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Kunst & Kultur

Thomas Wagner

Stephen Sondheims "Sweeney Todd": Kompositionstechnik und Intertextualität

ISBN: 978-3-8428-9178-4

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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 02.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 80
Abb.: 17
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Die Zuordnung von Eigenschaften wie trivial und unterhaltsam kann durchaus als stereotypisch für den Umgang mit der Gattung Musical in der wissenschaftlichen Literatur der letzten Jahrzehnte gelten. Das Musical als ernsthafte Theatergattung wird im Vergleich zu den klassischen Musiktheaterformen (die verschiedenen Opernrichtungen, Operette) von der Forschung – insbesondere der musikwissenschaftlichen – so gut wie nicht wahrgenommen. Vor allem im deutschsprachigen Raum scheint es ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, das Musical von vornherein in die Unterhaltungsschublade zu stecken und mit entsprechend niedrigen bzw. keinen Erwartungen an Buch und Partitur heranzutreten. Es soll mit dieser Studie der Versuch unternommen werden, die Kompositionstechnik Sondheims frei von solchen ideologischen Prämissen zu untersuchen und auch nicht einem bestimmten Vorwurf nachzugehen, sondern vielmehr Entwicklungslinien und Einflüsse zu verfolgen und nachzuvollziehen, wie es zu den sehr kontroversen Meinungen über einen gerade bei der Kritik so erfolgreichen Komponisten kommen kann.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 4, Oper, Operette oder ‘Movie for the Stage’?: ‘Sweeney Todd has been called by people who are about categories everything from an opera to a song cycle. When pressed, I have referred to it as a dark operetta, […] but all labels come with baggage. ‘Opera’ implies endless stentorian singing ‘operetta’ implies gleeful choirs of peasants dancing in the town square ‘opéra bouffe’ implies hilarious (in intent, at least) complications of mistaken identity ‘musical comedy’ implies showbiz pizzazz and blindingly bright energy ‘musical play’ implies musical comedy that isn't funny. […]. Opera is defined by the eye and ear of the beholder. So where does that leave Sweeney? ‘Dark operetta’ is the closest I can come, but that's as much as a misnomer as any of the others. What Sweeney Todd really is is a movie for the stage.’ Sondheim selbst fasst die Gattungsdiskussion hier aus seiner Sicht zusammen, wenn er auch in allen Fällen nur plakative Negativbeispiele anführt, also jeweils ein Klischee anführt, das Sweeney nicht erfüllt. Wichtig dabei ist aber vor allem sein Kommentar ‘by people who are about categories’. Sein Anspruch der Grenzüberschreitung macht selbstverständlich vor den klassischen Theaterschubladen nicht halt, und Sweeney Todd ist ebenso selbstverständlich nicht als Vertreter einer bestimmten Gattung konzeptioniert. Um in der späteren Analyse verschiedene Einflussfaktoren richtig zuordnen zu können, ist es zweckmäßig, an dieser Stelle die in der Literatur geführte Diskussion kurz zusammenzufassen und eine Übersicht über die verschiedenen Gattungen zu geben, von denen das ‘Gesamtkunstwerk’ Sweeney Todd beeinflusst ist, nicht zuletzt, weil damit schon die wesentlichen Herkunftsrichtungen möglicher Prätexte zumindest grob abgesteckt sind. Textlich und dramaturgisch bewegt sich das Stück zwischen dem klassischen Melodrama und der Rachetragödie des elisabethanischen England. Dabei lassen sich insbesondere die häufig von Zufällen bestimmte Situationsgestaltung und die eindimensionale Figurendisposition auf das Melodrama zurückführen. Das für diese Gattung quasi zwingend erforderliche ‘Happy End’ fehlt allerdings und wird durch einen für die Rachetragödie typischen Schluss ersetzt – der Rächer (hier Sweeney) wird am Ende des Stücks durch eine schuldlose Person (hier Tobias) selbst gerichtet. Mit dieser Theaterform verbunden ist auch eine sehr explizite Gewaltdarstellung, wie sie auch für das (vermutlich aus dem gleichen Kontext wie das ‘Crime-Melodram’ entstandene) ‘Grand Guignol’ charakteristisch ist. Zahlreiche Publikationen verweisen auf diese französische Theatertradition als wichtigen Einfluss für Bonds und damit auch Sondheims Sweeney Todd-Version’. Sondheim selbst widerspricht dem zum Teil und grenzt Sweeney Todd als Melodram bewusst vom Grand Guignol ab, bezieht sich dabei aber vor allem auf die Aufführungstradition, die beim Melodram in erster Linie auf Publikumsinteraktion und eine ‘Kneipen-Atmosphäre’ ausgerichtet ist, während es im Grand Guignol tatsächlich um das Erschrecken und emotionale Involvieren des Publikums geht. Außerdem spielt es im Grand Guignol in aller Regel keine Rolle, ob und wie der Täter am Ende des Stückes bestraft wird, der Zweck vieler Stücke ist lediglich ein möglichst effektvoller Spannungsbogen bis zur Katastrophe. Letztlich ist der Vergleich in der Literatur vermutlich nur der Art der Gewaltdarstellung ohne Berücksichtigung der zugrunde liegenden theatralischen Strukturen geschuldet. Ob Sweeney Todd näher am Grand Guignol oder der Rachetragödie ist, wird in der vorliegenden Literatur widersprüchlich beantwortet. Die feinere Differenzierung der unterschiedlichen Theatergattungen könnten sicherlich Gegenstand weiterer Untersuchungen sein, an dieser Stelle ist eine Konzentration auf die Einflussfaktoren aus dem Musiktheater näheren Richtungen aber wesentlich sinnvoller. Hier fügt sich auch die Anlage der verschiedenen Figuren und insbesondere ihrer Stimmfächer als Erbe sowohl des Melodrams als auch der Oper ein: ‘Sondheim besetzt, in Analogie zur Operntradition des 19. Jahrhunderts, in der das tiefe Stimmregister, vor allem im deutsch-romantischen Repertoire, häufig mit düsteren bis dämonischen Charakterbildern konnotiert wird […] die sinistren, bedrohlichen Gestalten des Musicals, namentlich Richter Turpin und Sweeney Todd, mit einem Bass respektive einem Bass-Bariton, deren dunkles Stimmtimbre er bewusst zur musikalischen Charakterisierung einzusetzen versteht.’ ‘[E]ine derartige Rollentypik, so nahe liegend sie auch in der Oper sein mag, [ist] im Musical durchaus keine Selbstverständlichkeit.’ Der aus dem Melodram übernommenen, schablonenhaften Figurenkonstellation entspricht also eine opernhaft stereotype Stimmfächerwahl. Der auf den ersten Blick als Fehlentscheidung scheinende Entschluss, den jugendlichen Liebhaber Anthony entgegen der Tradition nicht mit einem Tenor zu besetzen, ist bei genauerer Betrachtung sowohl aus formal-sachlichen (es gibt schon drei Tenorpartien) als auch dramaturgischen Gründen durchaus gerechtfertigt, wie von Franke ausführlicher dargestellt wird. Nicht nur die Wahl der Stimmfächer, sondern auch die quasi durchkomponierte Form, der Einsatz von charakteristischen Motiven für Personen und Situationen, die hohe Ensembledichte und nicht zuletzt Sondheims ursprüngliche Motivation, Sweeney Todd trotz seiner Abneigung für die Gattung als ‘operatic piece’ anzulegen, sprechen für den Kontext der Oper als mögliche Intertext-Instanz. Das Fehlen echter Rezitative, das Vorkommen von rein gesprochenen, wenn auch musikalisch untermalten Dialogpassagen und der teilweise ‘nicht-opernhafte’ Umgang Sondheims mit dem Verhältnis von Text und Musik lassen es jedoch nicht zu, Sweeney Todd tatsächlich als Oper zu bezeichnen. ‘‚For me, Sweeney Todd is not an opera it's a black operetta in feeling and form. The only thing is it deals with extremely melodramatic material. Operettas tended to deal with lighthearted subjects. But if you look at the form Sweeney Todd is, let's say, eighty percent sung, and it's almost all songs and arioso singing. Not much recitative. And that is true of operetta.’ Neben den hier von Sondheim angeführten Merkmalen spricht auch der inhomogene Stil des Musicals für die Nähe zur Operette. Es lassen sich ‘Elemente aus Music Hall, Burleske und (persifliert) italienischer Belcanto-Oper’ nachweisen, die zusammen mit Sondheims eigener Tonsprache einen vielschichtigen ‘Stilmix’ ergeben. Auf die ‘Music Hall’- und Belcanto-Parodien wird das folgende Kapitel nochmals zurückkommen. Schon im Zitat zu Beginn des Kapitels benutzt Sondheim den Terminus ‘dark operetta’ (hier in der leichten Abwandlung ‘black operetta’), um den Einfluss des Melodrams auf die ansonsten eher unbeschwerte Gattung zu verdeutlichen. Als dritte und letzte Einflusskategorie sei an dieser Stelle noch die Filmmusik bzw. der film noir erwähnt. Wie in Kapitel 2 schon erwähnt, bezeichnet Sondheim die Musik von Bernhard Herrmann und insbesondere dessen Soundtrack zu Hangover Square als Vorbild für Sweeney Todd: ‘[Herrmanns] harmonic style […] ‚was just right for Sweeney. I didn't consciously copy him but it was Hangover Square that started that kind of thought process in my head.’ Wie ebenfalls im vorhergehenden Kapitel schon besprochen, sind direkte Einflüsse oder Zitate kaum nachweisbar. Hauptsächlich in den ‘underscores’ zeigt sich die von Herrmann inspirierte Filmmusik-Qualität der Sweeney Todd-Partitur. Secrest bezeichnet Hangover Square als ‘early example of film noir’ und kommt zu dem Schluss, dass sich Sondheims Vorliebe für dieses Filmgenre daher in Sweeney Todd ausdrückt. Swayne gibt zu bedenken, dass die meisten Filmwissenschaftler dieser Einordnung von Hangover Square nicht zustimmen würden,sieht aber zu weniger umstrittenen Vertretern des Genres wie Out of the Past deutliche Parallelen, insbesondere in der Plotstruktur und folgert: ‘One could drop the ubiquitous description of Sweeney Todd as ‘Grand Guignol” – a description made primarily because of the blood-quirting razors and partially repudiated by Sondheim – and call it a musicale noire […]’. Im Zusammenhang mit der Filmmusik-Thematik ist auch Sondheims eigene Einschätzung bzw. deren Wandel in Bezug auf eine Filmversion seines Stückes bemerkenswert. Im Interview mit Horowitz 2003 entgegnet er auf die Frage nach einer möglichen Sweeney Todd Verfilmung: ‘I don't think it's going to work for two seconds.’ und gibt seiner Meinung Ausdruck, dass sich Musicals mit Ausnahme der Tanzfilme im Stile Fred Astaires grundsätzlich nicht eignen. Auf der Bonus-DVD zu Tim Burtons 2007 erschienener (und unter Sondheims Mitwirkung entstandener) Filmversion stellt er seine Bedenken jedoch als wesentlich weniger grundsätzlich dar. Er gibt an, bei Burtons Anfrage zwar skeptisch gewesen zu sein, weil ‘seine Musicals noch nie gut verfilmt worden seien’, dieses neue Projekt aber einfach als neue Chance gesehen zu haben, da sich unter seinen Musicals Sweeney Todd aufgrund seiner an einem typischen Horrorfilm orientierten Dramaturgie besonders gut für eine Verfilmung eigne. Dazu passt auch die weiter oben zitierte Bewertung des Stücks als ‘Movie for the Stage’. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man es sich mit der Bezeichnung Oper im Falle von Sondheims Sweeney Todd definitiv zu leicht macht. Das Stück weist zwar einige charakteristische Merkmale einer klassischen Oper auf, diese Parallelen reichen aber nicht für eine so eindimensionale Gattungszuordnung. Weitere deutliche Einflüsse kommen aus den Bereichen der Operette und der Filmmusik. Letztlich ist es nicht zu empfehlen, sich überhaupt auf nur eine Kategorie festzulegen, da man sowohl für die Bezeichnungen ‘Dark Operetta’, ‘Musicale Noire’ genauso viele zutreffende und unzutreffende Eigenschaften findet wie für das Ettikett ‘Oper’. Sweeney Todd steht gattungsmäßig mindestens zwischen diesen drei Polen.

Über den Autor

Thomas Wagner wurde 1985 in Hermeskeil, Rheinland-Pfalz geboren. Er studierte Schulmusik, Musikwissenschaft und Mathematik an der Johannes Gutenberg-Universität sowie Diplom-Gesang an der Hochschule für Musik in Mainz. Während seines Studiums leitete er von 2009 bis 2013 die Produktionen RENT , Pinkelstadt – Das Musical , Spring Awakening und Side Show – Die Show Ihres Lebens der studentischen Hochschulgruppe Musical Inc. Im Rahmen dieser Tätigkeit setzte er sich auch stark mit den theoretischen und musikwissenschaftlichen Aspekten des Genres auseinander, woraus unter anderem die Sweeney Todd -Studie hervorgeht.

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