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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 02.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 108
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Nach der Veröffentlichung von Peter Handkes ‚Der kurze Brief zum langen Abschied‘ im Jahr 1972 fand sich die aus dem Filmjargon stammende Genre-Bezeichnung Roadmovie in kaum einer der Rezensionen. Im Allgemeinen versuchte man sich stattdessen mit den Begriffen literarischer Gattungen zu behelfen, die traditionellerweise mit dem Reisemotiv in Verbindung stehen. Auch im Rahmen der Veröffentlichung von Christian Krachts ‚Faserland‘ im Jahr 1995 wurde der Begriff ‚Roadmovie‘ kaum verwendet. Immerhin wurde Krachts Roman vereinzelt, wie beispielsweise in einer Rezension in ‚Der Spiegel‘, in Zusammenhang mit Jack Kerouacs Roadmovie-Roman ‚On the Road‘ gebracht. Mittlerweile scheint sich der Begriff ‚Roadmovie‘ bei Literaturkritikern etabliert zu haben. In der Folge der Veröffentlichung von Thomas Klupps ‚Paradiso‘ (2009), einem der erfolgreichsten Roadmovie-Romane der jüngeren Vergangenheit, fand er sich in der Mehrheit der Rezensionen. Trotz der zunehmenden Verbreitung des Begriffs ‚Roadmovie‘ sowie der seit den 1960er-Jahren anhaltenden Popularität der Roadmovie-Romane bei der deutschen Leserschaft finden sich im deutschsprachigen Raum erstaunlicher Weise kaum literaturwissenschaftliche Untersuchungen, die sich ausführlich mit den Eigenheiten des Genres auseinandersetzen. Da das ‚Leitmedium‘ des Genres spätestens seit den 1970er-Jahren der Film war und es sich zudem ursprünglich um ein dezidiert amerikanisches Genre handelte, ist die überwiegende Mehrheit wissenschaftlicher Arbeiten über das Roadmovie filmwissenschaftlichen Ursprungs und wurde zumeist von amerikanischen Autoren verfasst. Die vorliegende Studie beschreibt in einem funktionsgeschichtlichen Ansatz die Entwicklung des Roadmovies im Kontext der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dazu werden unter anderem die sozialwissenschaftlichen Theorien Ulrich Becks, Gerhard Schulzes und Heiner Keupps mit in die Untersuchung einbezogen. Nach einem einleitenden Teil mit komparatistischer Perspektive, in dem das Roadmovie in Film und Literatur anhand der Beispiele des Films ‚Easy Rider‘ sowie Jack Kerouacs Roman ‚On the Road‘ eingeführt wird, widmet sich die Arbeit der Entwicklung des ‚deutschen Roadmovies‘.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2.1, Jack Kerouacs On the Road als Prototyp des Roadmovie-Romans: Die angespannte Lage infolge des Kalten Krieges, der im Rahmen des Koreakriegs Anfang der 1950er-Jahre seinen vorläufigen Höhepunkt fand, führte auch zu einer angespannten innenpolitischen Lage in den USA. In der sogenannten ‘McCarthy-Ära’ wurden Kritiker, Intellektuelle und jeder, der sich öffentlich äußerte, staatlich überwacht, gegebenenfalls vom so genannten ‘Komitee für unamerikanische Umtriebe’ geprüft und mit einem Berufsverbot belegt. Das Komitee überwachte nicht nur die Filmproduktionen in Hollywood, sondern auch die amerikanische Literaturlandschaft. Dabei wurden die Veröffentlichungen der Schriftsteller daraufhin untersucht, ob darin ‘kommunistische Propaganda’ zu finden sei. Dem Prüfungsverfahren des ‘Komitees für unamerikanische Umtriebe’ fielen auch namhafte deutsche Autoren wie z.B. Thomas Mann und Bertolt Brecht zum Opfer. Beide Exilautoren erhielten ein Berufsverbot in den USA. Die Größe der USA brachte es mit sich, dass sich trotz der strengen Aufsicht während der ‘McCarthy-Ära’ vor allem in den großen Städten der Ost- und Westküste intellektuelle Zentren bildeten, in denen man sich gegen die Repressalien des konservativen Amerika verwahrte. Vor diesem Hintergrund bildete sich im New York der Nachkriegszeit eine junge Bewegung, die zur so genannten ‘Beat Generation’ heranwuchs. Die ‘Beat Generation’ brachte ihre eigenen literarischen Vertreter hervor, zu denen neben Allen Ginsberg, William S. Burroughs und Lawrence Ferlinghetti unter anderem auch Jack Kerouac gehörte. Da auch die Beat-Autoren der Aufsicht durch das ‘Komitee für unamerikanische Umtriebe’ unterlagen, wurde Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen nur indirekt und in verschlüsselter Form vorgetragen. In Jack Kerouacs Roadmovie-Roman On the Road, der nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1957 schnell zu einem Manifest der ‘Beat Generation’ wurde, erfolgte eine solche Form indirekter Kritik unter anderem in der Art und Weise, wie darin der ‘American Dream’ dargestellt wurde. Der ‘American Dream’ wurde in Jack Kerouacs Roadmovie-Roman zum Bestandteil der individuellen Sinnkrise des Protagonisten Sal Paradise. Dieser begibt sich, getrieben von der Leere seiner Bohème-Existenz in New York, auf die Spuren der amerikanischen Pioniere. Ebenso wie die Pioniere erhofft sich Sal von seiner Reise zur legendären ‘frontier’ die Überwindung der eigenen, elenden Situation und hofft auf einen Akt der Selbstbefreiung sobald, er sein Ziel erreicht hat. Da die ‘frontier’ als ehemalige Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis zum Zeitpunkt der Reise Anfang der 1950er-Jahre bereits lange Zeit verschwunden war, gelingt Sal seine Selbstbefreiung allerdings zunächst nicht. Einerseits wurde die Gesellschaftskritik in On the Road nur indirekt zum Ausdruck gebracht, andererseits äußerte sie sich in der Ablehnung vorgegebener literarischer Konventionen. Mit dem Titel On the Road, der die Bedeutung des Reisemotivs innerhalb der Handlung vorwegnahm, adressierte Jack Kerouac die junge amerikanische Leserschaft. Diese verband mit dem Reisemotiv vor allem das in der amerikanischen Literatur weitverbreitete, traditionsreiche Genre der ‘Initiationsromane’ bzw. der ‘Initiationsreisen’. Im Mittelpunkt der ‘Initiationsreisen’ der jugendlichen Protagonisten stand in der Regel deren moralische Festigung. Die Protagonisten, die die vom ‘American Dream’ vorgegebenen Werte verinnerlicht hatten und diese verkörperten, wurden während ihres Aufenthalts in der Fremde unmoralischen Einflüssen ausgesetzt. Ihre Initiation erfolgte für die jugendlichen Protagonisten zumeist, nachdem sie sich erfolgreich gegen die schlechten Einflüsse behauptet hatten. Vor diesem Hintergrund war die Initiation nicht nur ein entscheidender Punkt in der Entwicklung der Protagonisten, sondern auch ein Akt, in dem der ‘American Dream’ bekräftigt wurde. In On the Road dekonstruierte Jack Kerouac dieses klar strukturierte Muster des amerikanischen Initiationsreise-Romans, indem er seinen Protagonisten Sal Paradise nicht nur eine Reise, sondern insgesamt fünf Reisen durch den amerikanischen Kontinent unternehmen ließ. Anders als die klar strukturierten Initiationsreisen, die dem Schema ‘Aufbruch - Aufenthalt in der Fremde - Rückkehr’ folgten, zeichnete sich On the Road durch ein beständiges Wechselspiel aus ‘Entropie, Ordnungsvermutung und Rückfall in Entropie’ aus. An die Stelle des syntagmatischen Aufbaus der Initiationsreisen trat in Kerouacs Roadmovie-Roman eine ‘ästhetische Struktur des offenen Paradigmas’. Im Gegensatz zu den Initiationsreisen, die das Gefühl einer stabilen, den Individuen Halt bietenden gesellschaftlichen Ordnung vermittelten, erzeugte Jack Kerouac in On the Road auf diese Weise das Gefühl eines dynamischen und unberechenbaren Umfelds, um auf diese Weise den gesellschaftlichen Umbruchsprozessen in den 1950er-Jahren gerecht werden zu können. Im Rahmen dieser von Jack Kerouac inszenierten gesellschaftlichen Umbruchsprozesse bieten sich den Figuren seines Roadmovie-Romans einerseits neue Möglichkeiten bei der Gestaltung des eigenen Lebenswegs, andererseits eine Reihe von neuen, individuell zu bewältigenden Risiken. In einem unübersichtlichen Umfeld müssen sie sich selbst orientieren und ein erhöhtes Maß an Kontingenzbewältigung leisten. Die Schwierigkeit, sich selbst zu orientieren, kommt in On the Road in verschiedener Hinsicht zum Ausdruck: Das ziellose Reisen der Figuren, der Konsum von Drogen, der Konsum von Jazzmusik sowie der Hang zu religiösen Praktiken zum Zweck der Selbsterfahrung zeugen vom Wunsch nach Heil und Erlösung angesichts der Ambivalenz der neuen Chancen und Risiken. Obwohl Jack Kerouac bereits mit dem Titel On the Road implizierte, dass die Selbstorientierung von Sal Paradise im Verlauf der Handlung nicht zu einem erfolgreichen Ende kommen würde, ließ er seinem Protagonisten an verschiedenen Stellen des Romans epiphane Momente zu teil werden, in denen er für den Augenblick über dem chaotischen Umfeld steht. Eine solche Epiphanie ereilt Sal Paradise in On the Road beim Konsumieren von Jazzmusik. Als er Dean Moriarty beobachtet, während dieser zu einem imaginierten Jazz-Rhythmus tanzt, erkennt Sal plötzlich, dass es seinem Freund gelingt, sich auf diese Weise in einen Zustand der Ekstase zu versetzen und somit die kollektive Orientierungslosigkeit zu überwinden: ‘Dean stand in der Mitte von ihnen auf dem Teppich und kicherte - kicherte einfach. Er tänzelte im Kreis. Sein Verband wurde immer schmutziger, und er begann sich schon aufzulösen. […]. Er stand vor allen anderen, abgerissen, gebrochen, ein Idiot im Licht der Deckenlampe, mit seinem knochigen, schweißbedeckten Gesicht und pochenden Adern, und er sagte immer nur: ,Ja, ja, ja‘, als ob ihn die ganze Zeit ungeheure Offenbarungen bestimmten, und das taten sie auch, davon bin ich überzeugt, und auch die anderen ahnten es und erschraken.’ Diese ‘Jazz-Epiphanie’ hat nicht nur eine befreiende, sondern auch eine verbindende Wirkung, die die beiden Freunde Sal Paradise und Dean Moriarty in dieser Szene vereint. Allerdings erfolgt die Vereinigung der beiden Freunde nicht auf der Basis einer durch die Epiphanie gewonnenen höheren Wahrheit, die sie in Zukunft vor ihrer Verwirrung bewahren wird. Die Vereinigung erfolgt vielmehr wortlos, da es weder Sal noch Dean gelingt den Inhalt der ‘ungeheuren Offenbarungen’ sprachlich zu erfassen. Als Sal Paradise Dean Moriarty im weiteren Verlauf der Handlung fragt, was denn der Inhalt der Epiphanie gewesen sei, ist dieser nicht in der Lage begreiflich zu machen, was ihm in diesem Moment widerfahren ist. Das einzige Wort, das ihm zur Beschreibung der Offenbarung einfällt, ist das Wort ‘ES’ : ‘‚Also, der Typ mit dem Altsaxophon, Mann, gestern Abend - der hatte ES, und er hat es festgehalten ich habe noch nie erlebt, dass einer es so lange halten konnte.‘ Ich wollte wissen, was ‚ES‘ bedeute. ‚Ah‘, lachte Dean‚ ‚jetzt fragst du mich Imponderabilien, hmm! Hier steht zum Beispiel ein Typ. Und da ist das Publikum, verstehst du? Seine Aufgabe ist es, auszudrücken, was all die anderen fühlen. Er fängt mit dem ersten Chorus an, treibt dann seine Ideen aneinander, die Leute schreien ‚yeah, yeah, weiter so‘, und dann schwingt er sich zu seinem Schicksal auf, und was er bläst, muss dem gleichwertig sein. Und plötzlich, irgendwo im Chorus, hat er es - alle blicken auf und wissen es sie lauschen er greift es auf und führt es weiter. Die Zeit bleibt stehen. Er füllt den leeren Raum mit der Substanz unseres Lebens, […]. Er muss über die Brücken hinweg und wieder zurück, mit einem so tiefen, die Seele auslotenden Gefühl für die Melodie des Augenblicks, dass alle wissen, nicht auf die Melodie kommt es an, sondern auf ES - ‘‘. Gerade weil die ‘Jazz-Epiphanie’ Sals und Deans in der Lage ist Gemeinschaft zu stiften, ohne dass hierbei die Sprache zum Einsatz kommen muss, ist sie ideal geeignet für eine Art ‘kleiner Initiation’ in ein Milieu von ‘Eingeweihten’, die auf Kriegsfuß mit dem herrschenden, repressiven Gesellschaftssystem stehen. Einerseits wird Sal Paradise in der ‘Jazz-Epiphanie’ keine aussprechbare höhere Wahrheit zuteil, andererseits scheint sich ihm in der Folge das Geheimnis von Dean Moriartys Lebenskunst zu erschließen. Er erkennt, dass es diesem durch das individuelle Tanzen zu imaginierten Jazzrhythmen gelingt einen Akt der ‘heilsamen Überschreitung’ zu vollziehen. Ermöglicht wird diese ‘heilsame Überschreitung’ durch die lebensbejahende Haltung Deans, die ihn in die Lage versetzt, den Unwägbarkeiten seiner Umwelt etwas Positives abzugewinnen. Auf diese Weise, so Sals Erkenntnis, lässt sich die ursprüngliche Verwirrung zumindest für den Moment in ‘Glückseligkeit’ verwandeln: ‘Von Gott geschlagen war er - Urgrund aller Gottseligkeit, BEAT und beatific in einem.’ Während die ‘Jazz-Epiphanie’ eine verschworene Gemeinschaft zwischen Sal Paradise und Dean Moriarty herzustellen vermag, können die übrigen im Raum befindlichen Personen nicht erkennen, dass hier eine spezifische Form von Lebenskunst offenbar wird. Vielmehr deuten sie Deans Tanz als Ausdruck seines rücksichtslosen Hedonismus auf Kosten anderer. Während er tanzt, konfrontieren sie ihn mit seiner Verlogenheit, mit der er gleichzeitig Beziehungen zu verschiedenen Frauen unterhält. Sal erklärt Dean in dieser Szene dagegen überschwänglich zu einem ‘HEILIGEN SCHWINDLER’ , der die Zeichen der Zeit erkannt und die Ehe als unzeitgemäße Institution entlarvt hat, die aufgrund ihrer Statik nicht mehr den Anspruch erheben kann, als einzig moralisches Lebensmodell betrachtet zu werden. Sals Euphorie, durch die Lebenskunst des ‘Heiligen Schwindlers’ Dean eine Aussicht zu haben, der eigenen Orientierungslosigkeit zu entkommen, führt dazu, dass er ihn in dieser Situation gegen die Vorwürfe zu verteidigen versucht: ‘Am liebsten wäre ich hingegangen und hätte den Arm um Dean gelegt und gesagt: Jetzt seht mal her, ihr alle, und vergesst eines nicht: dieser Typ hier hat ebenfalls seine Probleme, und er hat nie geklagt, und außerdem hat er euch allen verdammt gute Stunden geschenkt, einfach indem er so war, wie er ist, und wenn euch das nicht genügt, dann stellt ihn doch vors Hinrichtungskommando […]. In Denver hatte es Zeiten gegeben, da alle im Dunkeln mit ihren Mädchen beisammensaßen, während Dean redete und redete, und er redete mit einer Stimme, die etwas Hypnotisches hatte und gleichzeitig fremd war und von der es hieß, sie könne die Mädchen herumkriegen, einfach durch Überzeugungskraft und den Inhalt dessen, was er sagte. Damals war er fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Inzwischen waren seine Jünger verheiratet, und die Frauen seiner Jünger wollten ihn sich vorknöpfen wegen seiner Sexualität und wegen all der Dinge, die er in ihr Leben gebracht hatte.’ Nachdem Sal Paradise die Lebenskunst Deans verinnerlicht und auf diese Weise seine anfängliche Orientierungslosigkeit überwunden hat, trennen sich die beiden Freunde in der letzten Episode von On the Road allerdings im Streit, nachdem sie noch einmal auf die Frage von Deans untreuem Liebesleben zurückgekommen sind. Sal, der sich vor seinem ‘Leben unterwegs’ von seiner Ehefrau geschieden hat, hat mittlerweile wieder eine feste Freundin. Auch wenn offen bleibt, ob Sal diese in absehbarer Zeit heiraten wird, verdeutlicht der Streit mit Dean, dass er offenbar vorhat, ihr die Treue zu halten. Der moralische Reifeprozess, der bei Sal gegen Ende von On the Road sichtbar wird, versetzt ihn in die Lage, künftig eine Balance zu finden zwischen Lebensbejahung, d.h. dem Streben nach Freiheit trotz überwältigender Orientierungslosigkeit, und Moral. Dean Moriarty, der offenbar nicht zu einem derartigen moralischen Reifeprozess in der Lage ist, fällt zum Schluss von Kerouacs Roadmovie-Roman der Schattenseite seiner Lebenskunst, nämlich der Vereinzelung anheim.

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