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- Michel Tremblays „Les Chroniques du Plateau-Mont-Royal“: Eine Betrachtung der realistischen und phantastischen Elemente
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Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 07.2013
AuflagenNr.: 1
Seiten: 84
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Wider Erwarten sind ‚Les Chroniques du Plateau-Mont-Royal‘ nicht nur eine Familiengeschichte, die in die soziale und historische Realität Quebecs der 1940er und 1950er Jahre eingebettet ist, sondern sie werden ergänzt durch phantastische Elemente wie die tricoteuses, die mit ihrer Handarbeit das Schicksal der Bewohner rue Fabre lenken und später Marcel beim Erwachsenwerden helfen. Hinzu kommt Duplessis, die wiederauferstandene Katze, die nur von einigen ausgewählten Personen gesehen werden kann. Diese Elemente werden Teil der Betrachtungen in diesem Buch sein. In der vorliegenden Analyse wird dargestellt, wie Tremblay diese phantastischen Elemente verwendet und weiterhin aufgezeigt, dass sich für sie, zumindest was Marcel betrifft, logische Erklärungen finden lassen. Diese Argumentation verfolgt das Ziel, zu beweisen, dass sich der realistische Effekt der Chroniques auch durch die phantastischen Elemente nicht verliert.
Textprobe: Kapitel 2.4, Die Familie: Wie bereits erwähnt, ist Kinderreichtum ein wichtiges Merkmal der Quebecker Gesellschaft. Folglich kommt der Familie eine große Bedeutung zu. In diesem Abschnitt meiner Analyse möchte ich auf die Familienstrukturen in den Chroniques eingehen. Zwar beschreibt Tremblay neben Victoires Familie besonders in La grosse femme d’à côté est enceinte und Thérèse et Pierrette à l’école des Saints-Anges noch andere Familien wie beispielsweise Rita Guérins Familie oder die Côtés, da diese aber nicht von so großem Stellenwert sind wie Victoires Familie, werden sie kein Bestandteil meiner Betrachtungen sein. Ich werde mich also auf die Familie um Victoire beschränken. Die Familie besteht aus mehreren Generationen: Zunächst wäre da Victoire, dann ihre Kinder Gabriel, Albertine und Édouard. Hinzukommen Gabriels Ehefrau la grosse femme, die in Band 6 dann mit Nana bezeichnet wird, und ihre gemeinsamen Kinder Philippe und Richard, sowie das ein einziges Mal mit Namen erwähnte enfant, mit dem die grosse femme im ersten Band noch schwanger ist. Des Weiteren gibt es Albertine, deren Ehemann Paul nicht aus dem Krieg zurückkehrt, und ihre zwei Kinder Thérèse und Marcel. All diese Personen wohnen auf engstem Raum in der rue Fabre zusammen. Da bleibt es nicht aus, dass Zimmer geteilt werden müssen: ‘Richard partageait une pièce double, à l’avant de la maison, avec Victoire, sa grand-mère, et son oncle Édouard’ (GF 24). Obwohl Victoire das älteste Familienmitglied und auch das Familienoberhaupt ist, beansprucht sie kein eigenes Zimmer für sich. Die sich daraus ergebende mangelnde Privatsphäre führt dazu, dass ihre Momente der Schwäche nicht unbeobachtet bleiben: Seuls Richard et Edouard étaient au courant de ces longues nuits où Victoire, livide, fantomatique, se levait péniblement de son lit et se promenait dans sa petite chambre en murmurant: « V’nez me charcher, mon Dieu, v’nez me charcher, ou bedon c’est moé qui va aller vous rejoindre, pis vous avez pas fini de m’entendre vous crier par la tête !» (GF 57). Normalerweise gibt Victoire sich als starkes Familienoberhaupt und versucht durch diese Stärke, ihre Familie zusammenzuhalten. Nachts fühlt sie sich unbeobachtet und lässt sich gehen. Anscheinend hat sie genug vom Leben und wünscht sich den Tod. Vermutlich ist ihre Gesundheit der Grund dafür: ‘« Vous êtes pas capable, moman, vot’ jambe ! » « Ma Jambe m’a portée jusqu’au parc Lafontaine, est capable de me porter jusqu’au poêle, baptême ! Va t’assir, Bartine, pis essaye de prendre visage humain, pour l’amour du bon Dieu ! »‘ (GF 157/158). Inwiefern sie Schmerzen hat, die ihre Todessehnsucht erklären, geht aus dem Text nicht hervor. Klar ist allerdings, dass sie körperliche Beschwerden hat, diese aber durch ihre abweisende Art herunterspielt. Ähnlich reagiert sie, wenn sie in der Nacht von ihren Zimmergenossen ertappt wird: Parfois, Edouard se levait pour offrir de l’aide à sa mère mais elle le recouchait d’une seule phrase: « Si tu sentirais moins la boisson, j’s’rais peut-être capable de respirer ! » ou bien : « Dors en paix, j’paye pour tes péchés ! » Quand Richard, lui, demandait timidement à sa grand-mère si elle avait besoin de quelque chose, elle était moins bête mais tout aussi ferme : « Si j’me sus tenue deboutte jusqu’à aujourd’hui, c’est parce que chus-t’encore capable ! » (GF 57). Sie reagiert unterschiedlich auf ihre beiden Zimmergenossen. Édouard weist sie ab und erklärt ihm im gleichen Atemzug, dass sie seinen Lebensstil nicht gutheißt. Zunächst kritisiert sie den Alkoholkonsum ihres Sohnes. Des Weiteren führt sie an, für Édouards Sünden büßen zu müssen, was als ein Hinweis auf dessen sexuelle Orientierung und die damit verbundenen – in Victoires Augen verachtenswerten – Handlungen verstanden werden kann. Ihrem Enkel Richard gegenüber ist sie nicht ganz so direkt und persönlich verletzend. Victoires Art, Richard zu sagen, dass sie sich mittlerweile so lange ‘deboutte’, sprich aufrecht, gehalten hat und sie auch weiterhin dazu in der Lage ist, scheint der Versuch zu sein, Richard zu beruhigen und ihm so die Sorge zu nehmen, dass er seine Großmutter verlieren könnte. Das enge Zusammenleben beeinflusst aber nicht nur Victoire, Édouard und Richard, sondern auch Thérèse und Philippe, die in ihrer beginnenden Pubertät Interesse am anderen Geschlecht entwickeln. Die beiden Heranwachsenden übernachten im Regelfall auf dem gleichen Sofa, wobei sie die Möglichkeit haben, den Körper des jeweils anderen zu erkunden: Thérèse s’assit sur le bord du sofa. Philippe faisait semblant de dormir. Thérèse souleva les couvertures, se coucha à côté de son cousin et se blottit contre le corps grassouillet et doux du petit garçon. Elle colla sa bouche contre l’oreille de son cousin : « Si tu dors, ta p’tite affaire viendra pas raide ! » (GF 27/28). Aus Thérèses Worten ist zu erkennen, dass sie eine Reaktion von Seiten Philippes erwartet, was darauf schließen lässt, dass dies nicht das erste Mal ist, dass Thérèse sich ihrem Cousine auf diese Weise nähert und sie bereits weiß, welche Reaktion normal wäre. Aus den anfänglich rein körperlichen Stimulationen entwickelt Philippe aber übertriebene Besitzansprüche: ‘J’voulais pas que tu donnes à quelqu’un d’autre c’que chus t’habitué que tu me donnes, à moé !’ (DR 510). Mit diesen Worten begründet er, warum er dem Filmvorführer verraten hat, dass Thérèses Erlaubnis, an der Vorführung für die Jungen teilnehmen zu dürfen, gefälscht ist. Thérèse hat während der Filmvorführung Kontakt zu anderen Jungen aufgenommen, was ganz und gar nicht in Philippes Sinn ist. Die inzestuöse Beziehung zwischen Thérèse und Philippe löst bei letzterem Eifersucht aus, was nachvollziehbar beschrieben wird, während das zu erwartende Trauma bei einem der beiden Beteiligten außen vor gelassen wird. Das Verhältnis der Brüder Richard und Philippe ist zwar nicht inzestuös geprägt, aber dennoch schwierig: Quand il avait besoin d'argent, il venait brailler dans la chemise de Richard mais aussitôt que celui-ci lui avait donne une partie ou même la totalité de son avoir, Philippe disparaissait sans remerciements et repassait quelques minutes plus tard, un cornet de crème glacée ou de frites dans les mains, sans regarder son frère, « oubliant » de lui offrir une lichée ou une patate graisseuse (GF 71). Philippe präsentiert sich hier als sehr egoistisch. Er nutzt die Gutmütigkeit seines Bruder aus, um an Geld zu kommen, das er wiederum für eigentlich unnütze Dinge wie Eiscreme oder Pommes Frites ausgibt. Bereits in dem Moment, als er das Geld seines Bruders so gedankenlos ausgibt, denkt Philippe schon gar nicht mehr an Richard. Er beachtet seinen Bruder nicht, noch bietet er ihm an, von dem zu kosten, wofür sein Taschengeld ausgegeben wurde. Auch wenn Albertine und die grosse femme keine Schwestern sind, haben sie ein mehr oder weniger gutes Verhältnis. Albertine heißt zwar die späte Schwangerschaft ihrer Schwägerin nicht gut, kümmert sich aber dennoch um die grosse femme, als diese zum Ende ihrer Schwangerschaft das Bett hüten muss: ‘Albertine retira la bas¬sine d’entre les jambes de la grosse femme enceinte. « J’vas venir vous changer après le déjeuner. Vous devez avoir chaud sans bon sens… » La grosse femme avait froncé les sourcils. « T’es ben fine, à matin, Bartine ? » « J’vous expliquerai tout ça... »‘ (GF 29). Bereits hier lässt sich in Ansätzen erkennen, dass ein Vertrauensverhältnis Albertine und die grosse femme verbindet. Albertine wäscht ihre Schwägerin und kündigt an, ihr später etwas anzuvertrauen. Allerdings ist Albertine keine Frau, die ihre Gedanken und Gefühle kontrolliert zum Ausdruck bringen kann. Es ist eher typisch für Albertine, dass sich ihre Gefühle unerwartet ein Ventil suchen und plötzlich aus ihr herausplatzen. Daher ist es auch für die grosse femme immer wieder überraschend, wenn Albertine sich ihr anvertraut: ‘Elle avait senti que venait une de ces rares confidences de sa belle-sœur, ces confessions courtes autant que subites qu’Albertine laissait échapper dans les endroits les plus incongrus […]’ (GF 112). Die grosse femme wird aber nicht nur als Vertraute geschätzt, sondern auch als Ratgeberin: ‘La grosse femme avait toujours été franche avec sa belle-mère et cette dernière appréciait cette franchise, disant souvent de sa bru : « Est bête, mais bête correct. Est pas comme ma fille Albertine qui a tellement peur de moé qu’al’aimerait mieux mourir plutôt que de m’avouer qu’a’vient de casser une de mes assiettes. »‘ (GF 75). Für Victoire ist Ehrlichkeit die wichtigste Eigenschaft der grosse femme. Die Tatsache, dass die grosse femme Victoire ehrlich sagt, was sie denkt, zeigt, dass sie keine Angst vor ihrer dominanten Schwiegermutter hat. Im Gegensatz dazu steht Albertine, die sich offensichtlich vor ihrer Mutter fürchtet und sich daher nicht traut, ihr zu gestehen, wenn ihr ein Fehler unterlaufen ist. Innerhalb der Familie nimmt die grosse femme eine Sonderstellung ein – jeder vertraut sich ihr gerne an oder sucht ihren Rat, so auch Édouard: ‘« Assis-toé donc, Édouard, pis parle ! Ta mère dit n’importe quoi, les criquets t’énervent, que c’est qu’y a, là ! » Édouard se retourna, cala ses deux volumineuses fesses sur l’appui de bois qui plia un peu. « J’ai rencontré quelqu’un... »‘ (DR 466). Édouard bezieht sich mit ‘quelqu’un’ auf Samarcette, seinen späteren Lebensgefährten. In Zeiten, in denen Homosexualität ein Tabu war, ist es ein enormer Vertrauensbeweis, den Édouard der grosse femme hier erweist. Im Gegensatz zur grosse femme wollen andere Familienmitglieder nichts mehr mit Édouard zu tun haben, nachdem dieser sich zu seiner Transsexualität bekennt: ‘Et de la famille de la duchesse il ne restait à peu près personne qui lui parlât encore. Sa sœur Albertine s’était fait excuser, au salon funéraire’ (NE 629). Albertine hat offensichtlich mit ihrem Bruder gebrochen. Vermutlich ist es eine Schande für sie, dass ihr Bruder den Großteil seines Lebens als Kunstfigur la duchesse verbracht hat. Des Weiteren muss über die Familienstrukturen gesagt werden, dass ‘Victoire avait mené la maison d’une main de maître pendant des années’ (QL 946) und demnach für lange Zeit das Familienoberhaupt gewesen ist. Die Hierarchie innerhalb der Familie lässt sich an der Sitzordnung am Esstisch ablesen: Victoire trônait toujours à la même place, au beau milieu de la table, « sur la craque » comme disait Albertine, les bouts étant réservés aux deux pères de la maison : Gabriel et Paul. Depuis que Paul était parti à la guerre, Albertine, sa femme, s’était emparée de sa place d’une façon tellement impérative que Richard s’est mis à l’appeler « mon oncle Albertine » (GF 30). Ähnlich wie Victoire nach Télésphores Tod übernimmt Albertine Pauls Position innerhalb der Familie, nachdem dieser sich für den Kriegsdienst gemeldet hat. Zeitweise strahlt Albertine in dieser Position eine große Autorität aus, so dass ihr Neffe sie mit ‘mon oncle’ betitelt. Dieser scherzhafte Titel drückt dennoch aus, dass Richard seiner Tante Respekt entgegenbringt. Die Familienstrukturen lösen sich nach Victoires Tod auf. Während Édouard es vorzieht, sein Glück in der Travestie zu suchen, ziehen die einzelnen Familien aus der gemeinsamen Wohnung aus. Nach ihrer Heirat will Thérèse diese alte Ordnung wenigstens halbwegs wiederherstellen, indem sie die alte Wohnung in der rue Fabre erneut anmietet und ihre Mutter und ihren Bruder dazu auffordert, dort zusammen mit ihr einzuziehen. Dieses Unternehmen scheitert aber: […] d’avoir obligé ma mère, pis mon mari, pis mon enfant, pis mon frère, à déménager parce que je pensais que ça nous ferait du bien, à tout le monde, de revenir en arrière, pis d’essayer de tout recommencer en neuf ! Ça a pas marché, ça a fouerré comme chaque fois que quelqu’un de c’te maudite famille-là essaye de faire quequ’chose (OB 1153/1154). Zwar gelingt es Thérèse, ihre Mutter und ihren Bruder zum Einzug zu bewegen, aber es gibt bereits bei der Zimmerverteilung Streit. Wider besseren Wissens hat Thérèse diese Familienzusammenführung wahr gemacht und musste ihren Traum scheitern sehen. Die gemeinsame Rückkehr Thérèses mit ihrem Ehemann, ihrer Tochter, ihrer Mutter und ihrem Bruder in die Wohnung, in der sie ihre Kindheit verbracht hat, kann als der Versuch betrachtet werden, die quebeckische Idee von der Großfamilie zu leben. In diesem Falle hätte Thérèse sich als Familienoberhaupt verstehen können, denn sie hat die Wohnung gemietet und es war ihr Vorschlag, mit all diesen Personen dort zu wohnen. Notgedrungen wohnen alle diese Familienmitglieder dann auch wieder zusammen, aber die Ordnung wie sie unter Victoire geherrscht hat, kann nicht wiederhergestellt werden. Zunächst fehlt die grosse femme, die zu Victoires Zeiten eine Art Vermittlerrolle zwischen den einzelnen Figuren eingenommen hat und dann versucht Marcel, nach dem Tod der grosse femme, seine Mutter anzuzünden, was zur Folge hat, dass er in ein Heim muss. Somit bleibt in der rue Fabre keineswegs eine glückliche Großfamilie zurück, wie sie in der Quebecker Literatur oftmals idealisiert worden ist zurück. Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Familie zu den realistischen Elementen gezählt wird, da es innerhalb der Beschreibungen keine unerklärlichen Phänomene gibt. Allerdings stellt die Beschreibung von Victoires Familie das Gegenteil zur traditionellen Beschreibung der Familie in der Quebecker Literatur dar. In den Chroniques werden, statt einer idealisierten Darstellung der Großfamilie, auch die negativen Seiten des großfamiliären Zusammenlebens geschildert oder wie Ertler es formuliert: ‘[…] diese Familienverhältnisse [werden] von der Erzählung aufgegriffen und ad absurdum geführt, indem die sonderlichen psychischen Ausprägungen der einzelnen Familienmitglieder als Folge der erdrückenden und düsteren Kommunikationssituation zur Darstellung kommen’ (Ertler 196).
Patricia Awe, M.A. wurde 1983 in Magdeburg geboren. Ihr Studium der Kanadistik und Amerikanistik an der Universität Augsburg schloss die Autorin im Jahr 2009 mit dem akademischen Grad der Magistra Artium erfolgreich ab. Im Rahmen ihrer schulischen und universitäreren Ausbildung verbrachte die Autorin mehr als zwei Jahre in Kanada. Dabei entwickelte sie eine besondere Faszination für die französischsprachige Provinz Québec und deren Literatur. Derzeit ist Patricia Awe für einen großen deutschen Kommunikationsdienstleister im Bereich Training und Qualität tätig.
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