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Pädagogik & Soziales


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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 07.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 104
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Die vorliegende Studie basiert auf einer Diplomarbeit aus dem Jahre 2006, die in einigen Bereichen überarbeitet wurde und sich ansonsten auf dem damaligen Stand befindet. Das Buch gibt einen Einblick in die Sozialpädagogische Familienhilfe mit gehörlosen Eltern und hörenden Kindern und die daraus entstehenden oder damit zusammenhängenden Anforderungen, die sich vor allem auf Fachkräfte und Einrichtungen beziehen, die mit dieser Zielgruppe arbeiten. In Deutschland leben ca. 80.000 gehörlose und eine noch höhere Anzahl hochgradig schwerhöriger Menschen, die sich nicht über Lautsprache verständigen können. Da unsere Gesellschaft auf hörende Menschen ausgerichtet ist und das Leben in ihr auf der Lautsprache basiert, stoßen gehörlose Menschen immer wieder auf Kommunikationsbarrieren. Wenn sie aber mit anderen Betroffenen zusammen sind, existieren diese Probleme in der Regel nicht. Aufgrund dessen spricht man von zwei Welten, in denen sich gehörlose Personen bewegen. Auf der einen Seite die Welt der Gehörlosen, in der sie sich ohne Probleme aufhalten, in ihr leben und kommunizieren können und auf der anderen Seite die auf Lautsprache ausgerichtete Welt der Hörenden.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 4.2.1, Situation der hörenden Kinder innerhalb der Familie: Hörende Kinder gehörloser Eltern leben, genau wie ihre Eltern, in zwei Welten (vgl. Diller 1988: 78). Ihre psychosoziale Situation ist durch viele an sie gestellte Anforderungen sowie unterschiedliche Erlebnisse geprägt. Schon im Säuglingsalter lernen sie, dass ihr Schreien von den Eltern nicht wahrgenommen wird und sie somit keine sofortige Zuwendung erreichen können. Daraus folgend entwickeln schon sehr kleine Kinder die Fähigkeit, sich auf die Gehörlosigkeit der Eltern einzustellen. ‘In einem sehr frühen Alter .. ‚wissen’ sie [bereits], daß akustische Informationen und Signale nur in sehr unvollkommener Weise oder gar nicht von ihren Eltern aufgenommen werden können.’ (Funk 1997: 385) Nur durch Sicht- und Körperkontakt kann Kommunikation aufgebaut und die fehlende akustische Kontrolle der Eltern kompensiert werden. Aufgrund dessen müssen die Eltern ihr Kind immer im Blickkontakt behalten, um sicher gehen zu können, dass alles in Ordnung ist. Durch diese ständige Präsenz und Kontrolle können Eingriffe in die Intimsphäre des Kindes nicht vermieden werden, durch die sich das Kind gestört fühlen kann, insbesondere wenn es älter wird. Es besteht aber auch das Risiko, dass die Eltern nicht rechtzeitig bemerken, wenn ihr Kind Hilfe braucht (vgl. ebd.: 387). Diese Situation kann in der Familie Ängste auslösen, die besonders nachts zu Verunsicherungen oder sogar zu Schlafstörungen führen können (vgl. Largo-Renz 1992: 26), da sie immer präsent sind. Mit zunehmendem Alter fühlen sich hörende Kinder in ihren gehörlosen Familien oft wie ‚zwischen zwei Stühlen’. Sie werden auch als ‘Brückenmenschen’ (Straßer 1998: Titel) bezeichnet. Das Kind wird geboren und kann hören. Die gehörlosen Eltern werden dadurch in die Situation gebracht, sich erstens erneut mit ihrer eigenen Behinderung auseinander zusetzen, und dies auch während der Entwicklung ihres Kindes immer wieder tun zu müssen (vgl. Funk 2000: 272). Zweitens müssen die Eltern sich im alltäglichen Leben der neuen Kommunikationssituation stellen. Ein hörendes Kind kann hierbei als ‚Brücke’ zur hörenden Welt gesehen werden. Die Teilnahme am Leben wird erleichtert, da das Kind zum Beispiel dolmetschen kann. Viele der Eltern nehmen auch an, dass das Kind nicht nur hören, sondern zusätzlich auch vieles andere kann, was sie selbst nicht können. ‘Infolge dieser Annahme kommt es zur Überschätzung der Möglichkeiten des eigenen Kindes.’ (Tratzki 2002: 63) Sabine Goßner (hörendes Kind gehörloser Eltern) sagt in dem Dokumentarfilm ‘Brückenmenschen’, dass die Gebärdensprache als Kommunikationsmittel zwar oft ein Vorteil ist, wie zum Beispiel in der Situation, dass man sich mit den Eltern unterhalten will und andere auf der Straße es nicht hören sollen. Unterschwellig wird aber immer mehr verlangt, da das Kind hören kann (vgl. Straßer 1998: 9. Min. f.) und von vielen Eltern das bloße ‚hören können’ mit ‚alles verstehen’ gleichgesetzt wird. Es besteht somit die Gefahr, dass auf die reguläre Entwicklung des Kindes nicht geachtet wird. In vielen Fällen wissen die Eltern aber auch gar nicht, wie Kinder sich entwickeln und worauf hierbei geachtet werden muss. Diese Situation kann vor allem durch das Dolmetschen verdeutlicht werden. Die hörenden Kinder werden schon in sehr geringem Alter in die Situation gebracht, für die Eltern übersetzen zu müssen. Dies findet in vielen Bereichen statt, wie zum Beispiel am Telefon, bei geschäftlichen Angelegenheiten, bei privaten Gesprächen, in der Schule, für Fernsehfilme und bei Arztbesuchen. Die Eltern übergeben dabei dem Kind eine große Verantwortung, setzen aber auch großes Vertrauen in es, da sie sich auf das Kind verlassen. Gerade bei Telefonaten sind sie völlig auf das Kind angewiesen, weil sie kein Gegenüber sehen, somit nicht von den Lippen ablesen und auch keine Mimik und Gestik deuten können (vgl. Tratzki 2002: 62 f.). Kinder werden hierdurch schnell überfordert und ihre Fähigkeiten von den Eltern überschätzt (vgl. Funk 1997: 391). Sie müssen Inhalte übersetzten, deren Bedeutung sie noch nicht verstehen und eventuell auch keine Worte und Gebärden hierfür haben. Wenn das Kind selbst Inhalt des Gesprächs ist, zum Beispiel beim Elternsprechtag in der Schule, werden gerne negative Aspekte weggelassen und somit der Inhalt für die Eltern positiv dargestellt oder aber Äußerungen der Eltern werden nicht genau oder gar nicht übersetzt, weil sie dem Kind peinlich sind (vgl. Straßer 1998: 6. Min.). Ferner wird dem Kind durch das Dolmetschen und Unterstützen seiner Eltern viel von der eigenen Zeit genommen. Zum Teil werden die Kinder aus der Schule geholt, weil sie als Übersetzer für wichtige Gespräche gebraucht werden (vgl. Geisert 2003: 8 Link, 1997). Hierunter leidet die Entwicklung des Kindes, da die eigenen Bedürfnisse ‘... nämlich Kind sein zu dürfen, [und] keine Erwachsenenverantwortung zu übernehmen’ (Geisert 2003: 8) weniger Berücksichtigung finden. In Situationen des Dolmetschens muss das Kind immer zwei Seiten gerecht werden und hat somit eine Doppelrolle inne. Es muss zum einen den Inhalt vermitteln und fühlt sich zum anderen für diesen verantwortlich. Zum Beispiel muss das Kind bei schlechten Nachrichten oder negativer Kritik befürchten, dass es hierfür als Schuldiger gerade stehen muss. Hieraus kann sich eine hohe emotionale Belastung entwickeln, durch die in der Regel eine weitere Überforderung des Kindes entsteht (vgl. ebd.: 7). Die sprachliche Überlegenheit der Kinder kann aber auch zu einer Machtposition innerhalb der Familie führen. Zum einen können die Kinder Gesprächsinhalte zu ihren Gunsten verändern, zum anderen haben sie häufig mehr Freiräume als andere Kinder, da ihre gehörlosen Eltern in der Regel keine Möglichkeiten haben, bestimmte Situationen zu überprüfen oder zu kontrollieren (vgl. Bull 1997: 173). Mit zunehmendem Alter und Sprachkompetenz wird den Kindern bewusst, dass sie gebildeter sind als ihre Eltern. ‘Mit der Zeit und der sich wiederholenden Erfahrung wird der Schluss von der mangelhaften Sprachbeherrschung der Eltern auf ihre allgemeine Inkompetenz unausweichlich und es wird zur Gewissheit, dass der Horizont der Eltern beschränkt ist.’ (Ebbinghaus/ Hessmann 1989: 129 zit. n. Tratzki 2002: 65) Hierdurch kann zum einen die Machposition der Kinder gefestigt, zum anderen aber auch die Verantwortungshaltung gegenüber den Eltern gestärkt werden. Im Zuge der technischen Entwicklung kann sich die Situation der Kinder bezüglich des Dolmetschens entspannen. Zum Beispiel können gehörlose Menschen durch Bild- und Mobiltelefone, Faxgeräte oder auch das Internet einfacher untereinander oder mit anderen hörenden Menschen kommunizieren, wofür aber in der Regel eine einigermaßen gute Schriftsprachkompetenz notwendig ist. Außerdem setzen diese Hilfsmittel technisches Geschick und finanzielle Ressourcen voraus, da sie nicht unbedingt von den Krankenkassen oder Integrationsämtern bezahlt werden. Allgemein herrscht eine größere Bindung der Kinder an die Eltern vor als bei anderen Familien. Vor allem, wenn die Kinder ihre Eltern viel unterstützen und dolmetschen, besteht ein enges familiäres Band, welches später auch bei der Ablösung aus dem Elternhaus eine Rolle spielt. Die hörenden Kinder fühlen sich dann weiterhin für ihre Eltern verantwortlich. Dies wird durch die Aussage ‘... was tun die denn ohne mich’ (Straßer 1998: 9. Min.) von Frau Goßner (s.o.) gut veranschaulicht. Viele Kinder bleiben in der Nähe ihrer Eltern wohnen, um für sie zur Verfügung zu stehen, da sie der Ansicht sind, dass die Eltern immer Hilfe brauchen werden (vgl. BG e.V. 2003: 35 f.). 4.2.2, Situation der hörenden Kinder außerhalb der Familie: Wenn hörende Kinder in gehörlose Familien geboren werden, kommen sie automatisch auch mit der Kultur der Gehörlosen in Kontakt. Ihre Eltern sind meistens in Gehörlosenvereinen aktiv und nehmen dort an Veranstaltungen teil, außerdem besteht auch der Freundeskreis in der Regel aus gehörlosen Menschen (vgl. Funk 1997: 383). Das hörende Kind lernt somit diese Kultur kennen und sich in ihr bewegen. Außerdem besteht hier die Möglichkeit, seinesgleichen zu treffen, sich auszutauschen und sich nicht alleine mit der eigenen speziellen Situation zu fühlen (vgl. ebd.: 393). Für hörende Kinder ist es aber wichtig, auch Kontakt zur hörenden Umwelt zu bekommen. In der Regel entwickelt sich dieser durch Großeltern, Nachbarn, professionelle Hilfe (Frühförderung) und Freunde. Später werden auch der Kindergarten und die Schule wichtige Bezugspunkte. In diesen Situationen erfährt das Kind, dass es ‚anders’ ist. Es gibt Unterschiede in der Sprache der eigenen Familie und der Sprache der Gesellschaft. Auch die eigene Lautsprachkompetenz reicht oft nicht an die anderer Menschen heran. In der Familie war das Kind meistens lautsprachlich überlegen. Es konnte hören und sprechen und somit die Familie unterstützen. ‘Bereits im Alter von fünf Jahren kann ein Kind eine Lautsprachkompetenz erlangt haben, die über derjenigen der gehörlosen Eltern liegt.’ (Largo-Renz 1992: 26) In der Öffentlichkeit ist die Situation am Anfang umgekehrt. Das Kind erfährt wieder ein ‚Anderssein’, womit es sich auseinandersetzen muss. ‘Wir wissen nicht, wie die Kinder diesen Wechsel erleben. Ob es ein allmähliches Hineinwachsen ist, eine plötzliche schockartige Erkenntnis oder ganz individuelle Umgangsweisen gefunden werden.’ (Funk 1997: 386) Auch die Unwissenheit der Kindergärten und Schulen bezüglich der Situation hörender Kinder gehörloser Eltern führt häufig zu Problemen. Durch die Gehörlosigkeit der Eltern kann es hier zu Vorurteilen und Fehleinschätzungen gegenüber dem hörenden Kind kommen (vgl. Diller 1988: 81). Nach einer Eingewöhnungszeit und Unterstützung von Eltern, Kind, Kindergarten und Schule, kann das Kind besser und schneller lernen, sich in beiden Welten zurechtzufinden und die jeweiligen Anforderungen zu erfüllen (vgl. Tratzki 2002: 55 ff.). Mit zunehmendem Alter ist es möglich, dass die Kinder anfangen, sich für ihre Eltern zu schämen. Im Kontakt mit anderen Menschen sind die Eltern auffällig, da sie in einer befremdlichen Lautsprache sprechen oder mit ihnen die Gebärdensprache benutzt werden muss. Hinzu kommt, dass die Kinder die Bemerkungen von anderen Personen über die Eltern verstehen können, wodurch sie oft mitleidige oder abfällige Meinungen direkt präsentiert bekommen (vgl. Bull 1997: 173 Tratzki 2002: 59 f.). Die Kinder müssen sich also in der Öffentlichkeit mit der Behinderung ihrer Eltern auseinandersetzen, was vor allem im pubertären Alter zu einer Vermeidungshaltung und im schlimmsten Fall zu einer Abwendung von den Eltern führen kann.

Über den Autor

Katharina Gerlach, Dipl.-Sozialpädagogin, wurde 1977 in Hamburg geboren. Sie studierte Deutsche Gebärdensprache und Sozialpädagogik in ihrem Geburtsort und befindet sich aktuell in der Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie. Bereits während des Studiums standen die Arbeit mit hörgeschädigten Menschen und die Beschäftigung mit unterschiedlichen visuellen Kommunikationsformen für die Autorin im Fokus. Erfahrungen aus dieser praktischen Tätigkeit motivierten sie, sich der Thematik des vorliegenden Buches zu widmen.

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