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Geschichte


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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 01.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 92
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Als einziges von einem Laien auf Latein verfasstes autobiographisches Werk, ist die Vita Caroli Quarti ein unvergleichliches Textzeugnis des deutschen Mittelalters. Die vorliegende Studie versucht anhand einer inhaltlichen und kritischen Analyse des lateinischen Textes, die individuellen Entwicklungen Karls IV. von einem unerfahrenen und gottesfürchtigen Mann hin zu einem mächtigen und selbstbewussten Herrscher nachzuvollziehen. Dem voran geht eine kritische Auseinandersetzung mit den Begriffen Autobiographie und Individuum sowie deren Anwendbarkeit auf mittelalterliche Textquellen. Gerade die Selbstzeugnisse des späten Mittelalters folgen in ihrer textlichen Form, der inhaltlichen Schwerpunkte und der stilistischen Ausgestaltung den frühen Vorbildern dieses Genres. Dieser Umstand erschwert die Suche nach individuellen Motiven in den Schriften.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 4, Die Entwicklung des Individuums im Mittelalter: In der historischen Forschung gab es viele Versuche die Entstehung des Individuums einer konkreten Epoche zuzuordnen. Einer der ersten und wichtigsten Vertreter war Jakob Burckhardt, der im ausgehenden 19. Jahrhundert in seinem epochalen Werk 'Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch' die Entstehung des europäischen Individuums in der italienischen Renaissance zu verorten suchte. Er begründet dies mit der republikanischen Herrschaftsform der italienischen Stadtstaaten, die eine frühzeitige Ausbildung des Italieners zum modernen Menschen bedingen. ‘Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewußtseins nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. [...] In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte.’ Die zeitliche Einordnung Jakob Burckhardts wird in der modernen Forschung weitestgehend verworfen. ‘Burckhardts Individualitätsbegriff war gespeist durch das Gedankengut der Aufklärung, des deutschen Idealismus, des Geniekults Nietzsches. Individualität bedeutete in diesem Kontext nicht einfach das Bewusstwerden der Persönlichkeit als solcher, sondern die Entwicklung der großen Persönlichkeit, die Entwicklung des allseitig gebildeten, rationalen, des souverän-gerechten, des mit sich selbst identischen und autonomen Individuums.’ Der Burckhardtsche Individualitätsbegriff versteht sich immer im Rückblick von der Moderne auf das Mittelalter. Die moderne Forschung ordnet die Entstehung des Individuums zeitlich früher ein: Colin Morris prägte in seinem Werk 'The Discovery of the Individual 1050-1200' den Begriff der Renaissance des 12. Jahrhunderts. ‘The discovery of the individual was one of the most important cultural developments in the years between 1050 and 1200.’ Er ging davon aus, dass der Entwicklungsprozess bereits um 1100 begann und in der italienischen Renaissance des 15. Jahrhunderts seine höchste Ausprägung erfuhr. Morris' Werk war nicht unumstritten, da er sich auf einen sehr eng umgrenzten elitären Personenkreis beschränkte, den der hohen Geistlichkeit. Ein weiterer Kritikpunkt ist die fehlende Betrachtung des sozialen Umfeldes der Individuen. Dies kritisierte Caroline Walker Bynum mit einer Untersuchung der kirchlichen und klösterlichen Gemeinschaften. Eine weitere umfassende Monographie zur Thematik des Individuums im Mittelalter ist Aaron J. Gurjewitschs Werk 'Das Individuum im europäischen Mittelalter'. Er versucht die Geschichte des Individuums im europäischen Kontext unter Einbeziehung der antiken Vorbilder anhand ihrer literarischen Erzeugnisse nachzuvollziehen. Jan A. Aertsen kritisiert an der bisherigen Forschung vor allem die Tatsache, dass die Suche nach der Individualität meist gleichgesetzt wird mit der Suche nach der Persönlichkeit. ‘Die Frage, wie Individuum im Mittelalter selbst verstanden worden ist, wird überhaupt nicht gestellt.’ Individuelle Persönlichkeiten sind allerdings keine Erfindungen des Mittelalters. Individuen gab es in allen Epochen man fand immer Möglichkeiten der Unterscheidung. Die entscheidende Frage ist also vielmehr, ab welchem Zeitpunkt sich das Individuum als solches erkannte. Bereits die antiken Philosophen setzen sich mit der Thematik auseinander. So definierte Porphyrius das Individuum als ein Wesen, das auf einer unvergleichlichen Kombination von Eigenschaften beruht. Die aristotelische Definition individuum est ineffabile wurde in der Scholastik stark rezipiert. In diesem Zusammenhang steht der Begriff der universalia, die gegebenen Überordnungen des menschlichen Daseins. Doch besaß in der Masse der antike Mensch kein Persönlichkeitsbewusstsein, folglich verstand er auch seine Götter nicht als Persönlichkeiten. So schaffte erst der religiöse Wandel vom Poly- zum Monotheismus die Basis für das mittelalterliche Individuumsverständnis: das Verständnis des einzelnen Menschen in der Beziehung und des Sich-Verlassens auf den einen, personalen Gott. Die größten Entwicklungen sind im lateinischen Christentum zu finden, durch die immerwährende Verfolgung und Unterdrückung des Judentums und die Einpassung des Individuums in die Umma bildeten das Judentum und der Islam im Vergleich zum Christentum weniger Individualität aus. In der frühchristlichen Spätantike entwickelte sich nun ein neues Verständnis der Persönlichkeit. Augustinus (354-430) schrieb mit seinen Confessiones nicht nur die bis weit ins ausgehende Mittelalter einflussreichste 'erste' Autobiographie, er definierte den Mensch als Person im Verhältnis zu Gott. In Abgrenzung zur Antike verstand er den Menschen als selbst handlungsfähig: Ego – non fatum, non fortuna, non diabolus. Boethius (475/80-524) definierte die Person als individuelle Substanz einer geistigen Natur: naturae rationalis individua substantia. Im 12. Jahrhundert formulierte Hugo von St. Viktor (1097-1141) die Person als selbstbewussten Geist. Menschlicher Geist besitzt also prinzipiell ein Bewusstsein seiner selbst und ist reflexiv. Thomas von Aquin (1224-1275) beschäftigte sich mit den antiken und frühchristlichen Autoren und entwarf das typisch scholastische Individualitätsbild: Die Erkenntnisfähigkeit liegt in der Ähnlichkeit des Menschen zu Gott (imago dei). Nur diese Fähigkeit unterscheidet den Mensch vom Tier, seine Persönlichkeit ist also nur im erkenntnisfähigen Teil seiner Seele (anima intellectiva) zu finden.Die Selbsterkenntnis ist der erste Schritt der Gotteserkenntnis. Ein Zeitgenosse Thomas von Aquins, der schottische Scholastiker Duns Scotus (1226-1308), ging in der aristotelischen und thomasischen Tradition von der Theorie aus, dass das Individuelle eine Sonderform des Allgemeinen bzw. des Universellen ist. Er erweiterte den Begriff der Universalien, indem er sagte, dass erst aus der Reflexion des Einzelnen aus der natura communis die universalia entstehen. Diesen Ansatz entwickelte Wilhelm von Ockham (1285-1347) – ein Zeitgenosse und Kritiker Karls IV. – weiter zum sogenannten Nominalismus: Dieser besagt, dass die universalia nur Benennungen (nomina) des Menschen sind. Nach diesem Versuch anhand weniger Beispiele die Entwicklung des Individuums bis ins 14. Jahrhundert nachzuvollziehen, gelangt man zu folgenden Erkenntnissen: Die christlichen Denker beschäftigten sich von der Spätantike bis zum 14. Jahrhundert mit der Thematik der Individualität, allerdings verstanden sie das Wort nicht so, wie wir es heute verstehen. ‘[...] die Individualisierung, ein Prozeß der Realisierung und Wahrnehmung der mehr oder weniger autonomen Individualität des Menschen, [hat] nicht erst mit der Renaissance oder der Neuzeit, sondern im Frühmittelalter begonnen und sich im Hoch- und Spätmittelalter verstärkt [..].’ Welche äußeren und inneren Einflüsse liegen dieser Verstärkung ab der Mitte des 11. Jahrhunderts zu Grunde? Bis zur Herrschaftszeit Karls IV. wandelte sich die mittelalterliche Gesellschaft in wirtschaftlicher, kultureller und geistiger Weise grundlegend: Die mittelalterliche Wirtschaft veränderte sich im Laufe des 11. Jahrhunderts von einer Eigenwirtschaft zu einer Differenzierung der Arbeit. Anders gesagt: Die frühmittelalterliche Ausgabewirtschaft, also die Produktion des Eigenbedarfs, veränderte sich zur Kundenproduktion, also zur Produktion auf Bestellung. Dies bedeutete gleichzeitig eine Entwicklung des Handwerks und des Handels und erforderte damit eine stärkere Eigeninitiative. Es entsteht eine neue Form der Konkurrenz zwischen rational wirtschaftenden Menschen, die die traditionsgeleitete Gesellschaft bis dato nicht kannte. Ein damit eng verbundener Prozess ist die zunehmende Verstädterung: Ab der Mitte des 11. Jahrhunderts begann eine Zeit explosiver Städteneugründungen. Dies führte nicht nur zur Herausbildung einer neuen Führungsschicht und unterstützte die Differenzierung der Arbeit, es führte zu einem neuen Verständnis des einzelnen Menschen. ‘Durch die fortschreitende Urbanisierung wird der Mensch aus dem archaischen Zustand der sozialen Gebundenheit herausgeführt und infolge der arbeitsteiligen Beschäftigung sowie der gesellschaftlichen Differenzierung mehr und mehr verselbstständigt.’ Gleichzeitig ist eine 'Verzeitlichung' der mittelalterlichen Welt zu erkennen, um das Jahr 1200 werden erstmals mechanische Uhren an Kirchtürmen angebracht. ‘Das Entstehen der Städte, Gemeinschaften von freien Bürgern, und der Aufschwung des Handels haben die agrarisch-feudalen Verhältnisse des Frühmittelalters und die gesellschaftliche Stellung des Individuums tiefgreifend geändert.’ Eine weitere maßgebliche Entwicklung ist das Aufkommen der Bettelorden im 13. Jahrhundert. Erfuhr die Kirche in den vorherigen Jahrhunderten eine zunehmende Verweltlichung, ausgedrückt durch die gesteigerte Partizipation geistlicher Würdenträger an der weltlichen Herrschaft, die Verwirtschaftlichung der Klosterkultur, den beginnenden 'Ablasshandel' oder die cluniazensische Prunksucht, forderten die neuen Orden eine Rückkehr zu den urchristlichen Lehren. So erfuhr das Bewusstsein vom Ich eine stärkere Förderung, jeder Mensch wurde als eigenes Geschöpf Gottes verstanden. Die Institution der Kirche und des Klerus war für den Laien nicht mehr zwingender Vermittler zwischen ihm und Gott. Die individuelle Glaubenserfahrung gipfelte in der devotio moderna, die ihre Hochzeit im ausgehenden 14. und 15. Jahrhundert fand. Weiterhin entwickelten sich neue klösterliche Lebensformen, an deren Anfang die vita canonica und die vita eremitica standen. Diese Neuorientierung erfolgte überwiegend durch die Kraft Einzelner, die mit den Traditionen radikal brachen und sich unmittelbar auf den Ursprung der vita religiosa beriefen. Dieses Bewusstsein vom eigenen Ich wurde unterstützt durch die Einführung der jährlichen Beichte auf dem IV. Laterankonzil 1215. ‘Diese regelmäßige individuelle und geheime Beichte hatte zur Voraussetzung, daß sich jeder Gläubige einer Selbstanalyse unterzog und sein Verhalten als Sünder und Gerechter zugleich überprüfte.’ Im 12. Jahrhundert veränderte sich auch die adlige Gesellschaft: Der ritterliche Individualismus manifestierte sich in der Waffentat des hervorragenden Einzelnen, dies führte zu einer Zunahme des Turnierwettkampfs und der ritterlichen Dichtung. Bereits im 10./11. Jahrhundert nahm der Burgenneubau zu, ein Zeichen für das neue ritterliche Selbstbewusstsein ab 1100 wurde von Rittern zunehmend der Familienname geführt. Im 12. Jahrhundert wird die absichtliche Anonymität oder Pseudoanonymität überwunden. Davor suchte man sich im christlichen Verständnis von dem antiken heidnischen Streben nach Ruhm und Anerkennung abzugrenzen. All diese entscheidenden Veränderungen gipfelten in einer Reformation des Geisteswesens: Die Differenzierung der Wirtschaft führte zu einer Verschriftlichung und damit zu einer deutlichen Zunahme von Schulgründungen, die neu aufgekommenen Orden sorgten für eine neuerliche Auseinandersetzung nicht nur mit der heiligen Schrift und den Kirchenvätern, sondern auch mit den antiken Autoren. Diese Entwicklung manifestierte sich in der Scholastik: Neben der Rückkehr zu den antiken und frühchristlichen Schriften – so fanden die augustinischen Schriften eine umfassende Neubearbeitung – findet eine Veränderung der Lehre und der Predigt statt. Nicht mehr nur die lectio stand im Vordergrund, sondern zunehmend die disputatio, die kritische Auseinandersetzung mit dem Gelernten. Die Prediger verwenden vermehrt eigene Beobachtungen und Reflexionen, weg von der starren Explikation des objektiv-dogmatischen Textes. Er versucht durch Vergröberung und Übersteigerung der Wirklichkeit seine Zuhörer zu beeinflussen. Auch förderte die Kunstform der Dialektik die kritische Auseinandersetzung mit religiösen bzw. theologischen Themen. Die Scholastik und mit ihr der Mystizismus führten so zu einer bis dato ungekannten Art der Auseinandersetzung mit sich selbst. Diese einschneidenden Wandlungen in der mittelalterlichen Gesellschaft bedingten eine Zunahme von schriftlichen Selbstzeugnissen ab dem 11. Jahrhundert. Auch wenn es schon zuvor einzelne Texte mit autobiographischen Charakter gab, begann deren Hochzeit mit den neuen Geistesformen der Scholastik und des Mystizismus.

Über den Autor

Julian Happes M.A. wurde 1986 in Heidelberg geboren. 2006 begann er ein Studium der Geschichte und Politikwissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit seinem Abschluss im Frühjahr 2013 ist er als Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Freiburg tätig. Schwerpunkte seiner Forschungen sind die Selbstzeugnisse des späten Mittelalters, Transkulturalität im europäischen Mittelalter und die Historiographie im deutschsprachigen Raum des Spätmittelalters.

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