Suche

» erweiterte Suche » Sitemap

Gesellschaft / Kultur


» Bild vergrößern
» weitere Bücher zum Thema


» Buch empfehlen
» Buch bewerten
Produktart: Buch
Verlag: disserta Verlag
Erscheinungsdatum: 04.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 172
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Obwohl unser Rechtssystem von einer individualistischen Strafauffassung ausgeht, lebt kein Individuum und daher auch kein Rechtsbrecher losgelöst von sozialen Beziehungen, sodass mit der Zahl der Gefangenen auch die Zahl der Angehörigen steigt. Schätzungen sprechen in Österreich von ungefähr 20 000 bis 30 000 Mitbetroffenen des Strafvollzuges. Während es eine große Menge an wissenschaftlicher Literatur und empirische Studien zur Gefangenenpopulation gibt, bleiben die in der Regel multiplen Problemlagen der Angehörigen weitgehend ausgeblendet. Sie gelten auch in Österreich nach wie vor als eine vernachlässigte Zielgruppe der Forschung und auch der Sozialarbeit. Ich gehe in meiner Arbeit der Frage nach, welche spezifischen Betreuungsangebote weibliche Familienangehörige von österreichischen Strafgefangenen benötigen, insbesondere um das Familiensystem bzw. die Beziehung so weit zu stabilisieren, dass sie auch nach der Haft noch aufrecht und damit als Ressource für die gesellschaftliche und berufliche Wiedereingliederung vorhanden sind.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 8, Ausblendung der Angehörigen aus Wissenschaft und Forschung: So wie das Thema Angehörige von Inhaftierten nicht wirklich existent erscheint, so langwierig und mühevoll gestaltete sich auch die Literaturrecherche. Die Auffindung des schwer zugänglichen und teilweise bereits vergriffenen Materials dauerte nahezu ein Jahr. Die in meiner Arbeit verwendeten Materialien und Literatur sind vorwiegend aus dem deutschsprachigen Raum und zumeist aus den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Eine Ausnahme ist die systematische und repräsentative Untersuchung von Pauline Morris (1965), die in den 1960er Jahren in Großbritannien 837 inhaftierte Männer und 588 Ehefrauen zu ihrer Situation befragte. Die Arbeit von Morris ist, sowohl im angloamerikanischen wie auch im deutschsprachigen Raum, die bislang umfangreichste Studie zu diesem Problemkreis und für meine Arbeit insofern von Bedeutung, als sie - meinen Recherchen zufolge - die einzige Langzeitstudie The intensive sample (Morris 1965:165f) auf diesem Gebiet enthält. Allerdings untersuchte Morris im Unterschied zu meiner Studie nur Familien, wo der Strafrahmen des Ehemannes zwischen 15 Monaten und zwei Jahren lag. Die bis dato wichtigste Arbeit zu dieser Problemstellung im deutschsprachigen Raum ist eine empirische Studie im Auftrag des deutschen Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit aus dem Jahre 1987, durchgeführt von Max Busch, Paul Fülbier und Friedrich Wilhelm Meyer. Für diese repräsentative Studie wurden 366 inhaftierte Männer und 135 Ehefrauen und Partnerinnen von Inhaftierten interviewt (vgl. Busch et al. 1987a:30f). Aufgrund ihrer gewonnenen Erkenntnisse wurde eine umfangreiche Hilfeplanung entwickelt, bis heute jedoch kaum eine der damals vorgeschlagenen Verbesserungen umgesetzt (vgl. Kern 2002:1). Jedoch sind die Erkenntnisse von damals immer noch weitgehend gültig, da sich an der Situation der Familien und Angehörigen von Inhaftierten im Wesentlichen nichts verändert hat. Ganz aktuell ist eine Untersuchung aus Österreich von Lukas Kollmann (Befragung von 85 Angehörigen von Inhaftierten in vier österreichischen Justizanstalten, davon 78% Frauen) über die Kontakte von Strafgefangenen zu ihren Angehörigen, die er 2005 im Zuge seiner Dissertation verfasste und mir dankenswerterweise zur Verfügung stellte. In recent years a great deal of attention has been focused on the delinquent inside an institution…but so far as we know there has been no systematic attempt in this country to study the families of men experiencing separation as a result of imprisonment.” Diese Feststellung von Pauline Morris (1965:17) aus den 60er Jahren hat leider bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Obwohl aufgrund steigender Insassenzahlen in Österreichs Gefängnissen die Problematik aktueller denn je ist, gibt es im gesamten deutschsprachigen Raum kaum wissenschaftliche Studien und wenig aktuelle Fachliteratur zu diesem Thema. Dadurch unterscheidet sich die Behandlung der Probleme Angehöriger von Inhaftierten in Wissenschaft und Forschung von anderen sozialwissenschaftlichen Problemstellungen (vgl. Busch et al.1987a:27). Anders als im anglo-amerikanischen Sprachraum (Busch et al. 1987a:128), wo bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Untersuchungen zur Lage von Angehörigen durchgeführt wurden, beschäftigt sich, laut Busch et al. (1987a:28), die wenige deutschsprachige Fachliteratur in Form wissenschaftlicher Arbeiten, praxisorientierter Darstellungen, Diplom- und unveröffentlichter Abschlussarbeiten hauptsächlich mit Teilfragestellungen der Probleme Angehöriger. Busch (ebd.:29) bezeichnet die Forschung insgesamt als bruchstückhaft und unzureichend. Die Ausblendung der Angehörigen aus Wissenschaft und Forschung korrespondiere mit ihrer Ausblendung aus anderen Bereichen. So würden nach wie vor grundlegende Daten über den Umfang und die Struktur dieser Gruppe fehlen. Dies ist auch nach Meyer (1983:20) symptomatisch für das Phänomen der Ausblendung der Angehörigen. Weder die Viktimologie als Teil der Kriminologie, die für die Problemstellung der Angehörigen von Inhaftierten prädestiniert zu sein scheint, noch die Familiensoziologie haben laut Meyer (1983:26) die Gruppe der Angehörigen von Inhaftierten als Teil ihrer wissenschaftlichen Theoriebildung entdeckt. Während erstere ihr Interesse hauptsächlich auf die Opfer als unmittelbar geschädigte Personen krimineller Handlungen legt, scheint den FamiliensoziologInnen die Gruppe der Angehörigen seit jeher verborgen geblieben zu sein. Meyer kritisiert an dieser Stelle vor allem, dass die Angehörigen nur in ihrer nachgeordneten Bedeutung für den Hauptakteur, den Mann, ins Blickfeld wissenschaftlicher Betrachtung gelangen. Die diesem Phänomen inhärente Perspektive fokussiere auf den Mann und seine Lebenswelt, lasse ihn zum Mittelpunkt und Ausgang von Betrachtungen werden. Der Hauptgrund dieses - nach Meyer - sexistischen Zugangs liege in der sozialen Dominanz des Mannes, über den nach wie vor der soziale Status der Familie definiert werde (Meyer ebd.:27), während die Frau vor allem in ihrer Rolle als Resozialisierungsinstanz für den straffälligen Mann beurteilt werde. Erhard und Janig (2003: 155) kritisieren vor allem die Ausblendung der mitbetroffenen Kinder in der psychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung in Österreich, obwohl ihrer Ansicht nach weder ihre Zahl noch ihre Belastungen gering sein dürften. Als weiteres Symptom für die Unwichtigkeit dieses Themas sehe ich auch die Ablehnung einer finanziellen Unterstützung meiner Studie durch alle von mir kontaktierten Behörden und Organisationen. 8.1, Mögliche Ursachen der Ausblendung: Obwohl die Angehörigen von Inhaftierten unter enormem Druck stehen, multiple Problemlagen haben und daher professioneller Hilfe bedürfen, gelten sie nach wie vor als eine vernachlässigte Zielgruppe der Forschung und auch der Sozialarbeit. Sie tauchen in der anonymen Masse unter und treten lediglich als Teil des Klientels sozialer Institutionen - sofern sie diese überhaupt erreichen - in Erscheinung (Meyer 1983:1). 8.2, Die Thesen von Pilgram: Diese Problematik führte 1977 den österreichischen Rechts- und Kriminalsoziologen Arno Pilgram zu folgender Überlegung: In der Wissenschaft ist kein geringes Interesse am Strafvollzug der Gesellschaft und an Strafgefangenen vorhanden, hingegen eine weit reichende Ausblendung der Angehörigen Gefangener zu beobachten (Pilgram 1977:44). Als Ursache dieses Missverhältnisses führt er folgende vier Thesen an: Die Gründe liegen 1. in der individualistischen Schuld- und Strafauffassung im Recht, 2. in der zentralen Stellung der Freiheitsstrafe im Strafsystem, 3. in der kriminalistischen Orientierung der Kriminologie, 4. in der geringen Artikulations-, Organisations- und Konfliktfähigkeit der Betroffenen (Pilgram ebd.:44). Die vierte These untermauert Pilgram (1977:50) vor allem damit, dass er die Angehörigen Gefangener als inhomogene, verstreute und unterschiedlich situierte Gruppe bezeichnet. Das gemeinsame Interesse mache nur einen Teil ihrer Lebensinteressen aus. Die betroffenen Personen, bei denen es sich größtenteils um Frauen, Kinder oder ältere Leute handle, deren gesellschaftliche Leistung kaum relevant sei, befinde sich zumeist in wirtschaftlich prekären Verhältnissen, welche keine Verschlechterung zulassen. Auch berge eine Organisation von Angehörigen die Gefahr, mit dem diskriminierten Status des Straftäters identifiziert zu werden. Somit seien Strategien der Verheimlichung, der Trennung und Verselbstständigung naheliegender als die Bekämpfung dieses Status. Weiters trage diese geringe Artikulations-, Organisations- und Konfliktfähigkeit der Betroffenen auch dazu bei, dass um ihre Problemlage in der Öffentlichkeit Ruhe herrsche. Ein Punkt, der Pilgrams vierter These beigefügt werden müsste, ist auch das Faktum, dass der Status als Angehörige/r eines/er Inhaftierten zwar von zeitlicher Begrenztheit ist, aber in der Dauer erheblich variiert (vgl. Meyer 1983:29). Dadurch ist die Gruppe der Angehörigen nicht konstant, sondern einer ständigen Veränderung unterworfen.

Über den Autor

Christiane Hundsbichler arbeitet als Bewährungshelferin und Gruppentrainerin beim Verein NEUSTART in St.Pölten/Niederösterreich.

weitere Bücher zum Thema

Bewerten und kommentieren

Bitte füllen Sie alle mit * gekennzeichenten Felder aus.