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Gesellschaft / Kultur

Benoit Tremsal

Die Kunstpraxis in der Mühl-Kommune. Wenn Leben und Kunst verschmelzen sollen

ISBN: 978-3-95935-284-0

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Produktart: Buch
Verlag: disserta Verlag
Erscheinungsdatum: 04.2016
AuflagenNr.: 1
Seiten: 120
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Anders als in zahlreichen bisher erschienenen Publikationen über die sog. Mühl-Kommune, die sich in unterschiedlichen Formen vom autobiographischen Bericht über kunsthistorische wie soziologisch - psychologische Betrachtungen bis zum Roman mit der Geschichte der Kommune im Ganzen beschäftigen, soll in der vorliegenden Arbeit zum ersten Mal der für die Kommune zentrale Aspekt der Kunst in all seinen Facetten und Widersprüchen in Theorie und Praxis detailliert veranschaulicht werden. Auch die Perspektive ist eine andere als die übliche: Als Künstler und langjähriger Kommunarde berichtet der Autor aus erster Hand und stellt die Entwicklung der Kommune unter dem künstlerischen Aspekt sehr konkret dar. Zudem steht nicht, wie in der bisherigen Literatur, ausschließlich die Person des Otto Mühl im Mittelpunkt, während die Kommunenmitglieder als schweigende, formbare Masse dargestellt werden. In der vorliegenden Schrift bekommen einzelne Kommunarden exemplarisch und stellvertretend in künstlerischer Hinsicht ein Gesicht und eine Existenz, indem ihr Werdegang in den letzten Kommunenjahren präzise geschildert wird. Damit wird klar herausgearbeitet: Nicht nur Mühl und seine engsten Vertrauten haben die Geschicke des Kollektiv-Experiments gelenkt, sondern auch einzelne Mitglieder nahmen Einfluss, z.B. indem sie Widerstand leisteten, als Mühls autoritär-autokratischer Führungsstil immer mehr an Fahrt gewann. Dem künstlerischen Widerstand kommt in den letzten Jahren der Kommune eine besondere Bedeutung zu, handelte es sich bei der Kunst doch gerade um das Haupt-Einflussgebiet des Otto Mühl, für das er sich von Beginn an ein Deutungs- und Lenkungsmonopol eingeschrieben hatte, und auf das er seine Autorität maßgeblich stützte.

Leseprobe

Textprobe: PROLOG, Insel La Gomera, 1988: Zurück zur Masse! Die Parole hat gesessen. Der rechte Arm von Otto zeigt dabei unmissverständlich in Richtung kollektiven Malplatz. Auf der als Freiluft-Malatelier eingerichteten Terrasse sind gerade ein paar Kommunardinnen in weißen Kitteln damit beschäftigt, den aktuellen Malstil des Großmeisters so getreu wie nur möglich nachzuahmen. Dabei wissen sie um die Vergeblichkeit ihres Bemühens. Wenn Otto von den Ziegenhöhlen herunterkommen wird, vor denen wir unsere eigenen Ateliers installiert haben, wird er die entstandenen Landschaftsbilder begutachten. Es wird sich zeigen, wie schlecht sie alle geworden sind. Eine der jungen Frauen wird Otto mit einem Lob beglücken. Nicht dass er wirklich denkt, das Bild sei gelungen. Nein, es geht ihm lediglich darum, die Konkurrenz unter den Frauen anzustacheln. Meine Bilder sind nicht mehr konform. Darum kann ich sie auch nicht auf dem offiziellen Malplatz malen. Sie entstehen im Verborgenen oder eben hier, hoch oben über der Finca, wo Otto und sein Gefolge eigentlich nie vorbeikommen. Jemand muss bemerkt haben, dass hier etwas passiert, uns möglicherweise ausspioniert und dann Otto berichtet haben. Jetzt steht er da in Begleitung von fünf Frauen, die erstaunlich still sind. Sie wissen offensichtlich nicht, wie sie sich angesichts der besonderen Situation verhalten sollen. Sogar Claudia , die sonst nie um einen bissigen Kommentar verlegen ist, sagt nichts. Es ist Otmar, der die Ziegenhöhlen hier entdeckt hat. Die größte und verborgenste, von den Terrassen unten nicht einsehbar, hat er so eingerichtet, dass er sein Material, sein Werkzeug, Teile seiner Kunstproduktion und nicht zuletzt die eine oder andere Flasche Palmenschnaps geschützt unterbringen kann. Außerdem kann er von hier aus schnell in die Berge verschwinden und sich auf den dreistündigen Weg nach Playa de Santiago machen, wo er sich mit alkoholischen Getränken versorgen kann. Auch Dieter war auf der Suche nach einem verborgenen Platz und hat schnell verstanden, dass dieser Ort ihm die Ruhe bieten kann, die er für seine Schreibarbeit braucht. Dazu fühlt er sich in Nachbarschaft von Otmar gut aufgehoben, begehren doch beide seit Monaten schon gegen die allgemeinen Stumpfheit und die absolute Autorität des Otto Mühl auf. Er hat es sich rechts außen am oberen Rande einer Staumauer bequem gemacht. Blöd nur, dass man, kaum dass er aufsteht, ihn von der Malterrasse aus sehen kann. Den bereits besetzten Standort hatte ich entdeckt, als Otmar auf einer kleinen Terrasse in der Nähe eine wilde Materialaktion ausgeführt hatte: desaster in rot wurde sie nachträglich genannt. Das Ganze wurde gefilmt. Außer dem Kameramann und mir gab es keine Zeugen. Wir wohnten einer intensiven Materialschlacht bei, bei der Otmar seinen Ärger über den übermächtig gewordenen Freund und seine Verzweiflung über die eigene Situation abarbeitete. Die mittlere Höhle war noch frei also überlegte ich tagelang, ob ich dort einziehen sollte. Wochen zuvor hatte ich intensiv angefangen, Bilder zu zeichnen und zu malen, die mit der Bildsprache, die Otto von den Kommunarden forderte, nichts mehr zu tun hatten. Schnell hatte ich gemerkt, dass diese Freiheit, die ich mir nahm, mir sehr gut tat. Ich hatte den etwas pathetischen Entschluss gefasst, endgültig Künstler zu werden und von nun an künstlerisch meine eigenen Wege zu gehen. Als ich eines Nachmittags mit meinen Stiften und Pinseln an den Höhlen ankam, löste dies nicht gerade einen Sturm von Begeisterung aus. Otmar guckte mich schief an: Wos wuist’n du? . Dieter empfahl mir in seiner kultivierten Art, doch besser nicht zu bleiben es könne mir Probleme bereiten, mit Aufsässigen gemeinsam gesehen zu werden. Ich blieb und kam täglich wieder. Zu genial, zu locker, zurück zur Masse! Heute ist der 22. April 1988. Immerhin hat sich Otto die Mühe gemacht, die etwa hundert von mir in den letzten Tagen gemalten oder gezeichneten Blätter in schnellem Durchgang anzuschauen. Es kann ihm nicht gefallen, doch das eine oder andere Blatt ist offensichtlich nicht schlecht. Das kann ich an seiner Reaktion erkennen. Inhaltlich ist das alles viel zu persönlich und formal viel zu weit entfernt davon, was auf der Malterrasse vorgeschrieben wird, dass er das durchgehen lassen kann. Daher die Invektive. Dieter und Otmar sehen sich die Szene in aller Ruhe an. Es ist längst allgemein bekannt, dass die beiden ihr eigenes Ding machen. Akzeptiert ist das nicht, allerdings haben weder Otto noch seine schlauen ersten Frauen eine Strategie gefunden, die beiden wieder auf Kurs zu bringen. Also lässt man sie gewähren. Man ist ja schon froh, wenn es dabei bleibt, dass sie ihr eigenes Ding machen und nicht anfangen zu agitieren. Dies übrigens gilt nicht nur für Otmar und Dieter, sondern auch für Bella und für Wolf Rudolfson (Name verändert). Auch sie haben bereits vor Monaten – Bella sogar noch früher – mit einer eigensinnigen Kunstproduktion angefangen. Dabei stellt das im Falle von Rudolfson eine echte Überraschung dar. Wer hätte das gedacht? Dieser kleine unscheinbare Kunstlehrer nimmt am Friedrichshof einen Raum in Besitz –ein sonst nur für Otto Mühl reserviertes Privileg – und baut eigenmächtig Objekte und große Skulpturen aus unterschiedlichen Abfallmaterialien und Pappmaché, die ein vollkommen anderes Weltbild vermitteln als die offizielle Mühlkunst. Man diskutiert im ersten BAG . Wie kann man dem beikommen? Was soll man unternehmen? Soll man ihn zum Ausziehen anregen, ihm dafür Geld geben, dass er die Kommune verlässt? Was ist dann mit seiner Tochter? Zieht sie dann auch aus ? Bella wurde von Otto so umbenannt, da sie denselben Vornamen trug wie Ottos liebstes jugendliches Mädchen. Seit einigen Jahren praktiziert sie insgeheim an verschiedenen Orten am Friedrichshof eine existentielle Kunstform, die über eine Kunsttherapie weit hinaus geht, jedoch von ihr selbst eher als solche betrachtet wird. Ich antworte nicht. Ich weiß, dass jeder Versuch, mich zu rechtfertigen zwecklos ist, dass dann die Frauen loslegen werden: Unmöglich! Er glaubt wohl, er kann es besser als du, er ist total größenwahnsinnig! Da meinerseits keinerlei Reaktion kommt, entscheidet Otto nach einer Weile, Richtung Malterrasse aufzubrechen. Er dreht sich halb um und wirft mir mit kreischender Stimme zu: Und dort unten ist dein Platz zum Malen! . Otto hat sich verändert. Ein Berserker war er zwar schon immer, wenn es um die Kunst ging aber er konnte auch sanft, einfühlsam und väterlich sein. Als Künstler war er nach wenigen Jahren des Aktionismus bereits legendär. Obendrein übte er mit seinen utopischen Gesellschaftsideen, mit seiner unglaublichen Vitalität und seiner scheinbar unerschöpflichen Fantasie eine enorme Faszination auf jeden aus. Kurzum ein wahrlich stark charismatischer Mensch. Als ich ihn 1978 das erste Mal persönlich traf, war er gerade in seinem damals noch recht kleinen Atelier mit Schreiben beschäftigt. Noch tippte er seine Texte selbst . Als wir – vier Franzosen – eintraten, stand er sofort mit einem überbreiten, warmen, verschmitzten Lächeln auf und umarmte einen nach dem anderen intensiv, sanft und kräftig zugleich. Wir alle waren von seiner extremen Empathiefähigkeit augenblicklich überwältigt. Keine Frage: ich hatte meine Heimat gefunden! Jetzt, 10 Jahre später, ist von alledem nichts mehr übrig geblieben. Letzte Woche war Harald Szeemann zur Besuch. Da er für seinen Meister nur das aller Beste möchte, hatte Ottos Kunstmanager Theo Altenberg den derzeitigen größten und berühmtesten Ausstellungsmacher nach La Gomera eingeladen. Das Guggenheim Museum in New York scheint gerade gut genug, um den besten Maler der Gegenwart in einer exklusiven, großen Retrospektive der Welt zu offenbaren. Alle Register werden gezogen. Wichtige und unwichtige Persönlichkeiten der Insel werden eingeladen. Mit denen kann sich Otto eher ungezwungen zeigen als nur mit den unterdrückten Kommunarden. Es wird gefeiert, was das Zeug hält. Es wird gemalt. Otto steigt in große Gummistiefel und betritt unter Begeisterungsschreien der Zuschauer die am Boden liegende, bereits mit kiloweise Acrylfarbe vorbereitete Leinwand. Von kräftigen Männern gestützt, schlittert er auf dieser hin und her, bis ein Zustand erreicht ist, der einem fertigen Bild entsprechen soll. Dann schallt es aus dem begeisterten Publikum: Toll! Irre toll! Unglaublich!… Auch Szeemann ist begeistert. Danach geht’s ins Atelier im Herrenhaus. Dicke kubanische Zigarren werden angezündet, bester weißer Rum fließt. Die einfachen Kommunarden bleiben draußen.

Über den Autor

1952 in Frankreich geboren und dort aufgewachsen, studierte der Autor in den frühen 1970ern Musik und Klavier. Er verbrachte ab 1978 13 Jahre in der vom Wiener Aktionisten Otto Mühl 1970 gegründeten Kommune in Österreich, Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und auf den Kanarischen Inseln. Während der gesamten Dauer seines Kommunenaufenthaltes setzte er sich intensiv mit Kunst - insbesondere Zeichnung und Malerei - auseinander und traf wichtige Künstler dieser Zeit. Seit 1988 lebt Tremsal in Deutschland und ist seit 1991 als freischaffender bildender Künstler tätig. Als solcher hat er neben Ausstellungen mit Objekten und Installationen auch zahlreiche große Projekte im öffentlichen und ländlichen Raum in mehreren Ländern Europas realisiert.

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