefühl, dass ich gar kein Japanisch mehr kann und umgekehrt auch. … und ich habe diesen Nachteil und dieses Immer-wieder-nicht-Können von Sprache in mein Programm aufgenommen, d.h., ich muss bei jedem Text zurückgehen zu dem Punkt Null, wo man keine Sprache mehr hat, wo man sich nicht mehr ausdrücken kann und überhaupt die Sprache als solche in Frage stellt, …’. Autoren der Migrationsliteratur werden in der Literaturkritik manchmal in vermeintlicher ‘Fremdheit’ und ‘Exotik’ wahrgenommen, anstatt dass die inhaltliche und sprachliche Qualität gewürdigt wird. Weiters wird jede Abweichung zur Norm vorschnell und auf arrogante Weise als Fehler wahrgenommen, der sich manchmal in Wahrheit als Einfall von Kreativität und Vielfältigkeit herausstellen soll. Selbst die Kommunikation innerhalb der eigenen Muttersprache gestaltet sich oft schwierig: ‘Are we certain that we know what our words mean?’. Laut Tawada kann der Mensch die Sprache des Gegenübers nicht verstehen, sondern nur nachahmen, aber gerade durch konzentrierte Nachahmung entsteht ein klares Abbild einer fremden Sprache. Nachdem man genug nachgeahmt hat, wird man in der eigenen Muttersprache blind und ist sich ihrer nicht mehr bewusst. Ein Mensch, der eine fremde Sprache spricht, ist für Tawada Yoko immer zugleich jemand, der die fremde Sprache erforscht und nachahmt, nie aber kopiert, da dies nicht möglich ist. Man ist Betrachter und Betrachteter zugleich. Erst durch das Heraustreten aus alten Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten sehen wir die Welt in einem neuen, anderen Licht und sind der Wirklichkeit ein Stück näher. Betrachtet man die Texte von mehrsprachigen Autoren, so enthüllen ihre Texte und Themen politische und gesellschaftliche Realitäten und bringen neue Kreativität in alte Sprachen. Es findet ein Paradigmenwechsel statt: der Westen in seiner subjektorientierten Wahrnehmung muss lernen, sich von dieser Denkweise zu verabschieden und sich den Denkweisen der fremden Kulturen und deren Andersheit zu öffnen und vice versa. In mehreren Sprachen und Kulturen beheimatet und ausgestattet mit interkulturellem Wissen wird der Mensch nach und nach in einem schwierigen Prozess zum Weltbürger. Tatsache ist, dass jede Kultur die Chance hat, von der anderen zu lernen: einerseits die besten Ideen für sich selbst zu gewinnen und an sich anzupassen, andererseits das Schlechte öffentlich und ehrlich zu kritisieren, um im Gegenzug und auch als Dank eine Verbesserung zu bewirken, die doch in Wahrheit allen zu Gute kommt. Der Schlüssel zum gegenseitigen kulturellen Lernen ist die Sprache. Eine weitere Tatsache ist auch, dass wenn das Zusammenspiel der verschiedenen Kulturen besser funktionieren und ein tatsächliches Verständnis für die wirklichen Probleme der Welt statt Gier und Egoismus bereits vorherrschen würde, die Menschen größere Fortschritte in der Wissenschaft, in gesellschaftlichen Belangen, in Politik, Kunst und Kultur machen könnten und in manchen Teilen der Gesellschaft ist das ja bereits der Fall. Daher brauchen wir in der aktuellen Globalisierungsentwicklung und Migrationsdebatte die Geisteswissenschaft und Sprach- und Kulturkenntnisse eigentlich mehr denn je zuvor in der Geschichte der Menschheit.

Über den Autor

Petra Palmeshofer wurde 1982 in Wien geboren. Neben ihrem Doppelstudium Japanologie/Spanisch und Latein (Diplom) arbeitete sie als Lehrerin für Schüler und Studenten, beschäftigte und begeisterte sich beruflich und privat für Sprachen, Kunst, Literatur und Film. Neben ihrem Interesse für Ukiyo-e erforschte sie auf philologische Weise klassische Texte und im Sinne der vergleichenden Literaturwissenschaft romanische. In diesem Buch versucht die Autorin mit kritischem und satirischem Blick auf Philologie, japanische Geschichte und Buchproduktion zu schauen und gleichzeitig klassische Philologie und vergleichende Literaturwissenschaft mit ihrer Begeisterung für Japan zu verbinden und somit einen neuen künstlerischen und wissenschaftlichen Text zum Thema Migrationsforschung und Exophonie zu schaffen. Ihr Ziel ist es, interdisziplinäre wissenschaftliche Werke zur Japanologie, klassischen Philologie, Kunstgeschichte und vergleichenden Literaturwissenschaft zu verfassen.

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