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Soziologie

Hartmut Schweitzer

Korruption. Eine sozialwissenschaftliche Darstellung und Analyse

ISBN: 978-3-95935-582-7

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Produktart: Buch
Verlag: disserta Verlag
Erscheinungsdatum: 02.2022
AuflagenNr.: 1
Seiten: 492
Abb.: 17
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Diese Darstellung bietet eine umfassende Erklärung für die Entstehung und Verbreitung von Korruption durch das Herausarbeiten der zuerst normativen und in zweiter Linie der strukturellen Voraussetzungen für die Intensität und der Verbreitung von Korruption. Dabei werden sowohl Unterschiede im Korruptionsausmaß zwischen Gesellschaften als auch Änderungen in derselben Gesellschaft betrachtet. Dadurch wird es möglich, hinter die üblichen Erklärungen zu gehen und die soziale Basis aller Korruptionshandlungen herauszuarbeiten, weil Korruption eine soziale Handlung ist. Die Analyse zeigt, dass und warum Korruption in allen staatlich organisierten Gesellschaften vorkommt. Man kann nur hoffen, Korruption zu begrenzen, aber nie sie ganz zu beseitigen. Für die Praxis bedeutet das eine mögliche Präzisierung der Bekämpfungsansätze und die Abkehr von rein technokratischen Strategien. Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel, in denen verschiedene Korruptionserklärungen analysiert und eine neue, konsistente Definition mit einer Theorie dargestellt werden. Dann werden Struktur und Dynamik von Korruption analysiert und eine Reihe von Beispielen gegeben.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel (4.6) SOZIALE NORMEN: (4.6.1) KORRUPTION ALS NORMVERLETZUNG: Auch ohne nähere Bestimmung dessen, was konkret unter Korruption verstanden wird, besteht weitestgehende Übereinstimmung in der Wissenschaft darüber, dass korrupte Handlungen eine Verletzung von Normen beinhalten. Die Diskussion der unterschiedlichen Ansätze im dritten Kapitel zeigt jedoch, dass die Meinungen darüber, welche Normen denn in welcher Weise durch Korruption verletzt werden, ziemlich weit auseinandergehen. So vertreten viele Juristen die Auffassung, korruptes Handeln sei immer strafwürdig oder anders ausgedrückt: nur ein Handeln, das auch eine fixierte Rechtsnorm verletzt, kann als korrupt bezeichnet werden. Diese Ansicht ist aufgrund der spezifischen Blickrichtung der Juristen durchaus verständlich, sie wird aber vor allem von - im weitesten Sinne verstanden - sozialwissenschaftlich ausgerichteten Forschern als zu eng kritisiert, da ihrer Meinung nach nur relativ wenige Handlungen, die unter den Begriff Korruption subsumiert werden müssen, tatsächlich von Strafrechtsnormen erfasst werden. Daraus ergibt sich andererseits, dass viele dieser von ihnen als korrupt verstandenen Handlungen ohne strafrechtliche Folgen bleiben (müssen), eine Vorstellung, die sowohl Juristen als auch solchen Beobachtern, die Korruption unter vorwiegend moralischen Aspekten betrachten, offensichtlich Unbehagen bereitet, denn eine ausbleibende Strafverfolgung erscheint bei einer solchen Betrachtung zunächst einmal als ein unverständliches, ja unerhörtes Versäumnis durch die Legislative und / oder die Exekutive. Sie muss jedoch für eine Gesellschaft insgesamt nicht von Nachteil sein, da ein zu dichtes Netz fixierter Regelungen eine Reihe unerwünschter Nebenwirkungen produzieren kann, die mögliche Vorteile solcher Regeln u. U. mehr als kompensieren. So interpretieren ja durchaus einige Experten korrupte Handlungen vor allem als Notwehrmaßnahmen gegen solche staatlichen Normen, die die Kosten eines normalen Vollzugs sozialer, politischer oder ökonomischer Aktivitäten, aus welchen Gründen auch immer, unangemessen in die Höhe treiben, damit prohibitiv wirken und dadurch - u. U. sogar extrem - wohlfahrtsmindernd wirken. Solche Normendifferenzen sind vor allem dann zu erwarten, wenn in einem Subsystem der Gesellschaft, beispielsweise dem politischen System, Normen gelten bzw. durchgesetzt werden, die mit denen des militärischen, administrativen oder ökonomischen Subsystems nicht kompatibel sind und ein reibungsloses Funktionieren dieser Subsysteme verhindern. Obwohl alle diese Aussagen unzweifelhaft einen Teil der Wirklichkeit beschreiben, reichen sie zur Beschreibung der Normverletzung durch Korruption nicht aus. Voraussetzung für deren Analyse ist die Tatsache, dass eine der wichtigsten Errungenschaften der immer komplexer gewordenen menschlichen Gesellschaften die Entwicklung, Durchsetzung und Akzeptanz von Normen ist, deren Reichweite den engen Bereich der Familie oder des Klans überschreitet. Dabei wird der Begriff der Norm hier nicht im Sinne einer statistisch feststellbaren sehr großen Häufigkeit eines bestimmten Verhaltens von Gruppenmitgliedern verstanden, eines Begriffes also, der Normen als gewohnheitsmäßig entstandene Verhaltensregelmäßigkeiten definiert, die von einer relevanten Minderheit oder sogar einer Mehrheit faktisch ausgeübt werden. Hier ist von Normen die Rede, die als explizite und meistens auch kodifizierte Verhaltensvorschriften existieren, wie z.B. das gesatzte Recht, bei dem die entsprechenden Sanktionen für die Nichtbeachtung der Vorschrift ebenfalls normiert sind. Man kann hier einerseits unterscheiden zwischen Normen als soziale Bewertung von Verhalten und andererseits als verbindliche Forderung eines bestimmten Verhaltens (W. FUCHS u.a. (Hrsg.) (1978), 534). In einem Normenbegriff kann also entweder stärker die Seins- oder die Sollens-Komponente betont werden, abhängig davon, ob Verhaltenserwartungen im Sinne einer gewohnheitsmäßigen Erwartung geäußert werden (Seins- Komponente) oder im Sinne einer expliziten Forderung beziehungsweise Verhaltensvorschrift, gegen deren Verstoß Sanktionen angedroht werden (Sollens-Komponente). Der Prozess der Entwicklung dieser beiden Normenarten ist in den verschiedenen Kulturbereichen sehr unterschiedlich verlaufen und zwar sowohl hinsichtlich des Inhaltes einzelner Normen, als auch hinsichtlich der Formalisierung der Gesamtheit der Normen. Aus diesem Grunde ist es notwendig, einen Blick auf die verschiedenen theoretischen Konzeptionierungen von Normen und ihren jeweiligen Geltungsbereich zu werfen, um besser verstehen zu können, in welcher Weise durch korruptes Handeln Normen verletzt werden (können). In dieser Untersuchung kann dem Problem der Normenentstehung und ihrer Durchsetzung, das in der soziologischen Literatur insgesamt ziemlich stiefmütterlich behandelt wird, keine weitergehende Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil das zu weit in Problembereiche führen würde, deren Erörterung nicht viel zur Klärung der hier anstehenden Fragestellungen beitragen würde. In diesem Abschnitt (3.6) werden verschiedene Arten von Normen skizziert, die später für die Erklärung des Problems Korruption verwendet werden. Dabei werden solche Probleme wie die, ob Normen evolutionär entstehen oder von (mächtigen) Interessenten gesetzt werden, warum und wie sie sich durchsetzen bzw. akzeptiert werden, nur insofern behandelt, als sie für die aktuellen Fragestellungen relevant erscheinen. (4.6.2) FUNKTIONEN SOZIALER NORMEN: Soziale Normen gelten als wichtiger universaler Bestandteil aller Gesellschaften und werden vor allem deswegen als funktional unerläßlich betrachtet, weil der Mensch weitaus weniger durch seine biologische Ausstattung in seinem Verhalten determiniert ist als andere Lebewesen und Normen daher als Hilfsmittel zur Verhaltenssteuerung dienen. Sie sind funktional, weil sie Verhaltenserwartungen oder -einschränkungen konstituieren, dadurch die Orientierung der Individuen vereinfachen und so helfen, zwischenmenschliches Handeln zu koordinieren. Indem sie also die (soziale) Orientierung der Individuen erleichtern, helfen sie, die Komplexität von Situationen zu reduzieren und damit auch den Grad der Unsicherheit zu senken, denen Menschen aufgrund ihrer biologischen Undeterminiertheit in kognitiv und affektiv unklaren Situationen unterworfen sind. Abhängig von der theoretischen Position und entsprechend der oben skizzierten Mehrdeutigkeit des Begriffs existieren über Normen unterschiedliche Funktionsvorstellungen beispielsweise als sanktionsbekräftigte Verhaltenserwartungen oder als relativ spezifische Verhaltenserwartungen im Unterschied zu Werten als relativ generellen Verhaltenserwartungen (vgl. OPP (1983), 18), wobei OPP Sanktionen als von den jeweiligen Erwartungen getrennt ansieht, während für COLEMAN ((1990), 242 f) die Funktion sozialer Normen darin liegt, dem Akteur teilweise die Kontrolle über seine Handlungsmöglichkeiten zu entziehen und partiell anderen Akteuren zu übertragen. Nach dieser Vorstellung sind Sanktionen ein notwendiger Bestandteil von Normen. HECHTER ((1993), 3) stimmt damit überein, sieht seinerseits aber die Funktion von Normen darin, relativ allgemeine und dauerhafte und in der Regel externe Kriterien der Evaluation menschlichen Handelns bereitzustellen. Die wichtigste soziale Funktion von Normen kann also in der Nivellierung der individuellen Verhaltensvariationen und damit der Erhöhung der Vorhersagbarkeit des Verhaltens gesehen werden. Die Einigung auf eine Norm, worauf immer auch diese beruhen mag, wirkt als Restriktion, stellt dadurch sicher, dass sowohl das eigene als auch das Verhalten anderer Akteure normiert , also von individuellen Eingebungen unabhängig und deswegen vorhersagbar wird, wodurch die Verhaltenssicherheit der Akteure, die diese Norm akzeptieren, erhöht wird. Das bedeutet aber, dass ein Akteur in einer konkreten Situation nicht das ganze Spektrum möglicher Handlungsalternativen ausschöpfen kann, sondern dass er sich innerhalb eines bestimmten Verhaltenskorridors , der durch die Normen begrenzt wird, bewegen wird. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob diese Normen formalisiert und - auch - fixiert vorliegen, oder aber informeller Art sind. Gruppennormen sind in aller Regel informell und nicht fixiert, üben aber trotzdem eine u.U. sogar sehr starke, verhaltensprägende Wirkung auf die Mitglieder einer konkreten Gruppe aus. Normen senken also einmal die individuellen Entscheidungskosten und zeigen an, innerhalb welcher Bandbreite andere Individuen ein Verhalten erwarten dürfen bzw. - vielleicht sogar noch wichtiger - womit sie auf keinen Fall rechnen müssen. Weder der Akteur noch der Rezipient müssen lange eine Vielzahl von Alternativen bedenken, sondern halten sich einfach an die Normen. (Gruppen-)Normen haben aber nicht nur eine verhaltenssteuernde Wirkung, sondern beeinflussen auch den Denkhabitus, und zwar oft auch dann, wenn die Individuen es eigentlich besser wissen müssten. Selbst hochqualifizierten Experten fällt es schwer, in Gruppendiskussionen von der Mehrheitsmeinung abzuweichen, wenn sich erst einmal so etwas wie ein Wir-Gefühl entwickelt hat, d.h. wenn sich die Gruppe zu einer bestimmten Strategie verpflichtet hat (WEISE u.a. (2002), 462). Die Norm Zusammenhalt der Gruppe erhalten / sichern gewinnt in solchen Situationen oft ein so großes Übergewicht und wirkt damit so restriktiv auf die Möglichkeit des Denkens von Alternativen, dass diese - weitgehend - ungedacht bleiben. Das geschieht vor allem dann, wenn diese handlungsleitenden Normen einen so hohen Stellenwert im (Selbst)Verständnis aller Gruppenmitglieder innehaben, dass deren Verletzung mit relevanten Sanktionen belegt wird, eine Geisteshaltung die man üblicherweise èsprit de corps nennt. Je nachdem, wie stark eine Norm sanktionsbewehrt ist und je nachdem, wie stark sich ein Individuum der Gruppe zugehörig und verpflichtet fühlt, wird dieses Individuum versuchen, selbst kleine Normenabweichungen zu vermeiden, um innerhalb der. Gruppe als eine Person zu gelten, auf die man sich verlassen kann (vgl. WEISE u.a. (2002), 462 Punkt (7)). Normen gelten aber nicht nur für die eigene Gruppe, sondern haben auch externe Wirkungen - z.B. auf Mitglieder anderer Gruppen - und diese können so schwerwiegend sein, dass die Realisierung einer spezifischen Norm aus Kosten-Nutzen-Erwägungen heraus dann nicht angezeigt ist, wenn massive negative Reaktionen der Betroffenen erwartet werden müssen. Normen kann man also drei Funktionen für Individuen und Kollektive zuschreiben: (1.) Orientierungs- und Strukturierungsfunktionen (2.) Schutzfunktionen - vor ungewollten Handlungen von anderen. (3.) Sanktionsfunktionen. Die Wirkungen dieser Funktionen sind nicht auf alle Mitglieder eines Kollektivs gleich verteilt, wie aber oben schon angedeutet, haben Normen die Wirkung, tendenziell eine gewisse Gleichförmigkeit der Handlungen auch zwischen solchen Individuen herzustellen, die ohne diese Normen vollkommen verschiedene Verhaltensalternativen in Betracht ziehen und realisieren würden, d.h. die Menschen verhalten sich in typischen, wiederkehrenden Situationen gleichförmig (WEISE u.a. (2002), 470). COLEMAN hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass von der Einführung und der Geltung von Normen manche Individuen und Gruppen stärker profitieren als andere, d.h. dass Kosten und Nutzen der Geltung von Normen sozial ungleich verteilt sind. Allerdings schaffen sie für alle Ordnungssicherheit und senken dadurch die Informations-, Transaktions- und Entscheidungsfindungskosten der Gesellschaftsmitglieder, sie schützen die Autonomie und Menschenwürde der Individuen, sie realisieren bestimmte Verteilungsziele, und sie regulieren den Einsatz knapper Ressourcen zur Erreichung bestimmter gemeinsamer Ziele. Der Preis dieser sozialen Vorteile von Normen besteht dann darin, dass die Gesellschaftsmitglieder in ihren Wahlmöglichkeiten beschränkt werden und dass knappe Ressourcen zur Verwaltung und Durchsetzung der Normen eingesetzt werden müssen (WEISE u.a. (2002), 470). Da die Durchsetzung von Normen, egal ob fixiert oder nicht, sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die einzelnen Mitglieder realer Gesellschaften hat und daher die Kosten und der Nutzen sozial ungleich verteilt sind, ergibt sich das Problem der Sicherstellung der Normenbefolgung, die ihrerseits nicht ohne Einsatz von Ressourcen erfolgen kann. Dieser Ressourcenverbrauch kann u.U. so umfangreich werden, dass er die positiven Effekte einer Norm weitgehend egalisiert und in einer solchen Situation stehen nur wenige Alternativen zur Verfügung. Die erste und radikalste: die Norm abschaffen. Das geht nur selten so einfach, denn irgendein, wenn auch vielleicht nicht sehr überzeugender, Grund für die Etablierung der Norm muss ja vorgelegen haben und deswegen wird es zumindest auch eine Gruppe geben, die von der Einführung dieser Norm profitiert hat und sich deswegen gegen ihre Abschaffung zur Wehr setzen wird. Die zweite Möglichkeit: die Nichtbeachtung der Norm nicht zu sanktionieren. Das ist grundsätzlich möglich, hat aber die nicht sehr verlockende Konsequenz, dass auf die Dauer die Glaubwürdigkeit des gesamten Normensystems ruiniert wird, denn man muss bedenken, dass in einem solchen Fall sich nicht nur der Grad der Gültigkeit dieser einen Norm proportional zur Anzahl der Normverletzungen verringert, sondern dass damit generell die Verlässlichkeit und Ernsthaftigkeit der Durchsetzung von Normen in Zweifel gezogen wird. Die dritte Möglichkeit: Die Norm so verändern, dass sich die Kontroll- und Überwachungskosten in wirklich relevantem Ausmaß verringern. Gegen diese Alternative werden in der Realität ähnliche Gründe wie unter der ersten Alternative sprechen. Die vierte, letzte und nicht sehr angenehme Möglichkeit besteht in der Beibehaltung der Norm und der Subventionierung der Kontroll- und Überwachungskosten mit Ressourcen aus anderen Bereichen. Das war wohl die Strategie der sozialistischen Länder bis nichts mehr zur Subventionierung herangezogen werden konnte. Vor der Einführung einer Norm sollten also die Konsequenzen ihrer Durchsetzung genau bedacht werden und man sollte sich die Möglichkeit offenhalten, eine Norm dann wieder abzuschaffen, wenn sie nicht die erwarteten Ergebnisse produziert oder aber solche Konsequenzen hervorbringt, die man wirklich nicht haben wollte. Normen haben außer den genannten Funktionen noch eine, die im Zusammenhang mit der Entstehung von Korruption sehr wesentlich ist, nämlich eine Auswahl aus möglichen Teilnehmern an einer Aktion vorzunehmen, was man auch negativ als Abschreckungseffekt bezeichnen kann. Wenn z.B. die Norm für eine Ausschreibung für ein bestimmtes Bauprojekt postuliert, dass bestimmte kapazitative Vorleistungen erbracht werden (müssen), dann sind von vornherein eine ganze Reihe von Firmen von dieser Norm325 betroffen, was bedeutet, dass sie am Wettkampf um diesen speziellen (lukrativen) Auftrag nicht teilnehmen können. Einen anderen Aspekt betrachten WEISE u.a. ((2002), 470), wenn sie als das wichtigste Kriterium bei der Festlegung von Sanktionen den Abschreckungseffekt bezeichnen, weswegen vor allem bei Wiederholung derselben Tat das Strafmaß überproportional ansteigt. Das Problem der Angemessenheit von Sanktionen möchte ich in diesem Zusammenhang jedoch nicht diskutieren, da eine solche Diskussion in die Tiefen der Rechtsphilosophie führen würde, ohne dass man hoffen könnte, befriedigende Antworten auf die Fragen der angemessenen Sanktionierung korrupter Handlungen zu erhalten. Einen weiteren Aspekt bei der Betrachtung der Funktionen von Normen, der in der sozialwissenschaftlichen Literatur in der Regel nicht auftaucht, beleuchten WEISE u.a., nämlich dass Normen auch die Substitution von Gütern und Handlungen unterbinden können. Sie demonstrieren das an der Unterbindung des Handels mit menschlichen Nieren: dieses Verbot hindert die Armen daran, Gesundheit durch Geld zu substituieren, während Reiche daran gehindert werden, Geld durch Gesundheit zu substituieren. Gewisse Regeln zur Finanzierung unseres Gesundheitssystems sollen ja gerade die Verifizierung des alten Spruches verhindern: Weil Du arm bist, musst Du früher sterben (vgl. WEISE u.a. (2002), 476 ff). Dieses Substitutionsverbot vieler Normen gilt natürlich in ganz hervorgehobenem Maße für den ganzen Bereich des Kontaktes zwischen Öffentlichkeit und Staatsbürokratie. Es ist bei diesen Kontakten eindeutig verboten, beispielsweise eine Baugenehmigung oder eine Aufenthaltsgenehmigung durch Geld zu substituieren. Das Verbot der Substitutionsmöglichkeiten ist der Preis, den die Gesellschaftsmitglieder dafür zahlen müssen, dass sie die Vorteile von Normen genießen können. Es ist dann für jeweils spezifische Normen zu prüfen, ob der Preis, den die Gesellschaftsmitglieder durch den erzwungenen Verzicht auf bestimmte Handlungen zahlen müssen, durch die Vorteile, die sie aus der Existenz der Norm ziehen können, überkompensiert wird (WEISE u.a. (2002), 479). Als Vorteile von Normen auf der Ebene der Gesellschaft kann man nennen: 1. Dadurch, dass den Mitgliedern angezeigt wird, welches Verhalten von ihnen erwartet wird und welches sie erwarten können (vgl. oben), werden Entscheidungs-, Informations- und Transaktionskosten stark reduziert oder ganz eingespart. 2. Das Verbot bestimmter Handlungen, auch der genannten Substitution, senkt die Kosten für die Verhinderung von Sach- und Personenschäden und für die Bereitstellung entsprechender Sicherheitsvorkehrungen. Daneben erhöht die Geltung solcher Normen auch das individuelle Sicherheitsgefühl, was kaum zu überschätzende positive Auswirkungen auf die individuelle psychische Stabilität hat. 3. Bestimmte Normen, z.B. solche, die die Property Rights verdünnen, steigern in aller Regel den sozialen Frieden, so dass selbst die Individuen, deren Property Rights verdünnt wurden, an dem allgemeinen Nutzen eines größeren sozialen Friedens partizipieren können, was bedeutet, dass die allgemeine Wohlfahrt durch derartige Normen erhöht wird. 4. Normen dienen auch der unmittelbaren Allokation knapper Ressourcen. Der mögliche Vorteil besteht dann darin, dass Güter bereitgestellt werden, die ohne die Norm nicht oder in ungenügendem Umfang bereitgestellt worden wären (Beispiele: Umwelt-, Sicherheits- und Hygienestandards) (WEISE u.a. (2002), 480). Die Realisierung solcher Normen wird vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern durch korrupte Handlungen sehr häufig in Frage gestellt oder ganz verhindert. Hier soll jedoch noch kurz ein anderes Problem erwähnt werden, das vor allem bei der Betrachtung der Schwierigkeiten sog. Transformationsgesellschaften, aber auch anderer Staaten, die versuchen, die Marktwirtschaft einzuführen, manchmal zu Missverständnissen führt. Marktwirtschaften sind zwar weitgehend selbstregulierende Mechanismen , was ja schon ADAM SMITHs Metapher der invisible hand so schön illustrierte, aber diese sind dennoch weit davon entfernt, für diesen Mechanismus keine Normen zu benötigen. Gegenwärtig wird in der Diskussion über den Kapitalismus, vor allem von denen, die ihn ablehnen, dieser nicht als rationaler Kapitalismus mit geltenden Normen für das Funktionieren von Märkten, sondern als Raubkapitalismus verstanden. Deshalb ist auch die Behauptung, die Einführung der Marktwirtschaft müsse zwangsläufig zur Korruption führen müsse, weil sie ja die formgewordene Anarchie sei, ein Trugschluss, der auf einem falschen Verständnis des modernen Kapitalismus beruht.

Über den Autor

Hartmut Schweitzer wurde 1940 in Hamburg geboren. Er studierte Soziologie, Ethnologie, Politologie, Agrarwissenschaften/Entwicklungspolitik und Psychologie in Kiel und Heidelberg und promovierte 1968 in Soziologie. Nach längerer Tätigkeit in der Marktforschung ab Mitte 1969 wurde er im Frühjahr 1974 Leiter des Planungsstabs des Rektorats der Ruhr-Universität-Bochum. Zum Sommersemester 1974 wechselte er als Dozent für Soziologie an die Pädagogische Hochschule Rheinland in die Abteilung Bonn. Ab 1982 übernahm er den Soziologieunterricht im Seminar für Orientalische Sprachen an der Philosophischen Fakultät an der Universität Bonn. Deswegen reiste er häufig nach China und Ostasien und hatte längere Aufenthalte in Hongkong. An der Universität Marburg habilitierte er mit einer empirischen Arbeit. Seit 1998 ist er Leiter der Abteilung Soziologie im Seminar für Orientalische Sprachen und seit 2008 Mitglied im Institut für Korruptionsprävention (IfKp e.V.) (www.korruptionspraevention.eu.).

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