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Geschichte

Martin Mühlenberg

Das Machtpotenzial der russischen Provisorischen Regierung nach der Februarrevolution

ISBN: 978-3-95850-760-9

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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 01.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 120
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

In der osteuropäischen Geschichtswissenschaft gilt bei der machtpolitischen Rollenverteilung zwischen Sowjet und Provisorischer Regierung seit jeher der Allgemeinplatz ‘Macht ohne Verantwortung, Verantwortung ohne Macht’. Der übermächtig erscheinende Sowjet mit seiner Massenbasis schien im Hintergrund die Fäden zu ziehen und der Provisorischen Regierung alle Entscheidungen diktieren zu können. War dies wirklich so einfach? Der Autor wirft die Frage auf, ob nicht vielmehr die Provisorische Regierung dem Sowjet, der eine offene Machtübernahme durch den Druck der Massen fürchtete, mit dem Verzicht auf die Macht drohen konnte. Ausgehend von diesen Überlegungen untersucht der Autor die Machtbeziehungen zwischen Provisorischer Regierung und Sowjet, sowie weiteren institutionellen und sozialen Gruppen. Im Verlauf der Untersuchung wird deutlich, dass zwischen Provisorischer Regierung und Sowjet ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis bestand und dass es der Provisorischen Regierung z.T. sogar gelang, eine unabhängige Politik zu gestalten.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 4, Beziehungen zwischen Regierung und Sowjet(s): ‘Einen Anspruch auf legitime Geltung muss hingegen nur eine institutionelle Ordnung begründen können, an deren Stelle auch eine Alternative denkbar ist.’ Die spontane und schnelle Bildung von Sowjets während der Februarrevolution führte eindringlich vor Augen, wie sehr das Rätesystem noch in den Köpfen der Arbeiter präsent war. Das Sowjetsystem verdankte seine Popularität seiner Rolle während der ersten russischen Revolution 1905. So verwundert es nicht, am Morgen des 28. Februar einen sehr selbstbewussten Aufruf des Sowjets in der ersten Ausgabe der Izvestija zu lesen, in welchem angekündigt wurde, das Volk für den endgültigen Sieg der Revolution zu organisieren und für die Konstituierenden Versammlung kämpfen zu wollen. Doch kaum jemand nahm wahr, dass hier ein vom Typus anderer Sowjet als 1905 heranwuchs. Durch die elitäre Rolle des Exekutivkomitees (ispolkom), deren Mitglieder keinen imperativen Mandaten unterworfen waren, wuchs dieser Sowjet im Prinzip zwar auch organisch ‘von unten’, doch wuchs er nicht bis ganz ‘nach oben’. Die Plätze im ispolkom waren größtenteils sozialdemokratischen Autoritäten und Märtyrern der Arbeiterbewegung, wie z. B. dem nach der Revolution aus der Verbannung heimgekehrten Cereteli, vorbehalten, ohne dass diese gewählt worden waren. Dies führte dazu, dass fast jeder im ispolkom ein Parteibuch führte und das Exekutivkomitee eher einer ‘parlamentarischen Repräsentativverfassung’ sozialdemokratischer Strömungen als dem Zentrum einer Räteorganisation glich. Am Abend des 1. März verständigten sich Duma- und Exekutivkomitee auf ein Minimalprogramm, welches größtenteils den Forderungen des Progressiven Blocks entsprach und neben der Amnestie für alle religiös und politisch Verfolgten die Durchsetzung voller Bürgerrechte und des Streikrechts, die Ersetzung der Polizei durch eine Volksmiliz und die sofortige Vorbereitung zu einer Konstituierenden Versammlung vorsahen. Die Punkte zur sofortigen Einführung der Republik und zur Selbstbestimmung der Armee auf Grundlage der freien Wahl der Kommandeure wurden von den Dumavertretern abgelehnt. Nachdem beide Seiten sich darüber verständigt hatten, rief der Sowjet in der Izvestija-Ausgabe des 2. März zur Unterstützung der Provisorischen Regierung auf, ‘postol'ku, poskol'ku ono idet po linii osušcestvlenija namecennych zadac.’ Diese Unterstützung mit Vorbehalt musste auch für den Sowjet Gefahren in sich bergen. Sollte es einmal nötig werden, einen offenen Machtkampf mit der Regierung zu führen und sollte dieser gewonnen werden, wird sich daran zwangsläufig die Frage anschließen, warum der Sowjet nicht gleich selbst die Regierung übernehme. Sollte ein Machtkampf ausbleiben, stellte sich zumindest die Frage der Existenzberechtigung eines Sowjets, der eine Regierung kontrolliert, an der es anscheinend nichts zu kontrollieren gibt. Solange der Sowjet also nicht bereit sein wird, die Regierung offiziell zu übernehmen, wird er stets zwischen offiziellen Stärke- und Drohgebärden, um die eigene Existenzberechtigung zu unterstreichen, und zwischen gemäßigterem Handeln gegenüber der Regierung, um diese nicht womöglich zu verdrängen, lavieren müssen. Als bezeichnend für diese These darf wohl die Resolution der Menschewiki und Sozialrevolutionäre auf dem Vserossijskij s-ezd Sovetov rabocich i soldatskich deputatov vom 8. Juni, also über einen Monat nach Beginn der Koalitionsregierung, gelten. Die Regierung, die z. T. aus Sowjetvertretern bestand, wurde aufgefordert, entschiedene Maßnahmen zur weiteren Demokratisierung und zur Stärkung der Kampffähigkeit der Armee zu ergreifen sowie energisch gegen den wirtschaftlichen und finanziellen Verfall vorzugehen und eine schnellere Einberufung der Konstituierenden Versammlung zu erreichen, ohne dass das ‘Wie’ Erwähnung fand. Je länger es der Regierung allerdings gelingen würde, Regierung zu sein, desto mehr institutionalisiert sie sich und erhöht damit ihre ‘Durchsetzungschance in der Zukunft’, weil Verrechtlichung und Prozedualisierung von Machterwerb und -ausübung die transitiven Machtverhältnisse stabilisieren und Macht mit der Zeit als institutionalisiert und damit als von Personen unabhängig betrachtet wird. Das Verhältnis zwischen beiden Institutionen lässt sich in vielen Bereichen als durchaus konstruktiv auffassen. In die Hände des Sowjets waren Anfang März in Orenbaum große Mengen an Gold und Silber gefallen. Es wurde beschlossen, diese der Regierung auszuhändigen, nur um in der Kontaktkommission wenige Tage später offiziell um zehn Mio. Rubel zum Unterhalt des Sowjets zu bitten. Diese Bitte wurde aus prinzipiellen Gründen abgelehnt, die sogar noch während des Koalitionskabinetts galten: Am 17. Mai wurde gegenüber den Regierungskommissaren in der Provinz noch einmal das Verbot bekräftigt, Organisationen, die vor Ort keine offizielle Regierungfunktionen (funkcii pravitel'stvennoj vlasti na mestach) ausüben, mit staatlichen Geldern zu unterstützen. Der Regierung wurde in den ersten Tagen seitens des Militärs mehrmals der Vorschlag gemacht, den Sowjet zu beseitigen, doch konnte sie ‘dieses Angebot nicht annehmen, ohne sich der Anklage auszusetzen, eine Gegenrevolution zu planen.’ In einigen Bereichen zog der Sowjet auch exekutive Aufgaben an sich. Anfang März löste er große Aufregung damit aus, bestimmte Zeitungen, die angeblich auf der Linie der Schwarzhunderter lagen, zu verbieten. Das Novoe Vremja wurde bis auf Weiteres verboten, weil sie sich vor Wiedererscheinen keine Genehmigung des ispolkom eingeholt hatte. Die öffentliche Empörung über die faktische Wiedereinführung der Zensur hielt bis zum Zurückrudern des Sowjets am 10. März an. 4.1, Die Bolschewiki: ‘In der ganzen Welt haben sich die Sozialisten gespalten. Die einen sind Minister, die anderen sitzen in den Gefängnissen.’ Der Beginn des bolschewistischen Sonderweges kann exakt auf den 3. April 1917 datiert werden. An diesem Tag fuhr Vladimir Il'ic Ul'janov, genannt Lenin, im Finnischen Bahnhof in Petrograd ein. Noch im Bahnhof bewies er, dass er die russischen Umwälzungen keineswegs als eine Art bürgerliche Revolution auffasste: Er begrüßte die Massen als ‘Avantgarde der proletarischen Armee der ganzen Welt’ und beglückwünschte sie zur begonnenen Weltrevolution. Lenin konnte sich nur mit äußerster Mühe und mit der Drohung des Parteiaustritts gegen die eigene Partei durchsetzen, die sich bis dato im sozialdemokratischen Mainstream befand und sogar eine Wiedervereinigung mit den Menschewiki nicht ausschloss. Seinen Blickwinkel auf die Revolution fasste er in seinen sog. Aprilthesen zusammen, die im Grunde auf die Forderung hinausliefen, innerhalb weniger Monate die Revolution über ihr bürgerlich-demokratisches Stadium hinauszutreiben. Um in ein neues Stadium der Revolution einzutreten, schien es unerlässlich, der Regierung sowie dem immer noch imperialistischen Krieg prinzipiell jedwede Unterstützung zu entsagen und die Übergabe der Macht an die Sowjets zu fordern. So könne dann das bolschewistische Parteiprogramm, welches v. a. die Verstaatlichung des Bodens, die Schaffung einer National- und Zerschlagung aller anderen Banken und die Kontrolle über die volkswirtschaftliche Produktion vorsah, umgesetzt werden. Lenin sah die seiner Meinung nach große Gefahr, dass sich das Proletariat in einer ‘trade-unionistischen Spontaneität’ verliert und sich somit erfolgreichen Lohnkämpfen auf Kosten abstrakter, langfristiger Ziele zufrieden gibt, da sich das junge russische Proletariat noch nicht von einer Klasse ‘an sich [zu einer, M. M.] Klasse für sich’ entwickelt habe. Um die Revolution weiter treiben zu können, grenzten sich die Bolschewiki nun von den ‘Versöhnlern’, welche (noch) nicht über das bürgerlich-demokratische Stadium der Revolution hinaus wollten, klar ab und erhoben Lenins Aprilthesen zu einer Art unverhandelbarem ‘Ismus’, der mit seiner Forderung ‘Alle Macht den Sowjets!’ gerade das verlangte, wovor sich Menschewiki und Sozialrevolutionäre am meisten fürchteten. Die Bolschewiki stellten also links von der Regierung, abgesehen von noch kleineren Splittergruppen wie den Menschewiki-Internationalisten, die einzige programmatische Alternative zur Regierung und den ‘herrschenden’ sozialdemokratischen Parteien. Im Betrachtungszeitraum kam es zu zwei Aktionen, in denen einige Historiker, v. a. PIPES, bereits bolschewistische Umsturzversuche sahen: Die Junidemonstration und die Juliunruhen. Die Junidemonstration war eine Reaktion des Sowjets auf den Versuch der Bolschewiki, für den 10. Juni eine bewaffnete Demonstration abzuhalten, die bis zum letzten Augenblick geheim geblieben war. Diese Demonstration konnte nur durch das beherzte Eingreifen vieler Sowjetvertreter verhindert werden, die bis in den Morgen des 10. Juni hinein in Fabriken und Kasernen dagegen agitierten. Der Umstand, dass der damalige Kriegsminister Kerenskij noch am 9. Juni 40.000 Kosaken den Marschbefehl auf Petrograd erteilte, bleibt in der Forschung völlig unerwähnt. Inwieweit dieser Befehl beim Absagen der Demonstration eine Rolle spielte, muss offen bleiben, da dem Autor nicht bekannt ist, ob die Bolschewiki von diesem Befehl wussten. Die Izvestija werteten diese Vorgänge sogar als ‘bolee trevožnye, cem pamjatnye dni 20-21 aprelja.’ In Reaktion auf diese bolschewistische Aktion kündigte der Sowjet eine Demonstration aller gesellschaftlichen Kräfte für den 18. Juni an, wobei die Bolschewiki vorher erklärten, unter ihren eigenen Losungen marschieren zu wollen. Die Demonstration selbst entwickelte sich für Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich seit über einem Monat auch in Regierungsverantwortung befanden, zu einem Debakel. Die Izvestija listeten am 20. Juni minutiös fast den gesamten Demonstrationszug mit allen Transparenten, unter denen ganz klar die Parolen ‘Doloj 10 ministrov-kapitalistov!’ und ‘Vsja vlast' sovetam!’ dominierten, auf. Hierüber wurde lediglich kurz bemerkt, dass, nur weil die bolschewistischen Losungen zu dominieren schienen, dies nicht heiße, dass die Mehrheit auch so denke. Diese vom Sowjet angesetzte Demonstration erhöhte den Druck auf die Spitzen der Rätedemokratie ungemein, da sie die grundlegenden Forderungen ihrer eigenen Basis, für die die Bildung des Koalitionskabinetts nur den ersten Schritt zur Verdrängung der kapitalistischen Minister darstellte, zu ignorieren schienen. So sehr die Juniereignisse v. a. als Niederlage der gemäßigten sozialdemokratischen Kräfte in Sowjet und Regierung zu betrachten sind, so sehr sind die Juliunruhen vom 3. bis 5. Juli als Bankrotterklärung der gesamten gemäßigten Demokratie zu werten. Der Verlauf der Juliunruhen muss für den Zweck dieser Studie nicht näher ausgeführt werden. Auslöser war die geplante Verlegung des 1. Maschinengewehrregiments an die Front in Konsequenz der erwarteten deutschen Gegenoffensive Anfang Juli. Zwar wurde den revolutionären Einheiten am 1. März garantiert, diese als Hüter der Revolution nicht aus Petrograd abzuziehen, doch war dies keineswegs die erste Einheit, die zur Verstärkung der Front abgezogen werden sollte, wie FIGES fälschlich behauptet. Der Marschbefehl für das Regiment, welches sofort in den umliegenden Kasernen und Fabriken nach Verbündeten suchte, führte zu einer regelrechten stichija der Soldaten, Matrosen und Arbeiter, die Regierung und Sowjetvertreter hinwegzufegen drohte. Gerettet wurden Regierung und gemäßigte Sozialisten durch das Streuen von Informationen über Lenins Kontakte zu Deutschland, was einen starken Eindruck auf die Massen machte, und das Eintreffen loyaler Truppen von der Front, die dort mitten im deutschen Angriff fehlten. Entscheidend für diese Untersuchung ist das offensichtliche Ermangeln jedweden Repressionsapparates in der Hauptstadt. Den Bolschewiki gelang es zumindest, und dies auch im Juni, bezogen auf den Sowjet, ‘eine friedliche Erkundung der feindlichen Kräfte vor[zu]nehmen’ und allein dadurch die Macht der politischen Gegner zu erodieren. Diese Taktik, die PIPES in Anlehnung an Napoleons taktische Kriegsführung als tiraillerie bezeichnet, zwang sowohl Sowjet als auch Regierung ‘zur Visualisierung zunächst invisibler Machtressourcen, insbesondere solcher, die durch Visualisierung ihre Bedeutung verlieren. Der Machthaber, der alle Macht zu zeigen gezwungen worden ist, ist nur noch Gewaltanwender. Seine Invisibilitätsreserve ist aufgebraucht er ist bloßgestellt, und Bloßstellung ist in diesem Fall gleichbedeutend mit Machtverlust.’

Über den Autor

Martin Mühlenberg wurde 1987 in Cottbus geboren. Von 2007 bis 2014 studierte er Geschichte und Russisch auf Lehramt Gymnasium an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (Abschlussnote 1,1). Von Februar bis September 2011 arbeitete er im St. Petersburger Straßenkinderzirkus Upsala , seit September 2011 ist er aktives Mitglied im Upsala Berlin e.V. und steht so in engem Kontakt mit russischen Pädagogen und Kulturschaffenden.

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