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  • Das ewige Provisorium § 105(1) Nr.1, JGG: Anwendungspraxis der Heranwachsendenregelung aus psychologischer Sicht

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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 02.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 88
Abb.: 12
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Die Anwendung des Jugendstrafrechts (und damit die Anwendung des § 105, Jugendgerichtsgesetz (JGG)) auf Heranwachsende gerät immer wieder in den Fokus der politischen und öffentlichen Diskussion. Dabei votiert eine Mehrheit für die Abschaffung dieses Paragraphen, allerdings aus höchst unterschiedlichen Gründen. Während der überwiegende Teil der Fachliteratur für die generelle Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende und damit eine Abschaffung des § 105 JGG) ist, wird die Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende in der öffentlichen und politischen Diskussion oftmals äußerst kritisch betrachtet. Es sind daher auch immer wieder Bestrebungen zu erkennen, die generelle Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende durchzusetzen. Die Diskussion der Fragestellung, inwieweit Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist, wird dabei durch eine (bislang) sehr polemische Debatte und Darstellung in der Öffentlichkeit weiter befeuert. Als Ziel dieser Arbeit ergibt sich daher, zur Versachlichung der Diskussion einer aktuellen Fragestellung des Jugendstrafrechts beizutragen, indem anwendungsrelevante Erkenntnisse aus den Bezugswissenschaften – insbesondere der Psychologie, aber auch der Soziologie und Kriminologie – gesammelt und dargestellt werden und so in aufgeladener Atmosphäre eine fachlich korrekte Anwendung des §105 JGG (Karle 2003, S. 299) angestrebt wird.

Leseprobe

Textprobe Kapitel 4.1.5, Das Beurteilungskriterium ‘Gesamtwürdigung der Persönlichkeit’ aus Perspektive der Soziologie: Nach dem Erkenntnisstand, der zum Zeitpunkt des Erlasses der Heranwachsendenregelung im Jahr 1953 vorhanden war, ging man davon aus, dass es eine ‘Lebensphase Jugend’ gebe, die von der ‘Lebensphase Erwachsener’ auch altersmäßig unterscheidbar sei (vgl. Pruin 2006, S. 183). Entwicklung wurde – in Anlehnung an Havighurst – als lineare Form der Veränderung mit dem Ziel der ‘Erwachsenenreife’ verstanden, mit deren Erreichen die Entwicklung abgeschlossen sei. Die Linearität dieses Prozesses resultierte daraus, dass das Durchlaufen einer früheren Phase als Voraussetzung für den Einstieg in die nächste Phase angesehen wurde (vgl. Havighurst 1972). Dabei wurde der Erreichung des 18. Lebensjahres besondere Bedeutung beigemessen, dieser Zeitpunkt sei mit grundlegenden Änderungen verbunden. Somit entsprach die Regelung des § 105 JGG mit einer Bindung des Entwicklungsstandes an bestimmte Lebensalter dem damaligen Forschungsstand. Die heute vertretenen Theorien weichen von diesem Standpunkt deutlich ab. Noch immer wird davon ausgegangen, dass es bestimmte Aufgaben gibt, die im Laufe der individuellen Entwicklung bewältigt werden müssen, allerdings wurde vom Konzept festlegbarer ‘Phasen’, die sich gegenseitig bedingen, abgewichen, es gibt also keine festgelegte Reihenfolge für diese Aufgaben, auch keine festen Zeitpunkte für deren Erledigung. Somit ist nach heutigem Forschungsstand eine Koppelung von bestimmten Reifezuständen an ein bestimmtes Alter nicht mehr möglich, eine mit der Vollendung des 18. Lebensjahres einschneidende psychologische Entwicklung wird ebenfalls nicht mehr angenommen, da die individuelle Entwicklung als stark von der konkreten sozialen Umwelt des einzelnen Heranwachsenden abhängig betrachtet wird. Eine Definition von Kriterien, die zur Unterscheidung zwischen ‘Jugendlichen’ und ‘Erwachsenen’ geeignet scheinen, ist unter diesen Voraussetzungen nicht möglich. Dies stellt die Sinnhaftigkeit der Kriterien des § 105 JGG in Frage, da von unterschiedlichen Reifezuständen in bestimmten Altersabschnitten oder Lebensphasen ausgegangen wird (vgl. Pruin 2006, S. 184). Viele der für die Entwicklung einer eigenen Identität maßgeblichen Entwicklungsaufgaben werden heute nach Vollendung der Volljährigkeit erledigt. Dies gilt z. B. für die für den Aufbau einer eigenen Identität bedeutsame Berufs- und Familienrolle. Diese wird heute durchschnittlich um viele Jahre später eingenommen als zur Zeit der Einführung der Heranwachsendenregelung. Anteil an dieser Entwicklung haben die veränderten Bedingungen im Ausbildungs- und Berufssystem sowie die dadurch bedingte längere Ausbildungsdauer. Im Vergleich zeigen sich heute deutliche Veränderungen gegenüber den 1950er-Jahren: In den 1950er-Jahren durchlief ein Großteil der Jugendlichen die einzelnen Lebenslaufereignisse in einer bestimmten Reihenfolge. Erst kam der Schulabschluss, dann die ersten sexuellen Erfahrungen, erst einige Jahre nach Abschluss der Berufsausbildung wurde das Elternhaus verlassen und bald darauf eine eigene Familie gegründet. Hier konnte man also nach soziologischen Ergebnissen Durchschnittsaltersgrenzen ermitteln, wann der Großteil der jungen Menschen welche Entwicklungsaufgaben bewältigt hatte. Daher schien die Kopplung von Durchschnittsaltern an einen bestimmten Entwicklungsstand möglich und sinnvoll. Eine solche Reihenfolge der Lebenslaufereignisse kann dagegen heute nicht mehr aufgestellt werden. Viele Jugendliche haben z. B. ihre ersten sexuellen Erfahrungen bereits in der Schulzeit, dem Auszug aus dem Elternhaus folgt die eigene Familiengründung nicht mehr unmittelbar und teilweise überhaupt nicht, auch der Eintritt in das Arbeitsleben findet deutlich später statt. Die Lebensläufe der jungen Menschen sind dadurch individualistischer geworden, die Definition eines ‘idealtypischen’ Verlaufs ist nicht mehr möglich (vgl. Pruin 2006, S. 184f.). 4.2, Das Beurteilungskriterium ‘Umweltbedingungen’: Es wurde bereits deutlich, dass die Umweltbedingungen die Entwicklung delinquenten Verhaltens wesentlich beeinflussen, sie beeinflussen aber auch den individuellen Entwicklungsstand der Heranwachsenden maßgeblich. Dies wird nachfolgend dargestellt werden. Zuvor wird der in diesem Kontext wesentliche Begriff der Sozialisation näher beleuchtet werden. Sozialisation meint den Prozess, durch den das Individuum die Kenntnisse erwirbt, die es zum Zusammenleben in Gruppen in der Gesellschaft benötigt. Sozialisationstheorien thematisieren die Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft, daher bezieht die Sozialisationstheorie Kenntnisse von verschiedensten Wissenschaften ein (vgl. Kunz 2011, S. 103). Bei aller Vagheit bringt das Sozialisationskonzept also eine grundlegende Neuerung in das Verständnis der Kriminalitätsentstehung ein: ‘Kriminalität wird nicht mehr ausschließlich aus Eigenheiten des abweichenden Individuums erklärt, sondern aus einer Wechselbeziehung des Individuums mit seinem sozialen Umfeld. Der Täter wird zugleich als Person und als Interakteur mit den in seinem Umfeld agierenden anderen Menschen zum integralen Forschungsthema gemacht. Die Betrachtung des Täters in seinen sozialen Bezügen als eine (auch) in der Forschungsperspektive unauflösliche Einheit verlangt einen Problemzugang, der den Facettenreichtum des so bestimmten Forschungsgegenstandes durch ein möglichst breit gefächertes Spektrum zunächst durchaus intuitiver Annahmen und Beobachtungen zu erfassen sucht’ (Kunz 2011, S. 106). Dass das Umfeld insbesondere auf die Entwicklung von Kriminalität maßgeblichen Einfluss hat, konnte bereits belegt werden. ‘Bezogen auf die Situation hoch-krimineller amerikanischer Großstadtbezirke hat Gabarino (1998) eindrucksvoll gezeigt, wie ein Umfeld von Gewaltkriminalität dazu führen kann, Aggressivität als ein selbstverständliches Mittel der Konfliktlösung zu betrachten, das umso ungehemmter eingesetzt wird, als die alltägliche Erfahrung von Brutalität und Gewalt die Jugendlichen annehmen lässt, ohnehin keine hohe Lebenserwartung zu haben (!), so dass auf längerfristige Pläne und Werte ausgerichtetes Handeln als aussichtslos erscheint’ (Masche 1999, S. 4).

Über den Autor

Stephan Müller, B.A., wurde 1976 in Heidelberg geboren. Sein Studium der Sozialen Arbeit an der Hochschule Mannheim schloss der Autor 2014 erfolgreich ab. Bereits während des Studiums setze er frühzeitig einen Schwerpunkt im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und der Arbeit mit jugendlichen Tätern. Auch sammelte der Autor Erfahrungen in der praktischen Arbeit mit delinquenten Jugendlichen, vorwiegend bei der Jugendgerichtshilfe. Stephan Müller ist heute im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe tätig.

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