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Gesellschaft / Kultur


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Produktart: Buch
Verlag: disserta Verlag
Erscheinungsdatum: 01.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 152
Abb.: 6
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Teile der kosovoalbanischen Nachkriegsgesellschaft pflegen auch rund 15 Jahre nach dem Konflikt noch einen ausgeprägten MärtyrerInnen-Kult, dessen Dynamik eine tödliche Opfer-Logik innewohnt. Mithilfe eines ethnologischen Blicks werden in vorliegender Studie die Verflechtungen dieses hybriden Opfermythos mit christlicher Symbolik als auch mit Elementen des nordalbanischen Patriarchats aufgezeigt, um dem Geheimnis des sakrifiziellen Bekehrungspotenzials nachzuspüren. Des Gabenrätsels Lösung scheint in der Etablierung eines Schuldverhältnisses zu liegen. Durch den Einbezug des Dativs in die Erinnerung an die im Krieg Getöteten, sprich der Verwendung einer dualen Kommunikationsstruktur, an dessen einem Ende eine gleichsam personale Entität mit sakralem Charakter steht, in deren Abhängigkeit sich die Erinnerungsgemeinschaft wähnt, wird wahrlich der Kriegstod in eine Illusion des Opfers transformiert, mit der die Erfindung einer Schuld einhergeht. Aus einem Sterben an wird ein Sterben für . Es ist ein Gesellschaftsgründungsversuch, der die Beteiligten in ein Verpflichtungsverhältnis einbindet und zur Gegengabe auffordert: Denn jedes Opfer fordert ein weiteres.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 4.1, Die 90er Jahre - Eine Spirale der Gewalt: Es sei zu Beginn noch einmal an die Interdependenz von Identitätsdiskursen und Handlungsentscheidungen sozialer Akteurinnen und Akteure erinnert. In Identitätsdiskursen werden immer auch Normen und Werte ausgehandelt. Dieses Agglomerat aus Moralvorstellungen kann meiner Ansicht nach als eines der Kernelemente von Identität begriffen werden. Somit hält jede kulturelle Identität Handlungsschemata für den/die AkteurIn bereit, welche im Falle ihrer Verwirklichung wiederum zum Gegenstand der diskursiven Aushandlung von Normen und Werten werden. Dies lässt sich anhand des sozialen Akteurs Adem Jashari sehr gut verdeutlichen. Jener wurde nicht nach seinem Tod von ‘memory entrepreneurs’ zu einer mythischen Figur verklärt, die ihm selbst gänzlich fremd erschienen wäre, wie es den Anschein bei manch einer/einem in zeitgenössisch-nationalistischen Diskursen positionierten frühneuzeitlichen ‘Nationalheldin/Nationalhelden’ hat. Ganz im Gegenteil scheint Adem Jashari in seinen Handlungsentscheidungen zutiefst von jenem Identitätsdiskurs beeinflusst gewesen zu sein, in den er nach seinem Tod als ein zentrales Element Eingang finden sollte. Meiner Meinung nach muss also in Hinblick auf die historischen Ereignisse immer im Auge behalten werden, dass wesentliche Elemente des MärtyrerInnendiskurses, welcher nach dem Massaker an der Jashari-Familie an Bedeutung gewann, schon in den Jahren davor einen nicht geringen Teil dazu beitrugen, dass die Belagerung des Jashari-Anwesens durch serbische Einheiten letztendlich in jenem Massaker endete. Dieser MärtyrerInnen-Diskurs, welcher den Fokus auf den militanten und heroischen Widerstand legt, und diesen zur Ursache der staatlichen Unabhängigkeit erklärt, hat spätestens in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine in den 90'er Jahren vom damaligen kosovoalbanischen Präsidenten Ibrahim Rugova angeleitete nationale Identität des passiven Widerstands, welche untermauert wurde durch die Erfindung einer albanischen ‘tradition of patience and prudence, facing domination’, abgelöst. Wir beginnen mit der Frage, wie es zu jenem geschichtsträchtigen Ereignis am 5.-7. März 1998, dem Massaker an den Jasharis kam, welches im Zentrum dieses Diskurses steht. Unter den zunehmenden Repressionen der jugoslawischen Teilrepublik Serbien gegen die albanische Bevölkerung im Kosovo bildete sich in den 90er Jahren, neben der offiziellen Politik des friedlichen Widerstands - manifest in dem von Rugova und seiner Partei LDK (Lidhja Demokratike e Kosovës) geleiteten kosovoalbanischen ‘Schattenstaat’ -, die politische Überzeugung heraus, dass nur der Einsatz drastischerer Mittel zur gewünschten internationalen Unterstützung und zur erhofften Unabhängigkeit Kosovos führen würde. Unter dem Eindruck des unter Mitwirkung internationaler Akteure abgeschlossenen Friedensvertrags von Dayton 1995, der auf die Gewalttaten in Bosnien und Herzegowina folgte, setzten neue politische Akteurinnen und Akteure unter den KosovoalbanerInnen auf Anwendung von Gewalt. Unter diesem veränderten Meinungsklima bildeten sich an mehreren Standpunkten im Kosovo kleinere, regionale Einheiten der späteren Guerrillabewegung UÇK heraus, die aber zunächst über keinerlei zentrale Organisation verfügten, sondern mehr oder weniger unabhängig voneinander in Aktion traten. Interessant ist, dass nun eine albanische Tradition des bewaffneten Widerstands heraufbeschworen wurde, obwohl dieser in der Vergangenheit eher schwach ausgeprägt war. Auch bei dieser Erfindung einer Tradition wurden Geschichtsdaten sehr selektiv ausgewählt und nach den aktuellen Bedürfnissen uminterpretiert. In Folge der sich häufenden Attacken auf serbische Polizeiwachen, zu denen sich die nun seit dem 28. November 1997 öffentlich auftretende UÇK bekannte, verschärften sich auch die Repressionen der serbischen Sicherheitskräfte, die durch grausame Massaker an der albanischen Zivilbevölkerung, welche der Einschüchterung dienen sollten, die ‘Spirale der Gewalt’ nur noch weiter anheizten. Einer der Gründer der UÇK war der aus dem kleinen Dorf Prekaz stammende Adem Jashari. Er galt als der Anführer der UÇK in der Region Drenica, welche als Hochburg des kosovoalbanischen Widerstands berüchtigt war, und stand demnach auch ganz oben auf der Fahndungsliste der serbischen Polizei. Schon im Dezember 1991 kam es zu einem heftigen Angriff auf das Haus der Jasharis durch serbische Polizeieinheiten, doch zog sich diese nach unerwartet starkem Gegenfeuer der Belagerten zurück. Ein zweiter kurzer Angriff wurde im Januar 1998 durchgeführt, wobei zwei Familienangehörige der Jasharis verletzt wurden, Adem aber erneut nicht gefasst werden konnte. Eine dritte und letztendlich in dem erwähnten Massaker endende Belagerung des Jashari-Anwesens wurde von einem riesigen Aufgebot an schwerbewaffneten serbischen Einheiten am 5. März 1998 initiiert, und endete zwei Tage später nach heftiger Gegenwehr von Seiten der Jasharis mit einem Toten und mehreren Verwundeten auf serbischer Seite, und 51 Toten in der Familie und Verwandtschaft der Jasharis. Die einzige Überlebende der im Haus anwesenden Jasharis, und somit einzige Augenzeugin des Geschehens, war die 11 Jahre alte Tochter von Adems Bruder Hamzë, Besarta, die im Laufe der darauffolgenden Jahre als die Informationsquelle schlechthin für die memory entrepreneurs fungieren sollte. Die Bedeutungstiefe dieses Massakers, das bei weitem nicht das schlimmste im Kosovokonflikt gewesen war, wird schon allein daraus ersichtlich, dass es in der unmittelbaren Nachfolgezeit als ausschlaggebendes Motiv für Massen von AlbanerInnen aus dem Kosovo und der Diaspora diente, sich zum Militärdienst bei der UÇK zu melden: So sagte ein führendes UÇK-Mitglied: ‘Prekaz found us unprepared for a big war because it led to a big influx of volunteers, it was unstoppable … we just couldn't stop it.’ Der Mythos um das ‘flijim sublim’ der Jasharis, der in kürzester Zeit entstand, und flächendeckend in albanophonen Gesellschaften Resonanz fand, muss im Kontext des rezenten mythischen Geschichtsbilds der AlbanerInnen betrachtet werden.

Über den Autor

Nikolaus M. Gerold, M.A., geboren 1986, wuchs in Uffing am Staffelsee auf. Sein Studium der Ethnologie, Europäischen Ethnologie und Religionswissenschaft an der LMU München schloss er als Magister Artium mit exzellenten Leistungen ab. Bereits während des Studiums sammelte der Autor umfassende Feldforschungserfahrungen in Südosteuropa, mit dem Fokus auf albanophone Gesellschaften und deren Sprache. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Ethnologie der Liebe & Sexualität in muslimischen Gesellschaften Südosteuropas, Erinnerung & Identität, Nationalismus, Postcolonial studies, Globalisierung und Gender studies. Nikolaus M. Gerold lebt in München, Prishtina und Leuven, und arbeitet neben seiner Promotion zu Tourismus in matrilinearen Gesellschaften Nordost-Indiens als Übersetzer und Dokumentarfilmer.

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