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  • Der Medea-Mythos und die Doppelfigur Mariam/Laila: Figuration in Christa Wolfs 'Medea. Stimmen' und Khaled Hosseinis 'A Thousand Splendid Suns'

Kunst & Kultur


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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 01.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 120
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Zwei Bilder: Medea aus der antiken Mythologie und eine verschleierte Kindfrau in Afghanistan. Unterschiedlicher könnten die Kulissen für den Entwurf dieser Arbeit nicht sein, und dennoch treffen sich diese beide Figuren, tauschen sich aus, tauschen permanent Plätze aus und resultieren in einer produktiven Kongruenz, die aus mythologischen und fiktionalen Figureninteraktion besteht. Der Medea-Mythos kommt in einer Zeitspanne von 2.400 Jahren auf eine stolze Zahl von mehr als 300 Über- und Bearbeitungen, und hat sich so bis heute nicht nur einen sicheren Rang in der Mythosbearbeitung in antiken Tragödien, Kunst, Dramen und Literatur errungen, sondern ist zum Mammut-Mythos geworden, der jede Zeit und jeden Raum zu sprengen droht. Für diesen Medea-Boom ist noch längst kein Ende in Sicht. Je markanter der Mythos der Medea, desto weniger manifest zeigen sich die Züge einer kleinen Heroine, einer Kindfrau, in der figurenkompositorischen Gegenüberstellung des komparatistischen literaturwissenschaftlichen Vergleichs. Gegenstand dieser Arbeit ist es, die Kongruenz und die Ergänzungen anzudeuten, die sich in der Figur Medea der Göttlichen in Christa Wolfs Medea. Stimmen (1996) gegenüber der Doppelfigur Mariam/Laila in Khaled Hosseinis A Thousand Splendid Suns (2007) auf einer parallel strukturierten Ebene kaleidoskopisch betrachten lassen, wobei sich die Figuren als Doppelfiguren und Grenzgängerinnen erweisen. Sie soll keine zwanghafte Suche nach dem Mythos darstellen. Auch die Tatsache, dass die Gegensätzlichkeit der Bilder von Medea und Mariam nicht drastischer sein könnte, stellt eine Herausforderung dar. Ist der Kontrast der Figuren zwischen der bedeutenden Medea und der unbedeutenden Mariam zu groß, der Graben zwischen den Kulturen von Korinth und Afghanistan unter den realen Umständen zu tief?

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 4, Die Schuldproblematik: ‘[...] l’entre la vie est la mort’ (Lacan). 4.1, Medea (Mariam). Retrospektiven des ‘Fremden’: Oh why can’t a bolt of lightning strike me? What point is there in living any more? I want death to come and sweep me off — let me escape this life of suffering! (Euripides: Medea, 168–171). Der zitierte Abschnitt aus Euripides Medea liefert ein ‘nekrophiles’ Bild Medeas, die sich, verzweifelt und verloren zugleich, nach dem eigenen Tod sehnt. Nicht so das Bild der Medea in MS. Hier ist sie zu einer Heimatlosen geworden ‚aus Liebe‘zu Jason. Von diesem zurückgewiesen, verletzt, aber nicht verloren, entfaltet Christa Wolf in verspielter Weise die Fremdheit Medeas in ihre Stimme gleich zu Beginn ihres Werkes: ‘[I]mmer noch kenne ich ihn nicht ganz, habe versäumt, ihn ganz zu kennen, weil es mir nicht mehr wichtig war, gefährliche Bequemlichkeit’ (MS 24). In dieser Lage des Fremdseins fleht Medea nicht ihren Gatten Jason oder den König Kreon als Staatsoberhaupt um Schutz an. Ihre Gebete, formelhaften Seufzern gleich, richten sich allenfalls im Stillen an ihre Gottheiten und Schutzpatroninnen. Der Status einer Fremden in Korinth bekümmert sie jedoch zunächst nicht sie weiß, wie sie sich weiterhin in Szene zu setzen vermag. Medea ist eine Nicht-Griechin, weshalb sie automatisch in kultureller Hinsicht als Barbarin gilt. In erster Linie ist sie aber eine Ehefrau, die Verantwortung für ihren ‚Ehevertrag‘ trägt und damit auch die Konsequenzen, die eine Familie mit sich bringt, bedenkt. Dieser Status bereitetet ihr keine Mühe. Allerdings tritt ihre Fremdheit dadurch stärker hervor, dass sie keine Konkubine sein will und den Status als zweite Frau eines Mannes nicht ohne weiteres anzunehmen bereit ist. Zunächst wird Medea von den Korinthern recht gut angenommen. Als Heilerin stellt sie ihr fundiertes Kräuterwissen den Menschen in Korinth zur Verfügung. Doch gerade diese Rolle der Helfenden entfremdet sie den Frauen und Männern des Stadtstaates. Das ihr angeborene Attribut einer wilden Natur kommt hinzu und macht sie zu einer Anderen. Auch in Mariams Leben zeigen sich Züge von Wildheit deutlich in ihrer Kindheit. So beschreibt sie aus der Sicht eines Kindes die Natur und die Umgebung, in der sie lebt und aufwächst: ‘Up the dirt track, over rocks and pebbles, around holes and bushes […] dence grass and around thickets of shrubs’ (TSS 13). Das Raue der Natur prägt auch Mariam als feminine Figur. Was aber bei Medea positiv als Selbständigkeit und Authentizität gedeutet werden kann, wirkt im Falle vom Mariam negativ. Die ungebändigte Natur und die wilde Umgebung, in die Mariam hineinwächst, hinterlassen die ersten Spuren von Verletzungen, die durch ihren späteren Werdegang als Mörderin noch hervorgehoben werden. Die Bilder der Wilden entwerfen bei Medea eine Sprache des Scheins sie sind kompatibel mit der in ihr zum Ausdruck kommenden Hypostase und den damit verbundenen Täuschungen. Das Bild Mariams als einer Wilden ist hingegen transparent es ist durch das Natürliche in Laila imstande, gewisse historisch gewachsene Zwänge gegenüber dem Femininen zu nivellieren. Medea trägt ihre Haarpracht offen, ihre Barfüßigkeit untermauert ihren autonomen Charakter, als den Christa Wolf ihre Romanfigur gerne sehen will: eine Frau, die sich trotz ihrer Fremdheit von niemandem vorschreiben lässt, was sie zu tun hat, was ihre Selbstständigkeit und Selbstsicherheit deutlich macht (MS 159). Als Opferpriesterin steht Medea im Dienste der Göttinnen, was ihren Status als Halbgöttliche bestätigt. Sie ist im Grunde in vieler Hinsicht anders als der Rest der korinthischen Gemeinschaft. Aber nichts würde sich wohl ändern, hätten wir die eingebaute Detektivgeschichte nicht, wenn Medea nicht die Wahrheit über das Verschwinden der korinthischen Königstochter Iphinoe herausfinden würde. Diese ist nicht mit einem Prinz verschwunden, um glücklich zu sein, wie in Korinth erzählt wird, sondern Opfer eines Verbrechens geworden. Die Untat wird gleich zu Beginn in MS schonungslos präsentiert. Als Medea in den Katakomben von Korinth die Kinderleiche Iphinoes findet, entdeckt sie zugleich, auf welch abscheulichem Verbrechen die Stadt Korinth selbst gegründet ist. ‘Die Stadt ist auf eine Untat gegründet’ (MS 23), und weil Medea sich weigert, darüber zu schweigen, erreicht sie den Gipfel ihrer Fremdheit. Mit aller Macht versucht das Patriarchat in Korinth, sie auszuschalten – auch gerade als Fremde. ‘Die griechische Mentalität verurteilt die Fremdheit nur, wenn diese danach trachtet, sich dem allgemeinen Maß zu widersetzen’. Durch Gerüchte und ‘Flüsterpropaganda’ entlädt sich der Hass der Korinther auf Medea, und das macht sie zur Fremden schlechthin. Die Xenophobie richtet sich auf sie, weil sie sich nicht an die herrschenden Regeln, an die Regeln des Patriarchats hält. Sie wird als Fremde gejagt und für alles Unheil in Korinth verantwortlich gemacht: für die Pest und die Hungersnot, für ihren Brudermord und nicht zuletzt für den mysteriösen Tod ihrer eigenen Kinder. Dabei verweist sie nur auf die Probleme der herrschenden Ordnung. Für Julia Kristeva rührt der ‘grelle, gewalttätige Charakter [… der Fremdheit] zweifellos von den Krisen jener religiösen und moralischen Konstitutionen her.’ Die Intrige und die Rufmordkampagne gegen Medea seitens der Korinther nimmt ihren unaufhaltsamen Lauf. Christa Wolf geht aber über das Muster des Euripides, dem zufolge Medea nicht eindeutig schuldig ist, hinaus und plädiert für ihre Unschuld. In ihrer Sicht ist Medea eindeutig keine Kindsmörderin. Und dennoch flieht Medea, ihr göttlicher Ursprung ist ihr hier nicht gerade von großem Nutzen. Denn ‘[z]wischen Flucht und Ursprung: [liegt] eine fragile Grenze, ein provisorisches Gleichgewicht.’ So bleibt die Figur Medeas in Christa Wolfs neuer Mythenbearbeitung auch eine Fremde, bleibt auch sich selbst entfremdet, weil sie ihren Platz in der Gesellschaft nicht finden kann. Sie entspricht damit dem Grundzug der Fremdheit: ‘Der Fremde will allein sein’. ‘Keinem Ort zugehörig, keiner Zeit, keiner Liebe’. Die Figur der fremden Medea als mythische Halbgöttin endet hier entsprechend in Orientierungslosigkeit – nicht nur für Medea, sondern auch für die Leserschaft. Eine Orientierung bieten uns hingegen die beiden femininen Hauptfiguren Mariam und Laila in TSS, die in den rohen Fragmenten der neu entstandenen Medea (Mariam) einer Verselbstständigung Ausdruck verleihen. Beide erlangen in ihrer Fremdheit eine authentische Stellung. Dazu müssen alte Mythen dekonstruiert und neue Mythen geschaffen werden. Es hat so den Charakter eines Experiments, erneut auf die Unschuld Medeas zu plädieren. Vom Mythos her ist sie von Anfang an eine Fremde, eine Barbarin und somit schuldig. In MS ist sie als Fremde zum Scheitern verurteilt. Ob sie handelt oder nicht handelt, Medea kann der Schuld nicht entgehen. Hier findet nun eine Verschiebung der ausschlaggebenden Triebkräfte statt: von Medea, die eindeutig schuldig ist, ob sie nun handelt oder nicht, über Mariam, die handelt, aber auch schuldig ist, zu Laila, die als Nichthandelnde nicht schuldig ist. Die Figuren üben Kritik durch ihr Handeln und rechtfertigen den Zweck der dualen Geschlechterexistenz auch in der Schuldproblematik, die sich darin äußert, dass sie als feminine Fremde den maskulinen Nichtfremden des Patriarchats gegenübertreten. ‘Denn eine Kritik an der Ausgrenzung und Substitution des ,Anderen‘, besonders Weiblichen, ist immer zugleich auch eine Kritik an der Gesellschaft und ihren kulturellen Produkten.’ 4.2, (Medea) Mariam – die Bastardin: ‘The old Woman lies down and her land is guarded’.(Spell 84) Auch in TSS wird die Sache nicht schöngeredet und gleich im ersten Satz mit dem Wort ‘harami’ = Bastard (TSS 3 und 4) begonnen. Dies lenkt auch hier den Blick unweigerlich auf die Schuldproblematik. Die erste Hauptfigur Khaled Hosseinis ist Mariam, ein Dorfmädchen. Sie scheint zunächst die Verkörperung der Unschuld zu sein, doch im Laufe der Erzählung verkehrt sich dies ins Gegenteil. Als uneheliches Kind eines Mannes mit drei legitimen Frauen und neun Kindern ist Mariam Frucht einer illegitimen Beziehung zwischen Jalil als Herrn und seine Dienerin Nana. Aus islamischer Sicht ist Mariam damit tendenziell ein Niemand, denn: ‘Nur ein eheliches Kind kann erben. Ein leibliches Kind wird nicht anerkannt’. Wenn überhaupt, kann sie ihre Existenz nur mit der Schande ihrer Mutter und dem Gesichtsverlust ihres Vaters in Verbindung bringen. Als Harami (= Bastard) lastet automatisch von Geburt an Schuld auf Mariam. Sie wird dadurch zu einem namen- und identitätslosen Menschen. Und dies wiegt schwer für ihr Dasein: ‘Betrachten wir den Althusserschen Begriff der Interpellation oder Aufrufung, wonach ein Subjekt durch einen Ruf, eine Anrede, eine Benennung konstituiert wird.’ Mariams zaghafte Versuche während ihrer Kindheit, den Status als Bastard loszuwerden, indem sie vom Vater in dessen Welt anerkannt und angenommen wird, bleiben erfolglos. Auch wenn es ihr gelingt, durch Heirat von einem niedrigen zu einem höheren sozialen Status aufzusteigen und damit Subjekt zu werden, vermag dies nicht zu verdecken, dass sie als Harami im Grunde ‚unerwünscht‘ ist. Im Gegenteil: Die frühe Verheiratung des Mädchens, die ihm selten eine Möglichkeit zur geistigen Reifung und einer intensiveren Ausbildung ließ, war sicher ein Grund für die wachsende Degradierung der Frau in der islamischen Welt. Trotz des Umzugs in eine andere Stadt, von Herat nach Kabul, bleibt Mariam ein Harami und damit in ihrer eigenen Welt der Schuld unschuldig gefangen. Ein Bastard kann in diesem Denken ‘keine Gestalt, keine Morphe annehmen, und so gesehen auch kein Körper sein.’ Der Status als uneheliches Kind verlagert die Schuld von der Bezeichnung als Bastardin – selbst ihre Mutter nennt sie so – zu ihrer eigenen Wahrnehmung als ungewolltes und so im Grunde überflüssiges Kind. Sie internalisiert die äußeren Umstände als ein schlechtes Gewissen. Diese Prädispositionen verstärken die Schuldproblematik bei Mariam. Die Umgebung, in der sie sich ihre ersten 15 Lebensjahre aufhält, erscheint als abgeschiedene Wildnis (TSS 13). Wildnis wiederum ist mit Unkraut (TSS 9) konnotiert, etwas Fremdem, Schädlichem. Auch ihr Bildungsweg ist damit vorgezeichnet: Ihr Status als Bastard macht deutlich, dass es keinen ‚Wert‘ hat, sich Gedanken über ihre schulische Ausbildung zu machen. Mariams Mutter gibt ihr immer wieder zu verstehen, dass das Einzige, was ein Bastard-Kind zu tun hat, darin besteht, Leid auszuhalten und zu erdulden. (TSS 99) Der Tod der Mutter verschärft die Schuldproblematik noch, hat sie ihr doch gedroht: ‘I will die if you go’ (TSS 27). Indem sich diese Ankündigung bewahrheitet hat, wird erneut Schuld auf Mariam geladen: Gegen den Willen der Mutter verlässt sie ihre Hütte, um die Gunst ihres Vaters zu erlangen – was misslingt, da er sie, eine Bastardin, nicht als Tochter anerkennt –, und die Mutter erhängt sich. Enttäuscht, von ihrem Vater nicht angenommen worden zu sein (TSS 65), fühlt sich Mariam angesichts des Todes ihrer Mutter als Verräterin. Der Selbstmord ist aber auch eine Warnung: Was Nana getan hat, soll Mariam nicht widerfahren. Nanas Suizid (TSS 35–36) ähnelt dem Tod der Glauke im Medea-Mythos er steht für das Unbewältigte der Schuldfrage, für das Scheitern und die Regression des femininen Modus, der hier als Bastard-Status gedeutet wird. Betont wird das Ganze noch durch eine gewisse Rapunzelsymbolik. Sie verweist auf die Abgeschiedenheit von der Welt, die in einem Turm – oder einer Hütte – ohne Ein- und Ausgang zum Ausdruck kommt. Hier kann sie als Verzicht auf Bewusstsein und Individualität im Harami/Bastard-Denken gedeutet werden. Von Nana, der Mutter, wird die Schuld auf Mariam als ihr Kind übertragen damit wird sie zu einer Form der Erbschuld: ‘Und so geben sie das Gefühl der Beklemmung, der Unsicherheit und Angst, dessen Opfer sie selbst sind, an ihre Töchter weiter.’ Nanas Suizid wiederum entspricht dem alten, bedeutsamen Mythos der Demeter/Persephone: Die Mutter ahnt das traurige Schicksal ihrer Tochter und geht ihr voran in die Welt der Toten, um dort auf sie zu warten. ‘Märchen deformieren die alte Mythenstruktur bewußt oder unbewußt und schaffen dadurch neue Bedeutungen und Zusammenhänge’. Tatsächlich findet sich in TSS eine gewisse Mythendekonstruktion durch das Märchenelement der Rapunzelsymbolik. Zugleich kommt es aber zu einer unmittelbaren Mythenrekonstruktion mittels der Interaktion zwischen dem alten Mythos, der Märchenform und dem Übergang zur modernen Fiktion in TSS, wie die Mythenneukonstruktion (Demeter/Persephone) beweist. Die Schuldproblematik selbst ist hier jedoch nicht abschließend geklärt, sondern wirkt weiter in der zweiten Hauptfigur in TSS, der Laila als Ehebrecherin und Hure. 4.3, (Medea) Laila – die Hure: You rise and shine on the back of your mother (the sky), having appeared in glory as […] [Queen] of the gods. Your mother Nut shall use her arms on your behalf in making greeting. Lailas Schuldproblematik besteht erst, seitdem sie ihre Eltern im russisch-afghanischen Krieg durch einen Bombenangriff verloren und ein Waisenkind geworden ist – was mit dem Status einer Harami gleichzusetzen ist und ein Bastard-Denken auch in ihr auslöst. Mit dem Verlust der Eltern verliert Laila an gesellschaftlichem Rückhalt. Ihr Bildungsweg endet hier, und sie wird mit 14 Jahren unfreiwillig die zweite Frau des alten Raschid neben dessen erster Frau Mariam. In sich trägt Laila allerdings das Kind ihrer Liebe mit Tarik, der das Land im Krieg verlassen und in das benachbarte Pakistan emigrieren musste. Zunächst schwanger und unverheiratet, dann verheiratet mit einem Mann, der nicht Vater des Kindes ist, verlagert sich das feminine Bastard-Denken auf Laila und geht automatisch auf ihr ungeborenes Kind über. Die Geschichte der Laila nimmt ihren Lauf in den Lügen gegenüber Raschid und zunächst auch gegenüber Mariam. Eine zweite Schuldproblematik kommt ins Spiel, als Laila eine Mädchen zur Welt bringt: die Tochter Aziza und nicht den lange ersehnten Jungen für Raschid. Tradierte religiöse, kulturelle und gesellschaftliche Muster kommen hier zum Tragen: ‘Die Geburt einer Tochter war für die Mutter seltener ein Anlaß zur Freude als die eines Sohns.’ Dies hat sich im Rahmen dynastischen Machtdenkens entwickelt. Und nicht zuletzt kommt drittens die Frage einer weiteren Schuld auf, da Laila die erzwungene Ehe mit Raschid aufgeben will. Das macht sie innerhalb der afghanischen patriarchalen Gesellschaft zu einer Fremden. Mariam ist eine Harami, und Laila wird zur Hure, wie sie es selbst ausdrückt: ‘the sad miserable woman’ (Mariam) and ‘the whore’ (Laila) (TSS 227). Hier ist das Muster der Medea in MS deutlich zu erkennen: Trotz der noch bestehenden Ehe mit Jason hält Medea die echte Liebe zu Oistros für wichtiger und kostet sie auch mit ihren erotischen Leidenschaften aus. Auch Laila hält ihre Jugendliebe zu Tarik trotz der Zwangsheirat und des unglücklichen Zusammenlebens mit dem alten Raschid in ihren Erinnerungen und Hoffnungen weiter lebendig.

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