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Geschichte

Michael Schulz

Der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch

Entwicklung vom neusachlichen Flaneur zum politisch agitierenden Berichterstatter

ISBN: 978-3-8366-8017-2

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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 08.2009
AuflagenNr.: 1
Seiten: 88
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Egon Erwin Kisch (1885 - 1948) gilt in Deutschland nicht nur als der wichtigste Vertreter der sozialen Reportage, sondern auch als deren Begründer. Aber ausgerechnet sein bekanntestes Werk Der rasende Reporter kann kaum als gesellschaftskritisch bezeichnet werden. Mit diesem Band bediente Kisch ein bürgerliches Publikum, das er hauptsächlich nur unterhalten wollte. Die Ansätze einer Kritik waren zwar vorhanden, blieben allerdings undeutlich und in ihrer Wirkungsabsicht beliebig. Erst mit seinen späteren Werken schaffte es der gebürtige Prager, die Form der Reportage in den Dienst einer wirkungsvollen Kritik zu stellen. Die Weiterentwicklung seiner Reportage und die verschiedenen Phasen, die Kisch als Autor dabei durchlief, sind Gegenstand dieses Buches. Es wird die These vertreten, dass Kischs Schaffen als Buchautor einer deutlichen Wandlung unterlag. Daher wird der Versuch unternommen, sein Werk in drei verschiedene Phasen einzuteilen, wobei jede einzelne stellvertretend für eine neue Stufe auf dem Weg zu einer möglichst wirkungsvollen sozialkritischen Reportageform steht. Erste Phase: Der tendenzlose Reporter, der sich dem Postulat der Objektivität verschrieben hat, im Einfluss der Neuen Sachlichkeit steht und dessen Kritik an den herrschenden Zuständen noch unklar und willkürlich ist (etwa der Zeitraum 1918 - 1924). Zweite Phase: Ein in seinen großen Reisebüchern der späten 1920er Jahre zur operativen Agitation im marxistischen Sinne tendierender Autor, der von den Belangen des Proletariats umtrieben ist (1926 - 1930). Dritte Phase: Der historisch-materialistisch argumentierende Berichterstatter, der vollends die Arbeiterklasse in den Mittelpunkt seiner Texte stellt (ab 1932). Um diese Einteilung und die sich daraus ableitende Entwicklung als schlüssig beweisen zu können, werden die thematischen Zusammenstellungen der einzelnen Reportagebände sowie die jeweils gebrauchten kompositorischen Techniken und stilistischen Mittel untersucht, stets im Vergleich mit Kischs eigenen sozialen und künstlerischen Ansprüchen an die Form der Reportage und ihren Erzeuger, dem Berichterstatter, die er selbst in vielen theoretischen Schriften formulierte.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 3.2.2, Stahlwerk in Bochum, vom Hochofen aus gesehen : Wurden die Maschinen und ihre Technik in Bei den Heizern des Riesendampfers noch in Verbindung mit einer sinistren Metaphorik beschrieben, wirkt der Wandel in Kischs Gesinnung in Bezug auf das Bochumer Stahlwerk befremdlich. Anstelle einer Dämonisierung tritt eine mitunter berauschende, ans Lyrische erinnernde Darstellung der Stahlproduktion. Der Fabrikkomplex wird als Landschaft geschildert, die uns bewußte Laien tagsüber bewegt und begeistert hat. Das Stahlwerk sei ein Ort zauberischer Vorgänge und viele[r] Wund[er] es ist die Rede von neugeboren[em] Stahl und der Hochofen wird dem lodernden Vesuv gleichgesetzt. Nach einer sehr akribischen Schilderung der Stahlproduktion, geht Kisch auch in dieser Reportage auf die Situation der Arbeiter vor Ort ein. Die Kerls bleiben jedoch erneut anonym und wieder erfährt man nur wenig von ihnen. Zu den Arbeitsbedingungen heißt es: Wird nicht auch die Lunge der Arbeiter hier mit diesem eisernen Konfetti überschüttet? Ist er unempfindlich gegen den Schwefeldampf, den uns eben ein Windstoß in die Nase geblasen hat, daß wir tränen und husten müssen?! Ist das Gichtgas für ihn kein Gift? Stört es ihn nicht, wenn er aus dieser tödlichen Hitze unmittelbar ins Freie muß [...] [Sie arbeiten] [v]om vierzehnten Lebensjahre an bis zum Tode, der vielleicht schon kommt, während sich andere noch mit dem Studium ‚abplagen’. Diese emotional bewegende Darstellung schwächt Kisch kurz darauf ab. Denn nicht nur der Arbeiter ist in dieser Fabrik einer Agonie ausgesetzt, sondern auch der Stahl! Der Reporter spricht von den Leidensstationen des Stahls und zeigt Mitleid: Armer, gequälter Stahl. Ob Kisch diese Stelle ironisch oder zynisch gemeint hat, ist für den Leser nicht eindeutig nachzuvollziehen. Ähnlich verhält es sich mit dem Aufschrei des Reporters: Habt ihr nicht Angst, ihr Herren der Fabrik, daß diese aufgeregte, kochende Masse doch einmal ihren Kerker sprengt? Die Metapher könnte auf einen aufkochenden Unmut der Arbeiter anspielen, aber auch auf nichts anderes als das flüssige Stahl referieren. Die Unsicherheit des Rezipienten ergibt sich aus Kischs unverhältnismäßiger emphatischer Beschreibung des Stahlwerks, der er viel Platz einräumt, und der Darstellung des Schicksals der Arbeiter, für das sich der Reporter kaum zu interessieren scheint. Passagen, die von Kisch mitunter als kritisch gedacht sind, erkennt der Leser nicht zweifelsfrei. Somit ist die Intention einer kritisierenden Reportage, deren Kritik jedoch nicht klar zum Ausdruck gebracht wird, fraglich. Noch ein weiteres Mal kommt Kisch auf die Arbeitssituation im Stahlwerk zu sprechen. Der Reporter wird offenbar Zeuge eines glimpflich ausgehenden Unfalls. Als dessen Ursache erkennt er ungenügende Sicherheitsvorkehrungen aufgrund der Sparwut der Betreiber: Wir sind ein paar Schritte weitergegangen, als uns ein sogar in diesem steten Lärm hörbares, ungeheures Krachen innehalten läßt: Die Kette ist gerissen, die Welle herabgestürzt und eine Kurbel abgebrochen. Zum Glück hing sie noch nicht hoch, und niemand stand darunter. Einige Arbeiter sammeln sich aufgeregt, untersuchen den Kran und murren, daß noch immer keine Taue statt der Ketten eingeführt worden sind. ‚Tausend Mark Schaden’, brummt der Betriebsleiter. Doch auch hier scheint dem Berichterstatter seine Beobachtung nicht weiter zu beschäftigen. Vielmehr heißt es gleich im nächsten Satz: Aber selbst die Erschütterungen solcher Zwischenfälle sind in ihrer Intensität nichts gegen den Eindruck zauberischer Vorgänge [sic!], deren staunender Zeuge man ist. Kisch vergisst den arbeitenden Menschen, so überwältigt ist er vom technischen Prozess, den er mit eigenen Augen sieht. Der Berichterstatter gibt sich als unverbindlicher Flaneur, der für den Leser das Stahlwerk entdeckt. Somit verstößt Kisch selbst gegen sein antifeuilletonistisches Manifest von 1918 ( Wesen des Reporters ), da ihn gesellschaftliche Zusammenhänge und soziale Kritik nur am Rande interessieren.

Über den Autor

Michael Schulz studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte an der Technischen Universität in Berlin. Abschluss 2008 als Magister Artium (M.A.). Derzeit tätig als Volontär in der Redaktion einer Tageszeitung.

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