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- „Moin Timmy, alter Hinterbänkler“ – Die Systemtheorie Niklas Luhmanns als theoretischer und empirischer Bezugsrahmen für politische Partizipation in Social Media
Politik
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Verlag: disserta Verlag
Erscheinungsdatum: 05.2022
AuflagenNr.: 1
Seiten: 430
Abb.: 41
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Die aktuelle eParticipation-Forschung wird nicht müde, die Chancen zu betonen, die gerade in der durch Social Media möglich werdenden direkten Interaktion zwischen politischen Entscheidern und Bürgern liegen, um sinkenden Wahlbeteiligungen und einer wahrgenommenen Entfremdung der Politik von den Problemen der Bürger zu begegnen. Interessant ist dabei allerdings, dass genau dieses kommunikative Miteinander, das Social Media ja gerade auszeichnet, im Kontext der eParticipation-Forschung bisher keine adäquate Berücksichtigung findet. Sowohl empirisch als auch theoretisch weist sie in diesem Kontext erhebliche Leerstellen auf, die zum einen auf ihre starke normative Prägung zurückzuführen sind, zum anderen aber auch daraus resultieren, dass die eParticipation-Forschung bisweilen so tut, als hätte es vor ihrem Entstehen das Thema der politischen Partizipation nicht gegeben. Die vorliegende Studie macht den Vorschlag, diese Defizite mithilfe der funktionalen Perspektive der Luhmann’schen Systemtheorie zu adressieren und zeigt am Beispiel der alltäglichen Interaktionen zwischen Abgeordneten des Deutschen Bundestages und Bürgern auf Twitter die Tragfähigkeit dieses Ansatzes auf.
Textprobe: Kapitel 2.4.1 Nutzung von eParticipation durch Politiker, Parteien, Organisationen und Bürger: Einer der zentralen Schwerpunkte der betrachteten Literatur zur eParticipation stellt die Untersuchung der Nutzung von eParticipation durch bestimmte Akteursgruppen dar. Knapp ein Drittel der in der vorliegenden Arbeit berücksichtigten Beiträge lässt sich dieser Kategorie zuordnen. Übereinstimmend mit den Ergebnissen der Literaturanalyse von Sæbø (2008) ergeben sich hier vier zentrale Akteursgruppen, die von den betrachteten Arbeiten untersucht werden: Politiker, Parteien, Organisationen und Bürger. Mit Blick auf die Akteursgruppe der Politiker muss eine grundlegende Skepsis in Bezug auf eParticipation im Kontext von Social Media konstatiert werden. Wie die Ergebnisse von Wandhoefer et al. (2011), die die Facebook-Nutzung von Abgeordneten des Deutschen Bundestages, sowie des Europäischen Parlaments untersucht haben, und Sæbø (2011), der die Twitter-Nutzung von Abgeordneten des Storting in Norwegen ausgewertet hat, nahelegen, werden Social Media von Politikern in erster Linie als ein Instrument zur Reichweitensteigerung für eigene politische Botschaften und als Kanal zur Verbreitung von Informationen, sowie der Darstellung eigener Aktivitäten verwendet (Sæbø, 2011, S. 6f. Wandhoefer et al., 2011, S. 209). In diesem Sinne fungieren Social Media, ähnlich der klassischen Massenmedien, für Politiker als ein weiterer, einseitiger Informationskanal. Diskussionen mit anderen Politikern kommen zwar in Social Media durchaus vor, Dialoge mit den Bürgern bleiben dort jedoch, wie Wandhoefer et al. (2011) betonen, offenbar aus Angst vor einem kommunikativen Kontrollverlust eher selten. The main intention is to increase their presence and not to start any kind of discussion, because they are often afraid of the uncontrollable evolution of the content in heated public debates, which tend to be unstructured” (Wandhoefer et al., 2011, S. 210). Dennoch spielen Social Media zumindest insofern auch eine Rolle als Rückkanal, als sie als unmittelbarer Echtzeit-Indikator für politische Trends, aktuelle Themen und – dies ist ein wesentlicher Unterschied zu den klassischen Massenmedien – für Emotionen in Bezug auf politische Themen aufgefasst werden (Wandhoefer et al., 2011, S. 209). Dies deckt sich – mit Blick auf die Akteursgruppe der Parteien – mit den Befunden von Farkas et al. (2018), die die Social Media-Aktivitäten dänischer Parteien untersucht haben. Wesentliches Ziel der Nutzung von Social Media ist es hier demnach, die öffentliche Meinung im Blick zu behalten und die eigenen Positionen zu verbreiten. Hauptgründe für diese Einseitigkeit sind offenbar eine wahrgenommene mangelnde Repräsentativität der Social Media-Nutzer in Bezug auf die Wählerschaft, sowie die Angst davor, unüberlegt zu wirken. Die von Farkas et al. (2018) befragten Social Media-Manager politischer Parteien geben zudem an, einen Großteil ihrer Zeit damit zuzubringen, die laufenden Diskussionen in Social Media zu moderieren, da diese unstrukturiert, emotional und oftmals wenig konstruktiv geführt würden. Vor diesem Hintergrund ist es dann wenig verwunderlich, dass eine systematische Auswertung des über Social Media erhaltenen Inputs offenbar nicht erfolgt und dieser folglich auch nicht in den politischen Entscheidungsprozess einfließt (Farkas & Schwartz, 2018, S. 19ff.). Johannessen (2010) hingegen betont, dass politische Parteien durchaus bereit sind, Social Media als dialogisches Instrument und für Eingaben durch die Bürger zu verwenden, jedoch große Unsicherheit in Bezug darauf herrsche, wie mit diesem Dialog im Kontext von Social Media umzugehen und wie dieser in den politischen Prozess einzubringen sei (Johannessen, 2010, S. 112). Auch Effing et al. (2011) merken an, dass politische Parteien im Umgang mit Social Media eher unsicher sind und bisweilen auch keinen konkreten Plan für die Nutzung haben. Einiges deutet darauf hin, dass vor allem das jeweilige sozial konstruierte Verständnis von politischer Partizipation ein wesentlicher Faktor ist, der über die Art und Weise der Nutzung die Berücksichtigung von Social Media durch Politiker und politische Parteien mitbestimmt. Boyd (2008) konstatiert in diesem Kontext beispielsweise die Entstehung von sog. eDemocracy-Parteien, deren Kern eine grundlegend veränderte Auffassung des Verhältnisses zwischen Politikern und Bürgern ist. Unlike the other forms of political parties, eDemocracy parties take a less traditional approach to representative democracy. Their goal is to enable citizen participation in government policy-making rather than to put their own specific agenda into place. […] Unlike mass parties that have a specific membership group participating, eDemocracy parties aim for all citizen participation” (O. P. Boyd, 2008, S. 169). Die von Federici et al. (2015) näher untersuchte Fünf-Sterne-Bewegung in Italien lässt sich als eine solche eDemocracy-Partei auffassen. Die Bewegung setzt dabei wesentlich auf Social Media, um einen Dialog zwischen Politikern und Bürgern herzustellen. Für die Fünf-Sterne-Bewegung ist dieser Dialog insofern essentiell, als sich die gewählten Vertreter selbst als reine Sprecher ihrer Wähler begreifen und damit mit dem üblichen Rollenverständnis des Abgeordneten als Repräsentanten mit eigenem politischen Standpunkt brechen (Federici et al., 2015, S. 295). Dass hier zwei unterschiedliche Vorstellungen von eParticipation aufeinander treffen, legt auch die Untersuchung von Bündgens-Kosten (2014) im deutschen Kontext nahe. Während die Vertreter der etablierteren Parteien die von der Piratenpartei praktizierte unmittelbare Responsivität mittels Social Media als das Fehlen eigener Standpunkte interpretieren und vor allen den Aspekt der Erreichbarkeit als zentrales Element von eParticipation betonen, gehört gerade das prozess- und dialogorientierte Vorgehen zu den Grundpfeilern des Politikverständnisses der damals noch recht jungen Piratenpartei (Bündgens-Kosten, 2014, S. 14f.). Allerdings scheint offenbar auch für die stärker dialogorientierten Parteien die geringe Strukturierung der Social Media-Diskussionen ein Problem darzustellen, das mithilfe ergänzender technischer Plattformen versucht wird zu kompensieren (Federici et al., 2015, S. 294f.). Mit Blick auf die Akteursgruppe der Organisationen zeichnet sich hinsichtlich eParticipation in Social Media insgesamt eher eine verhaltene Nutzung ab. Im Vergleich der Regierungsauftritte von Deutschland, Großbritannien und Österreich auf Facebook, stellt Borucki (2016) fest, dass keine dialogische Kommunikation betrieben, sondern diese mit Verweis auf offizielle Wege eher noch verweigert wird. Auch hier fungieren Social Media daher in erster Linie als einseitiger Verbreitungskanal (Borucki, 2016, S. 67ff.). Wie Schwanholz & Busch (2016) feststellen, nutzt der Deutsche Bundestag, als nationales Parlament die Herzkammer der Demokratie und Zentrum der Tätigkeit der politischen Klasse (Schwanholz & Busch, 2016, S. 16), hingegen bislang Social Media gar nicht, obwohl, wie die Autoren hervorheben, der direkte Dialog mit den Bürgern neue Möglichkeiten bieten würde, dem Kommunikations- und Bildungsauftrag des Parlaments gerecht zu werden, sowie schnell und ohne Umweg über die Massenmedien auf politische Ereignisse zu reagieren (Schwanholz & Busch, 2016, S. 30ff.). Gleichsam ergeben sich jedoch, wie Leston-Bandeira & Bender (2013) basierend auf einem internationalen Vergleich von parlamentarischen Social Media-Präsenzen betonen, auch grundlegende Probleme bei der Einbettung von Social Media in die bestehenden organisationsinternen Abläufe und Strukturen, die dazu führen, dass der Großteil der Kommunikationen auf Social Media informativer Natur bleibt oder aus Hinweisen auf aktuelle Aktivitäten im Parlament besteht. Dialog mit den Bürgern findet hingegen auch auf den Social Media-Auftritten der dort vertretenen Parlamente eher selten statt und Anfragen bleiben im Regelfall unbeantwortet (Leston-Bandeira & Bender, 2013, S. 12ff.). Ein zentraler Grund dafür ist, dass das Parlament nach außen politisch neutral bleiben muss – und it is somewhat difficult to sustain a neutral political conversation (Leston-Bandeira & Bender, 2013, S. 14). Ferner könne das Parlament nicht als Einzelperson auftreten und inhaltliche Anfragen müssten folglich den üblichen Dienstweg über Ausschüsse und Gremien gehen, was der in Social Media üblichen Kommunikationsgeschwindigkeit zuwider laufe (Leston-Bandeira & Bender, 2013, S. 4ff.). Die strukturelle und organisatorische Einbettung von eParticipation bestimmt demnach wesentlich darüber mit, wie eParticipation stattfindet bzw. stattfinden kann. Auch Hermida (2010) weist im Kontext der Analyse eines eParticipation-Projektes der British Broadcasting Corporation (BBC), dem Action Network, in diese Richtung. The experience of Action Network suggests that the ways technologies are adopted by established organizations is critical. The BBC [...] adopted an institutional mindset based on its paternalistic broadcast legacy that was out of step with the trend towards distributed and collaborative discourse online. The Achilles' heel of Action Network was the premise of a centralized online space, managed from above (Hermida, 2010, S. 127, Hevorhebungen nicht im Original). Betrachtet man schließlich die Ergebnisse zur Akteursgruppe der Bürger, so scheint die allgemeine Skepsis seitens Politikern, Parteien und Organisationen in Bezug auf die Nutzung von Social Media auf den ersten Blick durchaus berechtigt. Fernandez (2014) zeigt zum Beispiel auf, dass nur ein kleiner Teil der Social Media-Nutzer für einen Großteil der Beiträge verantwortlich ist, und schlägt damit in die oben bereits angeklungene Kerbe der mangelnden Repräsentativität (Fernandez et al., 2014, S. 9). Offensichtlich scheinen sich vor allem diejenigen Bürger an eParticipation im Kontext von Social Media zu beteiligen, die auch offline bereits aktiv sind (Grönlund & Wakabi, 2015, S. 14). Auch Social Media sind offenbar also nicht dazu in der Lage, bislang politisch inaktive Nutzer zu mehr aktiver politischer Partizipation zu motivieren. Gleichsam darf allerdings, wie Gustafsson (2012) und Bossetta et al. (2017) betonen, dabei nicht vernachlässigt werden, dass die Beiträge der aktiven Nutzer über die technisch miteinander vernetzten Nutzerprofile weiterverbreitet werden. So kommen, quasi qua Algorithmen, auch politisch weniger aktive Nutzer mit politischen Inhalten in Kontakt und können diese ihrerseits mit nur geringem eigenen Aufwand weiterverbreiten oder kommentieren (Bossetta et al., 2017, S. 3f. Gustafsson, 2012, S. 1122f.). Hierin unterscheiden sich Social Media wesentlich von anderen Formen der eParticipation. On social media, users need not necessarily to seek out political information rather, they can be exposed to political information online through the algorithmic filtering built into the design of many social media platforms. Accidental exposure challenges the gatekeeping power typically held by politicians and the media and places customized information directly in the hands of citizens (Bossetta et al., 2017, S. 3). Allerdings legen unter anderem Gustafssons (2012) Befunde ebenfalls nahe, dass politische Themen in Social Media dazu neigen, in eine Dafür/Dagegen-Dichotomie überführt zu werden. Dies führe dazu, dass die zugehörigen Diskussionen in einem tendenziell rauen Umgangston geführt würden und das habe wiederum zur Folge, dass Personen eher davor zurückschreckten, sich an den Diskussionen in Social Media zu beteiligen (Gustafsson, 2012, S. 1118). In eine ähnliche Richtung deuten auch die Ergebnisse von Fernandez (2014), die zeigen, dass das Spektrum der in Social Media diskutierten Themen insofern eingeschränkt ist, als primär kontroverse Themen behandelt werden (Fernandez et al., 2014, S. 9). In der Konsequenz sind Beiträge in Social Media, wie Johannessen (2012) im Vergleich mit Leserbriefen in Zeitungen herausarbeitet, insgesamt kürzer, weniger faktenbasiert und mehr improvisiert. Ferner scheinen diese insgesamt weniger reflektierend und argumentativ zu sein (Johannessen, 2012, S. 53ff.). Auch Johannessen, Sæbø, und Flak (2016) konstatieren, dass eine rational-kritische Debatte in Social Media kaum stattfindet, zeigen aber auch auf, dass sich vor allem diejenigen über Social Media versuchen Gehör zu verschaffen, die eine Gegenposition zur üblichen Meinung vertreten und sich in einer Situation von high urgency and little power (Johannessen et al., 2016, S. 231) befinden. So kommt auch Giraldo-Luque (2009) im Kontext der Untersuchung einer politischen Facebook-Gruppe zu dem Schluss, dass the non-alignment with media and with its actors is the only possible way how citizens can become part of the news (Giraldo-Luque, 2009, S. 17). Unmittelbare Betroffenheit und (empfundene) fehlende alternative Einflussmöglichkeiten scheinen somit in Social Media zu Formen von eParticipation zu kondensieren, die tendenziell eher als Protest denn als ideale Sprechsituation im Habermaschen Sinne zu beschreiben sind (Johannessen, 2012, S. 55). Insofern ist es dann auch wenig überraschend, dass politische Diskussionen in Social Media aufgrund der persönlichen Involviertheit dazu tendieren, emotional geführt zu werden. Bestätigt wird die Ausrichtung von eParticipation in Social Media auf eher konfliktäre Formen politischer Partizipation auch durch oben bereits skizzierten die Ergebnisse von Federci et al. (2015) im Kontext der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung, die sich relativ erfolgreich explizit als Gegenbewegung zu den etablierten Parteien positioniert hat (Federici et al., 2015, S. 295f.). Interessant ist allerdings, dass es dabei offenbar gerade aufgrund der tendenziellen Konflikthaftigkeit und Emotionalität politischer Diskussionen in Social Media eben nicht zur Bildung der oftmals bemühten Echo-Chambers kommt. Wie beispielsweise Bossetta et al. (2017) in einer Untersuchung der Social Media-Kommunikation im Rahmen der Brexit-Kampagne zeigen, waren es vor allem die Brexiteers, die, gewissermaßen als politische Herausforderer, die Grenzen zwischen den Lagern aktiv überwunden haben und tried to occupy the terrain of the political opponent and reach out to persuade users from the other side of the political spectrum (Bossetta et al., 2017, S. 16). Auch Shore et al. (2019) konstatieren im Kontext von Twitter, dass zwar durchaus von einer begrenzten Polarisierung, nicht aber von Echo-Chambers die Rede sein kann. Es gelte zwischen den rezipierten und den selbst veröffentlichen Beiträgen der Nutzer zu differenzieren. Hier zeige sich dann, dass die selbst veröffentlichten Beiträge in Bezug auf die politische Ausrichtung tendenziell deutlich neutraler ausfallen als die rezipierten Beiträge. Ein möglicher Grund hierfür könne sein, dass sich die Follower der Nutzer nicht eindeutig einem politischen Lager zuordnen ließen und dies von den Nutzern beim Verfassen von Beiträgen antizipiert werde, um ihre eigenen Follower nicht zu verprellen (Shore et al., 2019, S. 24).
Steffen Kroggel wurde 1983 in Frankfurt am Main geboren. Sein Studium der Politologie an der Philipps-Universität Marburg schloss der Autor im Jahre 2008 mit dem akademischen Grad des Magister Artium ab. Bereits während seines Studiums war der Autor als freier Web-Entwickler tätig. Später arbeitete er als technischer Leiter an der Konzeption und Umsetzung zahlreicher Online-Applikationen mit und befasste sich in dem Kontext intensiv mit den Besonderheiten von Kommunikation auf Social Media. Seine heutige berufliche Tätigkeit an der Schnittstelle zwischen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft hat ihn dazu motiviert, sich der Thematik des vorliegenden Buches zu widmen.
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