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Kunst & Kultur

Simone Brandt

Verisimilitude: Realismus in den Spielfilmen Jim Jarmuschs

ISBN: 978-3-8366-9100-0

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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 05.2010
AuflagenNr.: 1
Seiten: 110
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Haben Independent- bzw. Autorenfilme ein höheres Potential eine wie auch immer geartete Wirklichkeit abzubilden als der klassische Hollywoodfilm? Was ist überhaupt Realismus im Spielfilm? Die Ähnlichkeit zur Realität kann es nicht sein, denn der Spielfilm zeigt im Gegensatz zum Dokumentarfilm in der Regel Erfundenes, Fiktives. Auch kennt der Zuschauer die in einer Fiktion repräsentierte Lebenswirklichkeit (etwa ein bestimmtes soziales Milieu) nur selten aus eigener Anschauung. Ein Urteil, ob es sich um einen realistischen Film handelt, erlaubt er sich aber häufig trotzdem. Wodurch entsteht also der Eindruck beim Zuschauer, ein Spielfilm sei mehr oder weniger realistisch? Diesen Fragen wird hier anhand von neun Spielfilmen des amerikanischen Independent Regisseurs Jim Jarmusch nachgegangen. Dabei werden verschiedene Aspekte untersucht, die traditionell mit Realismus im Film assoziiert werden, etwa der Einsatz von Laiendarstellern oder das Location Shooting, sowie bestimmte Techniken der Kameraführung und des Schnitts. Darüber hinaus befasst sich diese Studie mit den Fragen, wie in Jarmuschs Spielfilmen die Inszenierung von Alltäglichkeit und die Repräsentationen von Menschen einen Eindruck von Realismus hinterlassen können und welches Wirkungspotential intertextuelle Bezüge und Ironie auf die Rezeption des Zuschauers haben können.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 4.4.3, ‚Zufälle‘ und ‚unwesentliche Merkmale‘: ‘The fortuitous being a characteristic of camera-reality, film no less than photography is attracted by it’, meint Kracauer. Diese Affinität des Films zum Zufälligen zeige sich auch in ‘its unwavering susceptibility for the street’. David Bordwell ist der Ansicht, dass die Integration von Zufallsereignissen im Film auf der erzählerischen Ebene durch eine ‘realistic motivation’ begründet sei mit der sich das ‘art-cinema’ von der ‘cause and effect’ Struktur des klassischen Erzählkinos absetze. Auch Kristin Thompson vertritt im wesentlichen diese Ansicht. Ich denke aber, dass es sehr auf die Art des Zufalls ankommt. Denn auch im Hollywoodkino passieren ja die außerordentlichsten ‘Zufälle’, etwa wenn der Retter just in dem Moment den Schauplatz erreicht, wenn er am dringendsten benötigt wird. Kaum jemand würde dieses Ereignis jedoch als Zufall wahrnehmen, weil es im Kontext der Genrekonventionen eher eine Notwendigkeit darstellt, als einen Zufall. ‘Contingency can create transitory, peripheral incidents [...] or it can be more structurally central’ meint Bordwell. Als Beispiel für die ‘strukturell zentraleren’ Zufälle nennt er den Umstand, dass der Protagonist sein Fahrrad in Ladri di Biciclette wiederfindet, um es gleich darauf wieder zu verlieren. Es handelt sich aber hierbei gar nicht um einen Zufall im eigentlichen Sinne und erst recht nicht um eine Auflösung der kausalen Erzählstruktur, weil die weiteren Entwicklungen in diesem Film eine logische Folge dieser Ursache sind. Im Folgenden sollen die Implikationen des Begriffs ‘Zufall’ im Kontext filmischer Narration näher betrachtet werden, mit dem Ziel, die Unterschiede zwischen den ‘strukturell zentraleren’ Zufällen, die für Realismus im Film kaum eine Rolle spielen und jenen Zufallsereignissen, die ein verisimilitude-Potential aufweisen, in Jarmuschs Spielfilmen herauszuarbeiten. Unter Zufall versteht man im Allgemeinen ein Ereignis, dem keine erkennbare Ursache oder Absicht zugrunde liegt und das daher nicht vorhersehbar ist. In der außerfilmischen Realität lässt sich über die Existenz des Zufalls spekulieren, je nachdem kann seine Existenz zugunsten einer göttlichen Instanz, eines allumfassenden Determinismus (sei er physikalischer oder philosophischer Natur) negiert werden oder auch nicht. Der Zufall ist daher ein subjektives Konstrukt, denn wenn man von dem theoretischen Konzept des Zufalls in der Quantenphysik einmal absieht, existiert er überhaupt nicht, sondern bezieht per Definition seine Existenz aus der unerkannten Ursache. Ob eine Ursache erkannt wird, wo keine ist oder keine erkannt wird, wo eine ist, ist eine Frage des Betrachters. In der Realität hat der Mensch keine Kontrolle über Zufälle, in der Fiktion eines Filmes dagegen schon. Der Zufall ist hier normalerweise, wenn überhaupt vorhanden, eine Inszenierung, die mit dem Drehbuch beginnt und mit dem Schnitt endet. Da das auch der Zuschauer weiß und da er aufgrund seiner Medien-Erfahrung gewohnt ist, Verknüpfungen zwischen Ereignissen im Film herzustellen, gestaltet sich die Inszenierung eines überzeugenden ‘Zufalls’ im Film als außerordentlich schwierig. Wenn eine Person in der außerfilmischen Realität unbeabsichtigt mit irgendjemandem auf der Straße zusammenstößt, kann sie dies ohne weiteres als unglücklichen Zufall bewerten. Wenn in Mystery Train die Italienerin Luisa in der Hotellobby mit Dee Dee zusammenprallt oder Charlie später seine Whiskyflasche dort fallenlässt, eröffnet sich für den Zuschauer dagegen ein Bedeutungsfeld, das den Eindruck des zufälligen unter sich begräbt. Für Luisas Zusammenstoß mit Dee Dee erschließt sich für den Zuschauer auch sogleich die auf der Ebene der Inszenierung angesiedelte Notwendigkeit, da das Zusammentreffen der beiden Frauen die Grundlage für den weiteren Verlauf der Handlung bildet. Der ‘Zufall’, dass die drei Ex-Gefangenen in Down by Law im Wald in einer Hütte übernachten, die ihrer vorherigen Zelle ähnelt, wird auch kaum als zufällig wahrgenommen werden. Der Zuschauer wird sie als schicksalhafte Fügung, ironischen Wink und ähnliches verstehen, aber gewiss nicht als puren Zufall. Derlei Zufälle, die entweder wichtig für den weiteren Handlungsverlauf sind oder sich auf der Ebene der Rezeption sogleich als Bedeutungsträger anbieten, sind in Jarmuschs Filmen häufig anzutreffen. Diese Art von Zufällen hat meiner Ansicht nach aber kein großes Potential für die verisimilitude, weil sie im Gegensatz zu den Zufällen in der Alltagswirklichkeit des Zuschauers nicht als solche wahrgenommen werden. In Permanent Vaction wirken die Begegnungen Allies mit dem Kriegsveteran, der spanischen Frau und dem Afroamerikaner in der Kinolobby schon etwas zufälliger, weil sie in keiner kausalen Beziehung zum Rest der Filmhandlung stehen. Allerdings entspannen sich auch aus diesen Begegnungen szenenübergreifende Motive (‚Wahnsinn‘, ‚Bombenkrieg‘‚ ‚Saxofonspieler‘), die in einem thematischen Bezug zu anderen Szenen stehen, wodurch diese Begegnungen ihren zufälligen Charakter wieder verlieren. Eine weitere Zufallsbegegnung hat Jack in Down by Law, wenn er auf der Straße mit einem Mann, den er mit ‘LC’ begrüßt, kurz ein paar freundliche Worte wechselt. Denn der Mann taucht im weiteren Verlauf nie wieder auf und hat höchstens die Funktion, dem Zuschauer Jacks Bekanntheit im nachbarschaftlichen Halbweltmilieu zu verdeutlichen. Sie steht aber weder als Motiv noch kausal mit anderen Szenen in Beziehung. Diese zufällige Begegnung erfüllt alle Kriterien des ‘unwesentlichen Merkmals’, deren Verwendung Roman Jakobson als ein besonders im literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts verbreitetes ‘realistisches Verfahren’ beschrieben hat: Wenn im Abenteuerroman des 18. Jahrhunderts der Held einen Passanten traf, so handelte es sich just um den, den er oder zumindest die Intrige brauchte. Bei Gogol oder Tolstoj oder Dostoevskij aber wird der Held unter Garantie zuerst einen nicht nötigen, vom Standpunkt der Fabel überflüssigen Passanten treffen, wird mit ihm ins Gespräch kommen, was für die Fabel ohne Folgen bleibt. Ein weiteres Beispiel für ein derart autonomes ‘unwesentliches Merkmal’ ist die Szene in Stranger than Paradise, in der Willie an einer Tankstelle für alle Sonnenbrillen gekauft hat und ins Auto einsteigen will. Nachdem er mit dem Rücken zum Auto vergeblich versucht hat, die Tür zu öffnen, greift er einige Male ins Leere, weil er den Griff nicht mehr findet. Er dreht sich zum Auto um, die Tür klemmt immer noch, schließlich kann er sie öffnen und steigt ein. Diesem Ereignis haftet der Eindruck des zufälligen und unwesentlichen an, weil ihm auf der Ebene der Inszenierung keinerlei weitere Aufmerksamkeit gewidmet wird: es wird nicht in Szene gesetzt, ist nicht Gegenstand des eigentlichen Interesses und geschieht in kurzer Zeit und wie beiläufig. Man könnte hier den Eindruck gewinnen, dass eine beim Dreh des Films aufgetretene Zufälligkeit aus der außerfilmischen Wirklichkeit in den Film hineingeraten ist und dann aus verschiedenen Gründen dort belassen wurde. Diese Schwierigkeit mit der Autotür ist aber auch im Kontext der Filmhandlung durchaus glaubwürdig. Denn Willie hat das Auto nur ein paar Tage geliehen, deshalb findet er den Türgriff nicht auf Anhieb und bei älteren Autos kommt es nun einmal vor, dass die Tür klemmt. Eine vergleichbare Szene findet sich in Dead Man: als Blake aus der Zugtür steigt, nimmt er ein Paar zusammengebundener Handschuhe vom Geländer, die sich wohl beim Aussteigen des Mannes vor ihm dort verfangen haben und gibt sie dem Mann, der vor ihm ausgestiegen ist. Auch dieses Ereignis steht außerhalb eines narrativen Kontextes, denn Blake trifft den Mann nie wieder. Dadurch, dass dieser Zwischenfall nicht als Nahaufnahme sondern aus der Totalen gefilmt wird, wird die Beiläufigkeit und das Alltägliche des Ereignisses noch unterstrichen. Ein weiteres Beispiel dieser Art ist in Stranger than Paradise der Telefonanruf eines Mannes in Willies Wohnung, dessen Namen Eva nicht genau versteht. Auch Willie kennt den Namen nicht, vielleicht weil sich jemand verwählt hat, vielleicht weil Eva ihn gänzlich falsch verstanden hat. Im Mainstreamfilm würde ein solch mysteriöser Anruf zu den abenteuerlichsten Verwicklungen führen, hier bleibt er jedoch folgenlos. In Down by Law drückt Zack Jack einen kleinen Gegenstand, möglicherweise ein Päckchen Zigaretten, in die Hand, nachdem sie gegen Ende des Films die Jacken getauscht haben. Der Gegenstand hatte sich noch in Jacks Jacke befunden. Auch das ist ein ‘unwesentliches Merkmal’. Charakteristischerweise sind es gerade die Darstellungen dieser ‘unwesentlichen Merkmalen’, die am ehesten vergessen werden und vielleicht gar nicht immer vollständig ins Bewußtsein dringen. Sie können aber meiner Ansicht trotzdem einen Beitrag zur verisimilitude leisten, weil sie sich aufgrund ihrer nebensächlichen Alltäglichkeit auf den Erfahrungshorizont des Zuschauers beziehen. Besonders die Szenen, die geringfügige Störungen der reibungslosen Interaktion mit der Umwelt darstellen (Autotürszene, Zugausstiegsszene) weisen dieses Potential auf. Es handelt sich um jene ‘small random moments which concern things common to you and me and the rest of mankind’, die nach Kracauer die Dimension des alltäglichen Lebens konstituieren, die ‘matrix of all other modes of reality’.

Über den Autor

Simone Brandt, geb. 1973, studierte Nordamerikastudien an der Freien Universität Berlin, Abschluss 2007.

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