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Geisteswissenschaften

Sven Soltau

"Vor Sonnenaufgang": Analyse eines Theaterskandals

ISBN: 978-3-95684-193-4

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Produktart: Buch
Verlag: Bachelor + Master Publishing
Erscheinungsdatum: 02.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 28
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Der gut strukturierte Text befasst sich mit den zentralen inhaltlichen Themen des Naturalismus (Milieu, Determinismus, Alkoholismus, Vererbungslehre und Sozialkritik) und setzt diese in Bezug zum Drama. In einem zweiten Schritt beschäftigt sich die Studie mit darstellungstechnischen Dimension des Stücks Vor Sonnenaufgang und der theoretischen Ausrichtung des Naturalismus in dieser Hinsicht. Der vorliegende Text bietet einen guten Ausgangspunkt für eine Gesamtinterpretation von Vor Sonnenaufgang.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 3.2, Die Sprache: Die Sprache der Figuren in ‘Vor Sonnenaufgang’ ist für den Leser nicht selten schwer verständlich. Der Zuhörer im Theater muss sich wohl gar damit abfinden ganze Passagen nicht zu verstehen. Was den zeitgenössischen Naturalismus-Kritikern unweigerlich als ‘,Tierlautkomödie‘‘ vorkommen musste, war nichts anders als die konsequente Verfolgung des naturalistischen Mimesis-Prinzip, auch und gerade in der Darstellung sprachlicher Äußerungen. Die Sprache in ‘Vor Sonnenaufgang’ ist zunächst am auffälligsten vom schlesischen Dialekt geprägt, wie ihn beispielsweise der Landarbeiter Beibst spricht: Wissa Se: wenn Se und Se wulln da nausgiehn auf a Barch zu, wissa Se, zängst nunder links, rechts gibt’s Risse. Mei Suhn meente, ’s käm’ dadervoone, meent’ a, de Barchmoanne, ’s soatzt zu wing Luhn, meent’ a, und da gieht’s ock asu: woas hust de, woas koanst de, ei a Gruba verstiehn Se. Doch der Dialekt ist nicht nur ‘sprachgeographisch’ interpretierbar, sondern er ist auch Hinweis auf die Schichtzugehörigkeit des Sprechers, so ist er gleichzeitig Soziolekt. In ‘Vor Sonnenaufgang’ ist die Sprache folglich vom Milieu abhängig. Während die Akademiker Loth und Hoffmann und die von Herrenhuter Nonnen erzogene Helene sich der Standardsprache bedienen, sprechen die dem bäurischen Milieu um die Familie Krause zugehörigen Sprecher alle den schlesischen Dialekt. Ein Aspekt des Soziolekts ist natürlich auch der im Vergleich zu Beibst weitaus differenziertere Sprachgebrauch des Journalisten und Wissenschaftlers Loth. Doch die Reproduktion von Dialekt/Soziolekt alleine bringt noch nicht jene ‘phonographische’ Exaktheit, durch die sich die Sprache von Hauptmanns Erstlingsdrama auszeichnet. Natürliches Sprechen ist eben oft grammatikalisch nicht korrekt, es ist nicht geradlinig, es stockt oder setzt sogar ganz aus. Der von Arno Holz entwickelte Sekundenstil gibt die Möglichkeit, die wirkliche Sprache sozusagen eins zu eins in die literarische Sprache umzusetzen. ‘Diese Technik mit der ‚Sekunde für Sekunde Zeit und Raum’ geschildert werden’ wird vor allem zur Beschreibung von Prosa verwendet, in der erzählte Zeit und Erzählzeit sich (nahezu) decken. Es spricht aber nichts dagegen, den Terminus auch zu verwenden, wenn natürliche Sprache in einem Drama in ihrer ganzen Eigenart und zeitlichen Dauer wiedergeben wird. So wie es bei ‘Vor Sonnenaufgang’ der Fall ist. Ein Beispiel für die Exaktheit des Hauptmann’schen Sekundenstils in der Sprachdarstellung gibt folgende Äußerung von Wilhelm Kahl zu seinen Trinkgewohnheiten: ‘Iiii .. i .. ich habe n .. n.. neulich ene Flasche Rrr .. r .. rü .. rüd .. desheimer, ene Flasche Sssssekt get .. t .. trunken. Obendrauf d .. d .. d .. dann n .. noch eine Flasche B .. b .. bordeuaux, aber besuffen woar ich noch nich’. Insgesamt sind die Dialoge geprägt von ‘Pünktchen, Gedankenstrichen und Ausrufezeichen’, was allgemein als ‘naturalistische Fragmentation der Sprache’ bezeichnet wird. Außerdem sind Wörter, welche die Darsteller besonders zu betonen haben, unterstrichen. Der Sekundenstil ermöglicht auch die Wiedergabe dessen, was Mahal als ‘Psycholekt’ bezeichnet. Der Terminus ‘zielt […] begrifflich auf die situationsbedingte Realisierung jeweiliger Sprachkompetenz’ . Sprache sagt eben auch vieles über den momentanen psychisch-emotionalen Zustand des Sprechers aus. So ist es ganz folgerichtig, dass auch die Figuren in ‘Vor Sonnenaufgang’ in verschiedenen Situationen ganz verschieden sprechen. Wenn Hoffmann Helene sinnlich erregt bittet, mit ihm gemeinsame Sache zu machen, dann artikuliert er sich ganz anders, als wenn er kalt und brutal mit Loth abrechnet. Die natürliche Sprache ein und desselben Sprechers variiert in Ton, logischem Gehalt, Präzision und Tempo von Situation zu Situation. Die genaue Wiedergabe von Dialekt, Soziolekt und Psycholekt wurde vom zeitgenössischen Publikum, das an ein Theater im ‘gehobene[m] Ton gewöhnt war’, negativ aufgenommen. Man bezeichnete diese ‘neue[n] und besonders charakteristische[n] Ausdrucksmittel’ als ‘‚Sprache der Gosse’ und ‚Bordelldiktion’’. 3.3, Sprachversagen – Mimik und Gestik: Das Drama ist gerade jene literarische Form, die sich durch Rede und Gegenrede auszeichnet und derart Geschehen vermittelt. Für Sprachlosigkeit ist daher im klassischen Drama kein Platz. Trotzdem ist es ganz natürlich, dass Menschen in emotional aufgeladenen Situationen nicht wissen, was sie sagen sollen, oder nicht sprechen können. Diese Tatsache muss der naturalistische Autor beachten. Gerhard Hauptmann hatte sprachliche Vereinsamung und Sprachversagen schon in seiner Novelle ‘Bahnwärter Thiel’ beschrieben, in ‘Vor Sonnenaufgang’ spielt dieser Komplex auch eine wichtige Rolle. Der Selbstmord Helenes in der letzten Szene wird über drei Seiten hinweg fast wie in einem Roman geschildert und nicht durch Mono- oder Dialog vermittelt. Die Figurensprache scheint nicht das geeignete Mittel zu sein, das Entsetzen und die Verzweifelung Helenes, die sich – von Loth plötzlich verlassen – der Aussichtslosigkeit ihrer Lage bewusst wird, darzustellen. Folglich werden Gestik und Mimik der Protagonisten eingehend beschrieben. Sie ‘durchfliegt’ Loths Abschiedsbrief, lässt ihn ‘wankend’ zu Boden fallen und erfährt ‘immer noch suchend, wie eine halb Irsinnige’ von Loths Abfahrt. ‘Im nächsten [Moment] durchfährt sie eine verzweifelte Energie’, sie nimmt den Hirschfänger und begeht, in einem dem Publikum nicht einsichtigen Raum, Selbstmord. Die Magd entdeckt die Tote und ‘stürzt mit den Zeichen eines wahnsinnigen Schrecks’ von der Bühne.

Über den Autor

Sven Soltau hat an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Deutsch und Politikwissenschaft für das Lehramt an Gymnasien studiert. Er unterrichtet heute an einer berufsbildenden Schule.

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