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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 02.2018
AuflagenNr.: 1
Seiten: 64
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Ist an der GFK wirklich etwas dran? Die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg erfreut sich in Deutschland fortwährender Beliebtheit und gilt mittlerweile als etabliertes Konfliktlösemodell – und das, obwohl sie wissenschaftlichen Standards nicht genügt. Dabei sollte der Gebrauch nicht unreflektiert vonstattengehen. Er bedarf einer wissenschaftlichen Fundierung. Obwohl sich die GFK sprachlich verwirklicht, hat sich die Germanistik bisher kaum des Themas angenommen. Dieses Buch ist ein Schritt, diese Lücke zu schließen und tatsächlich braucht die GFK eine kritische sprachwissenschaftliche Überprüfung nicht zu fürchten. Bereits in den grundlegenden Kommunikationstheorien von Shannon und Weaver oder Austin zeigen sich Schnittstellen mit Rosenbergs Modell, die eine vollständige Erfassung möglich und sinnvoll erscheinen lassen. Das Buch enthält außerdem eine kritische Reflexion bisheriger Literatur zum Thema.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 5.2.2.1.4. Vier Schritte – Gewaltfreier Ausdruck Das Vier-Schritte-Modell der gewaltfreien Kommunikation, die behelfsmäßige Grundstruktur einer gewaltfreien Äußerung (vgl. Rosenberg et al. 2010, S. 26), lässt sich durch Austins Terminologie subsummieren. Die GFK verwirklicht sich im Gespräch entweder durch ehrlich ausdrücken (Rosenberg et al. 2010, S. 26) oder empathisch zuhören (Rosenberg et al. 2010, S. 26). Dabei wendet Rosenberg das Modell nicht nur auf Äußerungen des Gegenübers, sondern auf dessen Handlungen generell an. Das lässt sich relativ problemlos auf Austins Terminologie übertragen. Beispielsweise kann die bloße Handlung des Schulterklopfens als Lokution betrachtet werden. Daran kann z. B. die Illokution des Lobens geknüpft sein, verknüpft mit der in actu-Perlokutionsabsicht des Aufmunterns. Analog gilt das sogar für Handlungen, die gar nicht an den Empfänger gerichtet sind, von ihm aber dennoch wahrgenommen wurden. So kann in einem Firmenbüro z. B. ein Sprecher äußern: Wenn Sie Firmendokumente auf dem Boden des Konferenzraums liegenlassen [Lokution], bin ich verärgert [post festum-Perlokution], weil mir wichtig ist, daß interne Vorgänge vertraulich behandelt werden [Begründung der post festum-Perlokution] (Rosenberg et al. 2010, S. 84). Ebenso wie wörtliche Äußerungen können solche Handlungen missverständlich sein in dem Sinne, dass an eine Handlung mehrere Illokutionen und Perlokutionen geknüpft sein können. So könnte der Kollege aus dem Beispiel die Papiere aus verschiedenen Motiven liegen gelassen haben. Im Folgenden liste ich die einzelnen Schritte des gewaltfreien Ausdrucks auf und erläutere sie durch die Perspektive der Sprechakttheorie. Der erste Schritt der GFK ist das Äußern einer Beobachtung unter besonderer Berücksichtigung der Unterscheidung von Beobachtung und Bewertung der Beobachtung. Der Grund dafür ist, dass die GFK sich dadurch die größte Wahrscheinlichkeit verspricht, dass beide Sprecher darin übereinkommen, über welche Äußerung sie nun in der Metakommunikation sprechen wollen (vgl. Rosenberg et al. 2010, S. 51). Den Satz Meine Tante klagt (Rosenberg et al. 2010, S. 53) kritisiert Rosenberg beispielsweise als Bewertung. Um eine reine Beobachtung zu äußern, empfiehlt er: Meine Tante hat […] über Leute gesprochen, die nicht so mit ihr umgegangen sind, wie sie das gerne gehabt hätte (Rosenberg et al. 2010, S. 54). In Austins Begriffen wird hier versucht, sich auf den zu diskutierenden Sprechakt zu einigen und sich dabei zugunsten dieser Übereinkunft nicht auf Illokution und Perlokution besagter Äußerung zu beziehen. Auch aus Austins Perspektive ist das sinnvoll, da Illokution und Perlokution eine komplexere Verständnisleistung erfordern, als die Lokution (siehe Kap 5.2.2). Das wörtlich Gesagte kann relativ einfach identifiziert werden, wohingegen die daran geknüpften Illokutionen und Perlokutionen schwieriger zu kommunizieren und identifizieren sind. Eine Einigung darüber ist also schwerer zu erzielen. Das obige Beispiel zeigt, nach Austins Begriffen, wie Rosenberg die Illokution klagen bei der Beschreibung der Beobachtung möglichst vermeiden möchte. Es zeigt aber auch, dass es schwierig ist, bei der Beschreibung einer Lokution diese vollständig von einer Illokution zu lösen. Deshalb wurde die Illokution klagen an dieser Stelle schlicht durch das abstraktere hat … gesprochen ersetzt – eine neutralere, weniger spezifische Illokution, die in der Hoffnung auf Konsensstiftung gewählt wird (vgl. Rosenberg et al. 2010, S. 45). Möchte man auf die Angabe einer Illokution gänzlich verzichten, bietet sich alternativ der Bezug auf eine Äußerung oder Handlung durch deiktische Mittel (z. B. das ) an (vgl. Rosenberg et al. 2010, S. 122). Auch die direkte Wiedergabe der gehörten Worte in der indirekten Rede wird zur Übereinkunft vorgeschlagen (vgl. Rosenberg et al. 2010, S. 70). Im zweiten Schritt der GFK äußert der Sprecher die Gefühle, die die im ersten Schritt festgelegte Äußerung in ihm ausgelöst hat z. B. Ich bekomme Angst, wenn du das sagst (Rosenberg et al. 2010, S. 65). Rosenberg legt dabei großen Wert auf die Erkenntnis, daß das, was andere sagen oder tun, ein Auslöser für unsere Gefühle sein mag, aber nie ihre Ursache ist. Wir erkennen, daß unsere Gefühle aus unserer Entscheidung kommen, wie wir das, was andere sagen oder tun, aufnehmen wollen (Rosenberg et al. 2010, S. 69, vgl. auch 163–165 [Hervorh. im Orig.]). Auch Austin nimmt eine solche Unterscheidung vor (hier am Beispiel des Überredens dargestellt): Der Hörer als der Betroffene fühlt sich als Folge unseres Bemühens überredet (oder nicht) es ist an ihm, unsere perlokutive Absicht zu erkennen und die beabsichtigte Wirkung zuzulassen. Er kann durchaus erkennen, daß wir ihn mit unseren Äußerungen überreden, beleidigen oder erheitern wollen, sich aber dennoch nicht überredet, beleidigt oder erheitert fühlen (Bublitz 2001, S. 84 [Hervorh. im Orig.]). Wie Rosenberg vertritt Austin die Ansicht, dass die Perlokution zwei ‚Urheber‘ (Bublitz 2001, S. 84) hat, und die post festum-Perlokution also nicht an die Lokution und Illokution des Sprechers geknüpft werden kann (vgl. Rosenberg et al. 2010, S. 69) oder, wie Bublitz formuliert: Speakers do illocutions but they do not do perlocutions (Bublitz 2001, S. 85). Rosenbergs Unterscheidung zwischen Gefühlsauslöser und Gefühlsursache kann also durch Austins Konzept erfasst werden. Dabei ist die Offenbarung des ausgelösten Gefühls aus Austins Perspektive das Offenbaren der post festum-Wirkung der Äußerung des Gegenübers. Im dritten Schritt teilt der Sprecher seine persönlichen Bedürfnisse oder Werte mit, die ursächlich für das zuvor mitgeteilte Gefühl sind. Die dritte Komponente der GFK besteht aus dem Erkennen und Akzeptieren der Bedürfnisse hinter unseren Gefühlen. Was andere sagen oder tun, kann ein Auslöser für unsere Gefühle sein, ist aber nie ihre Ursache (Rosenberg et al. 2010, S. 81 [Hervorh. im Orig.]). Rosenbergs eigene Zusammenfassung zeigt hier anschaulich, dass sich der dritte Schritt als Vertiefung der Einsicht in die zwei Urheber einer post festum-Perlokution sehen lässt. War diese Einsicht im zweiten Schritt noch nötig, um dem Sprecher die eigenen Gefühle, die post festum-Perlokution möglichst unmissverständlich mitzuteilen, wird sie hier wichtig, um zu ergründen, warum diese post festum-Perlokution auftrat. Laut Rosenberg entsteht sie aus unseren jeweiligen Bedürfnissen und Erwartungen in der aktuellen Situation (Rosenberg et al. 2010, S. 69). Für den Sprecher bedeutet diese Erkenntnis auch, dass er keine Verantwortung für die post festum-Perlokution übernehmen kann, jedoch für seine in actu-Perlokutionsabsicht verantwortlich ist (vgl. Bublitz 2001, S. 88). In den Begrifflichkeiten der GFK heißt das: Wir übernehmen volle Verantwortung für unsere Absichten und unsere Handlungen, aber nicht für die Gefühle anderer Menschen (Rosenberg et al. 2010, S. 80). Den dritten Schritt kann man also im Grunde als weitere Erläuterung auffassen, wie es (unabhängig von der in actu-Absicht des Sprechers zur tatsächlichen post festum-Perlokutionswirkung im Hörer gekommen ist (vgl. Hampel 2013, S. 57). Der vierte Schritt schließlich, die Bitte, wird in der GFK wie folgt ausgedrückt: Um das bitten, was unser Leben bereichert (Rosenberg et al. 2010, S. 87). Wir versuchen vage, abstrakte oder zweideutige Formulierungen zu vermeiden, und denken daran, die positive Handlungssprache zu benutzen (Rosenberg et al. 2010, S. 105). Diese Maßnahmen dienen der möglichst unmissverständlichen Kommunikation der in actu-Perlokutionsabsicht. Ein weiteres Merkmal ist, dass Sprecher bitten und nicht fordern (Rosenberg et al. 2010, S. 106). In der GFK ist die Zustimmung zu einer Bitte nur erwünscht, wenn sie aus freiem Willen gegeben wird (siehe Kap. 5.2.2.1.1). [...] 5.2.2.1.5. Vier Schritte – Empathisches Aufnehmen Im Falle des empathischen Aufnehmens versucht der Anwender der GFK, die Gefühle und Bedürfnisse des Gegenübers zu begreifen, anstatt sich selbst auszudrücken. Grundsätzlich gilt dabei: In der GFK spielt es keine Rolle, mit welchen Worten unsere Mitmenschen ihr Anliegen ausdrücken, denn wir hören auf ihre Beobachtungen, Gefühle und Bedürfnisse und worum sie bitten (Rosenberg et al. 2010, S. 115). Laut Rosenberg ist es nicht wichtig, ob die Vermutung über diese Komponenten richtig ist. Entscheidend sei der ernstgemeinte Versuch, mit den Gefühlen und Bedürfnissen des Gegenübers in Kontakt zu kommen (vgl. Rosenberg et al. 2010, S. 31, vgl. auch 83, 127). Aus Perspektive der Sprechakttheorie nach Austin spielt sich in den vier konstitutiven Schritten folgendes ab: Im ersten Schritt wird die Beobachtung vermutet, die beim Gegenüber ein Gefühl auslöste (vgl. Rosenberg et al. 2010, S. 213). Aus Sicht Austins wird also vermutet, auf welche Lokution sich das Gegenüber bezieht. Dies dient, analog zum gewaltfreien Ausdruck, der Konsensstiftung. (In der GFK wird davon ausgegangen, dass Gefühle immer einen Auslöser haben und also als Folge von Beobachtungen auftreten.) Im zweiten Schritt vermutet man das Gefühl, das im Sprecher infolge der Beobachtung präsent ist, z. B. Du bist also traurig über das, was du getan hast […]? (Rosenberg et al. 2010, S. 178) Die Lokution ist in diesem Beispiel keine wörtliche Äußerung, sondern eine Handlung. Die Unterscheidung zwischen Gefühlsauslöser und –ursache funktioniert hier analog zum gewaltfreien Ausdruck. Im dritten Schritt wird beim Gegenüber das Bedürfnis vermutet, das ursächlich für dessen Gefühl ist. Das funktioniert analog zum dritten Schritt des Selbstausdrucks. Im vierten Schritt vermutet man die konkreten Handlungen, um die das Gegenüber bittet (vgl. Rosenberg et al. 2010, S. 213). 5.2.2.2. Zwischenfazit Für die Erfassung des Konzeptes der Bitte in der GFK ist Austins Theorie geeignet. Nicht nur die vorgegebene sprachliche Form der Bitte, sondern auch die zugrunde liegende Haltung kann sie beschreiben. Gleiches gilt für den weltanschaulichen Aspekt der GFK, wonach jede Äußerung eine Bitte ist. Auch die spirituelle Komponente Bitten bewusst formulieren kann mit Austins Terminologie beschrieben werden. Im Bereich der missverstandendenen Bitten geht Austins Theorie sogar über Rosenbergs hinaus und liefert nicht nur eine Erklärung dafür, warum Bitten manchmal als Forderungen missverstanden werden, sondern auch für das Konventionalisieren von Äußerungen allgemein. Das Konzept der Analysen anderer Menschen als tragischer Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse lässt sich schließlich sehr gut über das Konzept der konventionalisierten Illokutionen erfassen (siehe Kap. 5.2.2.1.1). In den besagten Teilbereichen funktioniert die Erfassung durch Austins Theorie vollständig und ohne zu vereinfachen. Es bleibt auch bei Benutzung von Austins Terminologie erkennbar, worin der Sinn der gewaltfreien Äußerungen liegt.

Über den Autor

Erik Lutz, B. A., wurde 1993 geboren und wuchs im Umland von Ingolstadt auf. Sein Studium der Germanistik und Anglistik in Eichstätt schloss er 2017 erfolgreich ab. Parallel zum Studium begeisterte er sich für zwischenmenschliche Kommunikation, die Rolle der Sprache in der Gesellschaft und die Gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg. Im Rahmen der akademischen Spezialisierung auf die Linguistik gelang es ihm, seine Interessensgebiete inner- und außerhalb des Studiums im vorliegenden Buch zusammenzuführen. Aktuell studiert der Autor im Masterprogramm Interkulturelle Germanistik in Bayreuth.

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