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Soziologie


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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 12.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 100
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Spätestens die Enthüllungen von Edward Snowden zur umfassenden Überwachung der weltweiten Internet-Kommunikation durch die NSA haben offenbart, dass sich Deutungsmuster, die noch vor kurzem von Behörden und Massenmedien als abstruse Verschwörungstheorien abgetan wurden, plötzlich als beunruhigende Realität erweisen können. Ziel dieser soziologischen Studie zum Thema Verschwörungstheorien ist es, ein Bewusstsein für die enorme Variabilität dieses Phänomens zu schaffen und eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand zu fördern. Hierzu werden zunächst die Idealtypen der Begrenzten und der Totalen Verschwörungstheorie nach Marc Lutter vorgestellt, die in dieser Studie als Arbeitsbegriffe herangezogen werden, um nach einem kurzen Abriss zur Historie der Konspirationstheorien unterschiedliche theoretische Konzepte zum Thema und deren Schwächen kritisch zu beleuchten. Anschließend werden mit Hilfe alternativer theoretischer Konzeptionen Anknüpfungspunkte erarbeitet, die einen Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand ermöglichen, der der Bandbreite des Phänomens gerecht wird und den Einfluss realer Verschwörungen auf Konspirationstheorien aufzeigen.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2.1, Die Psychodynamik von Verschwörungstheorien nach Hans-Joachim Maaz: Hans-Joachim Maaz verweist in seinem Aufsatz Zur Psychodynamik von Verschwörungstheorien darauf, dass nach der Deutschen Wiedervereinigung etliche Bürger erfahren mussten, dass der Aktionsradius des Staatssicherheitsdienstes der DDR ‘deutlich unter den Erwartungen seiner angsteinflößenden Macht lag [...]’.Mancher ehemalige DDR-Bürger habe es kaum fassen können, dass er nicht von der Stasi observiert worden war. Dies, so Maaz, spreche dafür, dass zahlreiche Menschen, ihre aus anderen Quellen gespeiste, latente Angst auf die Staatssicherheit projiziert hätten. So habe eine ‘verleugnete, innerseelische unbewußte Unsicherheit’ in der Stasi einen äußeren und bewusstseinsfähigen Anker der Bedrohung erblickt. Die Ursachen derartiger Ängste und Unsicherheiten könnten dabei vor allem in frühen Beziehungsstörungen der Mutter-Kind-Dyade gesehen werden. So habe die ‘[...] moderne psychoanalytische Forschung [...] in den letzten Jahrzehnten mit der Ich-Psychologie (Hartmann, Blanck) und den Objektbeziehungstheorien (Balint, Winnicott, Mahler, Kernberg) sowie der neueren Säuglingsforschung (Lichtenberg, Stern), die sich vor allem auf eine direkte Beobachtung der Mutter-Kind-Kommunikation stützen kann und nicht mehr den Säugling aus späteren Analysen rekonstruieren muss, den sogenannten ‘frühen Störungen’ eine besondere Bedeutung auch für spätere paranoische Einstellungen – wie sie für die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien erforderlich sind [...] ‘ beigemessen. Die Akzeptanz oder Ablehnung von verschwörungstheoretischen Deutungsmustern ließe sich demnach damit erklären, wie ein Individuum als Kind von seinen Eltern gewollt, angenommen und akzeptiert wurde. Ein unerwünschtes Kind, das Abtreibungsgedanken bis -versuche seiner Mutter überlebt habe, aber auch die vielen Kinder, die als Objekte vielfältiger Erwartungen und Bedürfnisse ihrer Eltern missbraucht wurden, seien Beipiele für eine Grunderfahrung von Ablehnung und Abwertung, welche ein grundlegendes Gefühl von Unsicherheit, Bedrohung und Misstrauen hinterlasse. Entscheidend, so der Psychiater, sei nach heutigem Wissen, ob ein Kind von Anfang an als Beziehungspartner seiner Eltern respektiert oder grundsätzlich als ein Erziehungsobjekt verstanden werde, das sich Zuneigung und Anerkennung der Eltern erst noch verdienen müsse, und zwar dadurch, dass es Erwartungen erfülle.Noch heute sei der Objektcharakter des Kindes die bei weitem häufigere Form der Eltern-Kind-Beziehung. Insofern sei verständlich, dass Ängste, Unsicherheiten, Minderwertigkeits- und Schuldgefühle massenhaft produziert würden, weil die Daseinsberechtigung damit ständiger Bestätigung bedürfe ‘und die Bemühungen, den Eltern gefallen zu wollen, in einer unendlichen Spirale nie wirklich zur Erfüllung gelangen können, oder erlebte Anerkennung sofort wieder den Mühen und Anstrengungen für neue Liebesbeweise Platz machen muss.’ Eine derartige defizitäre Erziehung könne fatale Folgen für die Entwicklung des Kindes haben: ‘Die pathogene Grunderfahrung von ‘Sei nicht!’ oder ‘Sei nicht so!’ wird häufig begleitet und verstärkt von ungenügendem Verständnis der Eltern für die Belange des Kindes und durch zu geringe Zeit für das Kontaktbedürfnis des Heranwachsenden. So bleiben wesentliche psychosoziale Grundbedürfnisse unbefriedigt, z.B. die notwendige Erfahrung, verstanden zu werden und ausreichend Schutz, Sicherheit, Anregung, körperlichen und seelischen Kontakt mit Bestätigung, Auseinandersetzung und Begrenzung zu erfahren. Das Kind als Objekt der Erziehung, letztlich das Objekt eines autoritären Beziehungsverhältnisses, das Einengung, Einschüchterung, Bedrohung und Strafe erfährt, und das Kind als Opfer von Defiziten an Liebe, Bestätigung, Förderung und Kontakten, erfährt im Laufe seiner Entwicklung eine psychosoziale Entfremdung, es lebt im psychosozialen Mangel und muss einen ‘Gefühlsstau’ ständig unter Kontrolle halten.’ Entfremdung in diesem Sinne bedeute ‘Entfremdung von den Möglichkeiten der Selbstentfaltung und statt ihrer die Entwicklung eines den Erwartungen und Normen entsprechenden Ichs.’ Denn, so Maaz, die ‘natürliche Möglichkeit des Kindes, mit seinen Gefühlen auf Unterdrückung, Entfremdung und Mangel zu reagieren, wird ihm in aller Regel durch Gefühlsverbote (Sei still, sei tapfer, beiß die Zähne zusammen, heule nicht, sei keine Heulsuse, werd ja nicht frech, beherrsch dich u.a.m.) ausgetrieben.’ Diese Gefühlsblockade und der damit verbundene Spannungszustand müsse dann ersatzweise abreagiert oder gedämpft werden, etwa in Form von Medikamenten- oder Drogensucht, aber auch anderen Formen süchtigen Verhaltens, wie Arbeitssucht, Leistungssucht, Spielsucht, Sexsucht, Konsumsucht, Geltungssucht und Machthunger. Andererseits seien derartige Gefühlsblockaden auch der Nährboden für Streit, Kampf, Gewalt und militante Auseinandersetzungen. So würden sich die wesentlichen Folgen einer frühen pathogenen Sozialisation in Entwicklungsstörungen mit Gefühlen der Selbstunsicherheit und Minderwertigkeit äußern, welche zu einer paranoiden Disposition mit blockierter Innenwahrnehmung führen könnten. Damit seien aber wesentliche Grundlagen für Dysfunktionen im gesellschaftlichen Zusammenleben vorgezeichnet. So schreibt Maaz: ‘Abhängige Menschen entwickeln Sehnsucht nach Führung und Erlösung, bedürftige Menschen entwickeln Süchte, selbstunsichere Menschen müssen kompensieren und drängen nach Macht, Geld, Geltung und Besitz bei gestörter Innenwahrnehmung bekommt der äußere Aktionismus besonderen Wert und die paranoide Disposition lässt Projektion wuchern mit einer starken Affinität, sich von außen bedroht zu fühlen, was Verschwörungstheorien und Feindbilddenken befördert.’ Da frühe seelische Not immer einen sehr bedrohlichen Charakter habe, müssten die seelischen Abwehrvorgänge sehr stark sein, woraus sich extreme soziale Positionen entwickelten. Dadurch werde auch dumpfe Gewalt, Fanatismus, irrationale Idealisierung u.ä. verständlich, denn der irrationale Charakter derartigen Verhaltens weise auf die erlebte existentielle Bedrohung hin, welche zum Schutz des eigenen seelischen Gleichgewichts weitergegeben, abreagiert oder anderen zugeschrieben werde. Auf der Grundlage dieses psychosozialen Verständnisses lasse sich eine allgemeine Psychodynamik von Verschwörungstheorien erstellen: ‘1. Es muss eine labile psychosoziale Basis in den Menschen vorhanden sein, die durch Entfremdung und Selbstwertstörung infolge früher psychosozialer Defizite entsteht. 2. Gelernte und bisher mögliche Kompensationsfolgen fallen plötzlich weg oder gelten nichts mehr (z.B. nach der politschen Wende in der DDR waren haltgebende politische Macht und ideologische Orientierung, reale soziale Karriere und berufliche Kompetenz und allgemeine Lebenserfahrung für sehr viele Menschen verloren und entwertet). 3. Neue Kompensationsformen greifen nicht (mit der deutschen Vereinigung ist für viele Ostdeutsche die Kompensation durch Geld, Besitz, Macht und Einfluss nicht im vergleichbaren Maße wie für Westdeutsche möglich). 4. Die reale Abwertung, Kränkung und Hoffnungslosigkeit reaktiviert frühe existentielle Ängste, die bisher verdrängt, verleugnet und kompensiert waren. 5. Zur Stabilisierung und Regulierung dieser inneren Bedrohung erfolgt ein psychosoziales Krisenmanagement, z.B. durch Erkrankung, durch Betäubung (Suchtmittel), durch Abreaktionen (Gewalt), durch Feindbild- und Sündenbockdenken (du bist schuld!) mit Verschwörungstheorien. 6. Dabei werden äußere Anlässe (reale Fehler, Schwächen, kriminelles Handeln) zum Träger der paranoischen Umdeutung der Realität.’ Verschwörungstheorien könnten somit als psychosozialer Abwehrprozess zum Schutz vor bedrohenden seelischen Inhalten verstanden werden. So deutet Maaz den in Ostdeutschland immer wieder vorgebrachten Vorwurf der Machenschaften ‘Alter Seilschaften’ als Phantasie, um die eigene erlebte Benachteiligung, die Verwirrung, Rat- und Hilflosigkeit, letztlich das persönliche Versagen und reale gesellschaftliche Ungerechtigkeiten nicht erleiden zu müssen, sondern einer imaginierten Macht zuzuschieben. Dabei folge das Verschwörungsdenken im Osten Deutschlands dem typischen Feindbilddenken, das entweder Mächtigere oder sozial Schwächere treffe. Die dramatische Zuspitzung von Verschwörungstheorien, so Maaz, ließe sich nur dadurch mindern, dass ‘die latente innerseelische Bedrohung erkannt und emotional verarbeitet werden könnte, noch besser präventiv vermieden würde durch ein verändertes Verständnis für die Entwicklungsbedingungen von Kindern, und wenn in der gesellschaftlichen Entwicklung ein hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit gewahrt werden könnte.’

Über den Autor

Roland Sonntag hat im Jahr 2007 das Studium der Soziologie, Ethnologie und Neueren und Neuesten Geschichte an der Albert Ludwigs Universität Freiburg mit dem akademischen Grad des Magister Artium erfolgreich abgeschlossen.

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