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Geschichte


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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 02.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 104
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Die probabilistische Revolution (1650-1850) steht im Zentrum des Wandels, den die Aufklärung vollzogen hat, vom klerikalen und absolutistischen Staat hin zu einem Gesellschaftssystem, welches sich sowohl der Wissenschaftlichkeit als auch einem System hinterfragter Vernunft verschrieben hat. Der Mathematik kommt dabei eine Brückenkopffunktion zu, indem sie den moraltheologischen Diskurs mit den kalkulierenden, spekulierenden und erkenntnistheoretischen Elementen der Philosophie verbunden hat. Nahezu zeitgleich entstand der moderne Roman, der sich signifikant von dem Erzählen vor der Aufklärung unterscheidet. Der sich abzeichnende Paradigmenwechsel, den die quantitative Forschung zur Probabilität auslöste, wurde von den Literaten dieser Zeit aufgegriffen und reflektiert. Sie veränderten mit ihren Werken nicht nur das Bewusstsein ihrer Zeitgenossen, sondern auch das Erzählen selbst. Exemplarisch lässt sich dieser Wandel an ausgewählten Werken von Defoe, Voltaire und Kleist in zahlreichen Facetten nachvollziehen.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2.2, Die Schicksalssemantik des Mittelalters im Rahmen einer providentiellen Ordnung: 2.2.1, Die Doktrin des Augustinus: Die Schicksalssemantik des Mittelalters war geprägt von der theologischen Doktrin der göttlichen Vorsehung und der alleinigen Entscheidungsgewalt Gottes. Der Ursprung dieser Doktrin war die Civitas Dei von Augustinus. De civitate Dei (lat. für ‘Vom Gottesstaat’) ist eine in der Zeit von 413 bis 426 verfasste Schrift des Augustinus (354-430 n. Chr). In 22 Büchern entwickelt Augustinus die Idee vom Gottesstaat (civitas dei/ caelestis), der zum irdischen Staat (civitas terrena) in einem bleibenden Gegensatz stand. Der irdische Staat erschien in der Augustinischen Darstellung teils als gottgewollte zeitliche Ordnungsmacht, teils als ein von widergöttlichen Kräften beherrschtes Reich des Bösen. Der Gottesstaat andererseits manifestierte sich in den einzelnen nach den religiösen Geboten lebenden Christen selbst. Von dieser dialektischen Grundidee her entwarf Augustinus eine umfassende Welt- und Heilsgeschichte. Dieser Entwurf war das ganze Mittelalter über bis hin zu Martin Luther äußerst einflussreich. Nicht mehr und nicht weniger als das Gleichgewicht zwischen göttlicher Entscheidungsmacht und Willensfreiheit des Einzelnen stand dabei zur Disposition. Die scholastischen Interpreten der augustinischen Doktrin folgten bei der Ausgestaltung ihrer Normen und Verbote der aristotelischen Logik, der zufolge der Zufall die logische Qualität der Kontingenz einzelner Ereignisse in der Zukunft habe. Die Logik der Aussagen so wie sie Aristoteles vorgegeben hatte zeigte aber, dass Aussagen über die Ereignisse in der Zukunft weder wahr noch falsch sind. Die augustinischen Scholastiker bestimmten deshalb, dass die `contingentia futura singularia` unangefochten der Sphäre göttlicher Providenz vorbehalten sein sollten. Jede Bresche in die Logik zukünftiger Ereignisse, so Campe, hätte dem Menschen Möglichkeiten eröffnet, auf Gottes Entscheidung über seine Seligkeit eine Rechnung auszustellen. Der Zusammenhang aus Sünde und Heilversprechen wäre nicht mehr aufrecht zu erhalten gewesen. 2.2.2, Die Doktrin von Thomas von Aquin: Thomas von Aquin beanspruchte, dass die Theologie den Charakter einer Wissenschaft habe. Zur Klärung der Glaubensgeheimnisse zog er dabei die natürliche Vernunft heran und begründete seine Überzeugungen mit der Philosophie von Aristoteles. Er versuchte mit seiner Doktrin den aristotelischen Ansatz, Erkenntnis aus der Erfahrungswelt zu gewinnen, mit dem augustinischen Prinzip des menschlichen Glaubens zu verbinden. Für ihn war es daher kein Widerspruch, dass einige Dinge nur mit der Vernunft der Erfahrungswelt erklärt werden können, während andere Dinge nur durch Glauben und Offenbarung zu erfassen seien. Ian Hacking, der in diesem Zusammenhang auf E. F. Byrne verweist, macht ergänzend darauf aufmerksam, dass bei Thomas von Aquin insbesondere die Begriffe Meinung (opinion), Wissen (knowledge) und Probabilität grundsätzlich anders besetzt waren als heute. Wörtlich heißt es: ‘In medieval epistemology, science – scientia – is knowledge. Knowledge is knowledge of universal truth which are true of necessity.’ Im Gegensatz dazu steht die Meinung. Hierzu konstatiert Ian Hacking: ‘Aquinas `opinio` refers to beliefs or doctrine not got by demonstration.’ Aber, so schließt Hacking den Argumentationszirkel: ‘In scholastic doctrine opinion is the bearer of probability. The limit of increasing probability of opinion might be certain belief, but it is not knowledge, not because it lacks some missing ingredient, but because in general the objections are not the kinds of propositions that can be object of knowledge.’ Mit diesen wenigen Sätzen offenbart sich ein Verständnis von Wahrscheinlichkeit, wie es heute nicht mehr vorstellbar ist. Wir würden erwarten, dass die Richtigkeit einer Meinung wahrscheinlich ist, wenn es gute Gründe oder sogar Beweise dafür gibt, also wenn sie durch scientia bzw. evidentia Unterstützung findet. Damit trifft man aber nicht das Verständnis, wie es Aquin im Sinn hatte. Für ihn war Wahrscheinlichkeit eben nicht eine Angelegenheit von Gründen und Beweisen. Ian Hacking führt dazu aus: ‘The primary sense of the word probabilitas is [was] not evidential support but support form respected people.’ und macht darauf aufmerksam, dass das englische Wort probability auf denselben Wortstamm zurückzuführen ist wie approbation oder approval, also so etwas wie Zustimmung. Dieses Verständnis von Wahrscheinlichkeit wird sich mit den Philosophen der Aufklärung substantiell verändern. Der Versuch einer Synthese von antiker Philosophie und christlicher Dogmatik, wie sie Thomas von Aquin im Blick hatte, rückt aber auch noch einmal die von Augustinus postulierte Providenz Gottes in den Blickpunkt. Werner Frick konstatiert in diesem Zusammenhang: ‘Nach dem durch Thomas von Aquin formulierten Grundgedanken […] muss es etwas geben, das durch sich selbst notwendig ist etwas das die Ursache der Notwendigkeit nicht außer sich hat, sondern für das Andere die Ursache der Notwendigkeit ist. Dieses notwendige Sein ist Gott.’ Er führt weiter aus: ‘Einzig aus der Relation zu der mit der Existenz Gottes und seiner Providenz gesetzten Notwendigkeit ist die Welt der kontingenten Phänomene zu deuten’ und kommt zu dem Schluss, dass bis in die Mitte des 17.Jahrhunderts galt: ‘Die Providenz verbürgt den Sinn jedes einzelnen Schicksals, sie eliminiert den Zufall und fungiert as Fatum Christianum oder als Fortuna apud Christianos. 2.2.3, Die neue Doktrin der providentiellen Ordnung bei Calvin: Mit Johannes Calvin bemächtige sich im 16.Jahrhundert auch einer der Reformatoren der Kontingenz-Providenz Dogmatik und entwickelte daraus seine Prädestinationslehre. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern lehnte er es ab, zwischen General- und Spezialvorsehung zu unterscheiden. Für ihn gab es keine Differenz zwischen providentiell geordneten Weltlauf und dem Zufall, der das individuelle Schicksal jedes Einzelnen bestimmt. Seine Maxime, abgeleitet aus einem Bibelzitat von König Salomon, lautete: ‘Der Mensch wirft das Los, aber es fällt, wie der Herr will.’ Im Gegensatz zu Augustinus und Aquin hängt für ihn die Heilsbestimmung nicht vom tugendhaften Verhalten des Einzelnen ab. Er sieht das Schicksal jedes Einzelnen als vorherbestimmt an und propagiert damit eine kompromisslose Prädestination des Menschen. Einzig, um den menschlichen Geist in seiner Schwäche zu unterstützen, so folgert Calvin sinngemäß, dürfe man, auch wenn alles durch Gottes Ratschluss einer festen Regelung unterworfen sei, Ereignisse als zufällig bezeichnen. Rüdiger Campe spannt aus dieser dogmatischen Festlegung einen sehr weiten Bogen hin zur Spieltheorie und konstatiert: ‘Dass Calvin vor dem Hintergrund der unbedingten Zurechnung jeden Geschehens auf einen Befehl Gottes einen Zufall für den Menschen einräumt, gibt gerade dem Lehrer der Prädestination einen Raum der innerweltlichen Kalkulation frei.’ Campe argumentiert weiter, dass die theologische Diskussion des Spiels nach Calvin darum zuerst eine Diskussion um das Los sei, womit sowohl das heilige als auch das profan-ernste Los gemeint ist. Während die Theologen des 15. und 16. Jahrhunderts die Sünde der Spieler immer darin sahen, dass sie das Arcanum der Zufallskompetenz Gottes zu verletzen suchten, legten die Theologen im Gefolge Calvins die institutionelle Logik des Arcanums offen. ‘Das macht Calvin und die calvinistischen Pamphletautoren zu den ersten Theoretikern einer modernen Kontingenzpolitik.’ 2.2.4, Aleatorische Praktiken als sakrale Entscheidungsinstanz: Die explizite Benennung des Würfelspiels im Zusammenhang mit der göttlichen Providenz bei Calvin wirft die Frage auf, welche Rolle aleatorische Praktiken als Gottesurteil gespielt haben. Das Gottesurteil oder Ordalium findet sich in vielen Kulturräumen und geht bis in die Anfänge der Menschheit zurück. Viele außereuropäische Völker, aber eben auch die Germanen glaubten, dass übernatürliche Mächte in juristischen Erwägungen eingreifen würden, wenn bestimme Rituale befolgt würden. Im antiken Griechenland und auch in der römischen Kultur gibt es keine Hinweise für einen solchen Glauben. Gottesurteile waren niemals Teil ihres offiziellen Rechtssystems. Weder die Bibel noch das Römische Recht benennen ein Procedere zur Urteilsfindung mittels eines aleatorischen Verfahrens, welches als sakrale Entscheidungsinstanz dient. Andererseits kannten die Germanen vor ihrem Kontakt mit den Römern das Gottesurteil als Ritual und in den mittelalterlichen Königreichen waren Ordalien fester Bestandteil des Rechtssystems. Auch die Kirche arrangierte sich mit dieser Art der Rechtsfindung. Obwohl einige Päpste in dieser Frage eine eher skeptische Position bezogen, billigten verschiedene Synoden Gottesurteile ausdrücklich (z.B. Mainz 847, Seligenstadt 1023, Reims 1119). Die bekannteste Form des Ordals war der Zweikampf. Dabei rangen der Ankläger und der Beschuldigte so lange miteinander, bis einer der beiden besiegt oder getötet worden war. Der Gewinner galt als von Gott gesegnet und war der Sieger des Rechtsstreits. Beim Losordal zogen Kläger und Beklagter ein Los. Schuld oder Unschuld wurde durch dieses Los bestimmt. Die Praxis der Ordale ist neben dem Providenzgedanken ein wichtiger metaphysischer Bestandteil der mittelalterlichen Schicksalssemantik und wurde auch entsprechend in der Literatur gewürdigt. Heinrich von Kleist hat ein Ordal in seiner Erzählung ‘Der Zweikampf’ thematisiert. Er reflektiert mit diesem Stück ein altertümliches Wahrheitsfindungsritual und damit ein Kontingenz- und Schicksalsdenken, welches zu seiner Zeit nicht mehr denkbar war. Der spezifisch aleatorische Aspekt des Losentscheides, wird von Daniel Defoe in seiner Aufsatz `Listening to the Voice of Providence` benannt. Um die Schicksalssemantik des Mittelalters zu verstehen ist neben der Providenzdogmatik und der sakralen Bedeutung der Ordale als weiterer Baustein die Verbannung des Spiels von außerordentlicher Bedeutung.

Über den Autor

Der Autor Bernhard Kehler wurde 1954 in Hamburg geboren. Sein Studium der Literaturwissenschaften schloss er 2013 an der FernUniversität Hagen mit dem Grad des Magister Artium erfolgreich ab. Während seines Studiums beschäftigte er sich mit den Fächern Jura, Statistik, Wirtschaftswissenschaften und Soziologie. Er sammelte berufliche Erfahrungen im Bereich empirische Sozialforschung, Pädagogik sowie im kaufmännischen Bereich. Fasziniert von der Schnittstelle zwischen Literatur und Wissenschaft veröffentlichte er 2009 auch einige Betrachtungen zu den Anfängen des Detektivromans am Beispiel von E.A. Poe (ISBN-13: 978-3640692408), welche 2013 auch in dem Sammelband ‚Die Ahnen von Sherlock Holmes‘ (ISBN-13: 978-3956870699) erschienen sind.

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