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Soziologie


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Produktart: Buch
Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 10.2025
AuflagenNr.: 1
Seiten: 100
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Diese praxisorientierte Einführung vermittelt grundlegende Konzepte der interkulturellen Kommunikation mit einem besonderen Schwerpunkt auf Höflichkeitsformen im deutsch-arabischen Austausch. Behandelt werden dabei sowohl mündliche und schriftliche Kommunikationsformen als auch Aspekte des proxemischen Verhaltens. Das Werk ist im Rahmen einer Vorlesungsreihe entstanden, die aus einer Erasmus-Kooperation zwischen der Universität Hassan II in Casablanca und der Ruhr-Universität Bochum hervorgegangen ist. Es richtet sich insbesondere an Studierende des Deutschen als Fremdsprache (DaF) sowie der interkulturellen Kommunikation. Zahlreiche Beispiele veranschaulichen die Inhalte und machen sie leicht zugänglich. Übungsaufgaben mit Lösungsvorschlägen am Ende des Buches fördern die Anwendung und Vertiefung des Gelernten. Damit eignet sich das Buch gleichermaßen für den Einsatz im Hochschulbereich wie auch für das Selbststudium.

Leseprobe

Textprobe: 2.3. Interkulturalität In der interkulturellen Kommunikation kann es zu Missverständnissen kommen, da jede Person über ein eigenes kulturelles Interpretationssystem verfügt, das in Gesprächen meist unbewusst angewendet wird. Dieses Phänomen wird als Interkulturalität bezeichnet. Interkulturalität beschreibt das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen, bei dem das Eigene und das Fremde in Beziehung zueinander treten. In solchen interkulturellen Überschneidungssituationen entsteht eine neue, gemeinsame kommunikative Ebene: das Interkulturelle. Die Ergebnisse dieser Begegnungen können sowohl positiv als auch konfliktbeladen sein. Unterschiedliche Interpretationssysteme können das gegenseitige Verständnis erschweren, Missverständnisse hervorrufen und im weiteren Verlauf die Entstehung von Vorurteilen begünstigen. Zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts wird im Folgenden ein Erfahrungsbericht von Helga Kotthoff herangezogen, die über ihre Beobachtungen während eines Aufenthalts in China berichtet. Haben Sie schon gegessen? Sicher finden Sie diese Anrede höchst merkwürdig völlig deplatziert erscheint es Ihnen vermutlich, Sie nach dem Essen zu fragen. Mir ging es ähnlich, als mir diese Frage bei meinem ersten China-Aufenthalt 1982 bei zufälligen Begegnungen auf dem Campus der Universität, an der ich gearbeitet habe, gestellt wurde. Ich habe sie in Richtung Vorbereitung auf eine kommende Essenseinladung oder zumindest auf den Vorschlag, jetzt gemeinsam essen zu gehen, interpretiert und nach dem Prinzip der Ehrlichkeit beantwortet. Wenn ich gerade selbst hungrig war, habe ich nein gesagt. Dies führte nun aber keinesfalls zum erwarteten zweiten Schritt der von mir vermuteten Sequenz, nämlich dem Vorschlag dann lassen Sie uns doch in ein Lokal gehen – mein Gegenüber lachte etwas irritiert und entfernte sich von mir. Damals habe ich die Chinesen ein wenig seltsam gefunden und diese mich mit Sicherheit auch. Später erst habe ich erfahren, dass die Frage nin che guo le ma? eine ganz einfache Begrüßung darstellt, die etwa unserem Guten Tag entspricht. Man antwortet mit ja, ich habe schon gegessen. Damit ist die Sequenz beendet und man geht seiner Wege. (Kotthoff 2003) Die Frage Haben Sie schon gegessen? wurde von der deutschen Autorin als wörtlich gemeinte Frage nach dem physischen Zustand (Hunger/satt) verstanden – mit der impliziten Erwartung, dass darauf eine Einladung zum gemeinsamen Essen folgen könnte. Diese Interpretation orientiert sich an den direkteren Kommunikationsnormen des deutschen Kulturraums, in dem Fragen in der Regel informativ gemeint sind und eine konkrete Reaktion erwarten. Im chinesischen Kontext hingegen handelt es sich bei Nin chi guo le ma? um eine ritualisierte Begrüßungsformel, die nicht auf eine inhaltliche Antwort abzielt, sondern vielmehr ein Zeichen von Höflichkeit und sozialer Verbundenheit ist – ähnlich wie Wie geht’s? im Deutschen, worauf selten eine ausführliche Schilderung des tatsächlichen Befindens folgt. Das Missverständnis zeigt: Unterschiedliche kommunikative Routinen: Was in einer Kultur als informative Frage verstanden wird, ist in einer anderen lediglich ein sozialer Akt ohne Informationsbedürfnis. Fehlanpassung der Erwartungen: Die Autorin erwartete eine Reaktion (Einladung), die im chinesischen Kulturkontext nicht vorgesehen ist. Pragmatische Kompetenz: Es geht hier weniger um Sprachkenntnisse, sondern um die Fähigkeit, kommunikative Handlungen kulturell angemessen zu interpretieren. Fazit: Dieses Beispiel verdeutlicht, wie schnell es in interkulturellen Begegnungen zu Missverständnissen kommen kann, wenn sprachliche Äußerungen nicht im kulturellen Kontext verstanden werden. Es unterstreicht die Bedeutung pragmatischer interkultureller Kompetenz – also der Fähigkeit, nicht nur zu verstehen, was gesagt wird, sondern wie es gemeint ist. Schon die Begrüßung und ihre unterschiedlichen Rituale können dabei eine erste Herausforderung darstellen Es lässt sich feststellen, dass interkulturelle Missverständnisse im Wesentlichen auf unterschiedliche kulturelle Normen und Erwartungen im Kommunikationsverhalten zurückzuführen sind. Störungen in der interkulturellen Kommunikation entstehen vor allem dadurch, dass Botschaften stets im Licht des eigenen kulturellen Hintergrunds wahrgenommen und interpretiert werden. Das individuelle Handeln wird folglich von der eigenen kulturellen Prägung beeinflusst zugleich ist auch das Verhalten des Kommunikationspartners durch dessen kulturellen Kontext bestimmt. Dieses wechselseitige Zusammenspiel sollte stets bewusst reflektiert werden, um effektiv und situationsangemessen kommunizieren zu können. Gelingt dies, so deutet dies auf das Vorhandensein interkultureller Kompetenz hin – ein Aspekt, der im folgenden Abschnitt näher betrachtet wird. 2.4. Interkulturelle Kompetenz Um interkulturelle Kommunikation erfolgreich zu gestalten und die damit einhergehenden Missverständnisse oder Vorurteile zu überwinden, stellt das interkulturelle Lernen einen zentralen Lösungsansatz dar. Ziel dieses Lernprozesses ist es, in interkulturellen Kommunikationssituationen angemessen und effektiv agieren zu können. Interkulturelles Lernen umfasst dabei nicht nur den Erwerb von Wissen über fremde Kulturen, sondern auch die Entwicklung von Fähigkeiten zur Selbstreflexion und Perspektivübernahme. Wie Bolten (2015) betont, ist für das Gelingen interkultureller Kommunikation entscheidend, dass ein gemeinsames Ziel kollaborativ erreicht wird, ohne dass dabei die Akzeptanzgrenzen der beteiligten Interaktionspartner überschritten werden. Dies setzt einen bewussten und respektvollen Umgang mit kultureller Diversität voraus. Der produktive Umgang mit solchen Situationen erfordert jedoch eine spezifische Schlüsselqualifikation: interkulturelle Kompetenz. Interkulturelle Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit, in kulturell heterogenen Kontexten sensibel, reflektiert und handlungsfähig zu bleiben. Sie umfasst eine Vielzahl kognitiver, emotionaler und sozialer Fähigkeiten, darunter Teamfähigkeit, Toleranz, Offenheit, Empathie, Sensibilität, Wertschätzung kultureller Unterschiede, theoretisches Wissen über andere Kulturen sowie fremdsprachliche Kompetenzen. Diese Fähigkeiten ermöglichen es einer Person, sich in interkulturellen Überschneidungssituationen nicht nur angemessen, sondern auch wirkungsvoll zu verhalten – und damit Missverständnissen vorzubeugen oder sie konstruktiv zu bewältigen. Viele Probleme in der interkulturellen Kommunikation lassen sich vermeiden, wenn bestimmte Kompetenzen vorhanden sind. Der Besitz dieser Fähigkeiten bedeutet jedoch keineswegs, dass man alles widerspruchslos akzeptieren oder mit jeder kulturellen Praxis einverstanden sein muss. Im Gegenteil: Eine zentrale Komponente interkultureller Kompetenz besteht auch darin, sowohl andere als auch sich selbst kritisch zu hinterfragen. Interkulturell kompetente Personen sind laut Müller und Gehmlich (2004, S. 793f.) einerseits in der Lage, eigene Ziele zu erreichen (Effektivität), andererseits aber auch bereit bzw. fähig, die Ziele des Anderen zu achten sowie Umgangsregeln zu befolgen, die dem Partner wichtig sind (Angemessenheit) . Diese doppelte Perspektive ist essenziell: Effektivität allein reicht nicht aus – auch Angemessenheit, also die Berücksichtigung der Perspektive und Wertvorstellungen des Gegenübers, ist unabdingbar. Angemessenheit bedeutet folglich, nicht nur die eigene Sichtweise, sondern auch jene des Kommunikationspartners ernst zu nehmen und in die Interaktion mit einzubeziehen. Fehlt es an diesen Fähigkeiten, kann dies gravierende Folgen haben – insbesondere in sensiblen Bereichen wie der internationalen Wirtschaftskommunikation. Die potenziellen Konsequenzen eines solchen Kompetenzmangels werden im folgenden Zitat exemplarisch verdeutlicht: In Riyadh an American exporter once went to see a Saudi Arabian official. After entering the office he sat in a chair and crossed his legs. With the sole of his shoe exposed to the Saudi host, an insult had been delivered. Then he passed the documents to the host using his left hand, which Muslim consider unclean. Lastly he refused when offered coffee, suggesting criticism of the Saudi’s hospitality. The price for these cultural miscues was the loss of a $ 10 million contract to a Korean better versed in Arab ways. (Schermerborn 1993: 55) Ein amerikanischer Geschäftsmann beging während eines Treffens mit einem arabischen Gesprächspartner mehrere kulturelle Fehltritte, die letztlich zum Scheitern der Verhandlungen führten. Bereits beim Hinsetzen überschlug er seine Beine so, dass seine Schuhsohlen sichtbar waren. In vielen arabischen Kulturen wird die Schuhsohle mit Unreinheit assoziiert. Es gilt daher als grobe Respektlosigkeit, jemandem die Schuhsohlen zu zeigen – ein erster, schwerwiegender kultureller Fauxpas. Ein zweites Missverständnis ereignete sich, als der Amerikaner seinem Gegenüber Dokumente mit der linken Hand überreichte. In zahlreichen arabischen Ländern wird die linke Hand traditionell als unrein angesehen, da sie primär für die Körperhygiene verwendet wird. Aus diesem Grund ist es üblich, Dinge ausschließlich mit der rechten Hand zu übergeben – insbesondere bei offiziellen oder geschäftlichen Interaktionen. Ein drittes interkulturelles Missverständnis entstand, als der arabische Gastgeber dem Amerikaner eine Tasse Kaffee anbot, die dieser ablehnte. In vielen arabischen Kulturen gilt die Ablehnung eines solchen Angebots als gesichtsbedrohend und potenziell verletzend. Höfliche Zurückweisungen müssen daher sprachlich abgeschwächt oder indirekt formuliert werden, um das Gegenüber nicht zu brüskieren. Der Umgang mit Einladungen, Angeboten oder Bitten erfordert in der interkulturellen Kommunikation besondere Sensibilität und kommunikative Kompetenz. Diese kulturellen Missverständnisse hatten weitreichende Folgen: Der amerikanische Geschäftsmann verlor einen Auftrag im Wert von zehn Millionen US-Dollar. Stattdessen wurde der Vertrag an einen koreanischen Unternehmer vergeben, der sich offensichtlich durch interkulturelles Training gezielt auf den Umgang mit arabischen Geschäftspartnern vorbereitet hatte (vgl. Schermerborn 1993). Für Fach- und Führungskräfte, die in der arabischen Welt tätig sind, ist interkulturelle Handlungskompetenz unerlässlich. Wer die grundlegenden sozialen Normen, Umgangsformen und kulturellen Codes nicht kennt, riskiert Fehlinterpretationen, Beziehungsabbrüche oder wirtschaftliche Verluste. Gerade westliche Geschäftsleute stehen häufig vor der Herausforderung, sich in kulturell stark geprägten Kommunikationssituationen angemessen zu verhalten. Das Verständnis für diese unsichtbaren kulturellen Dimensionen – häufig mit dem Bild eines Eisbergs verglichen – ist eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche interkulturelle Wirtschaftskommunikation. Einige dieser Aspekte werden im weiteren Verlauf dieses Buches ausführlich erläutert. 3. Interkulturelle Kommunikation und Höflichkeit Zunächst stellt sich die Frage, in welchen Bereichen sich Angehörige verschiedener Kulturen im Hinblick auf kommunikatives Verhalten unterscheiden können. Zahlreiche Studien haben zentrale Aspekte der Kommunikation untersucht – ein besonders relevanter Bereich ist dabei die sprachliche und nicht-sprachliche Höflichkeit. Darauf aufbauend stellt sich die weiterführende Frage, worin interkulturelle Kompetenz im Bereich Höflichkeit besteht und wie sie erworben oder gezielt gefördert werden kann. Die Verbindung zwischen sprachlicher Höflichkeit und interkultureller Kommunikation ist dabei von besonderer Bedeutung. In vielen Fällen entstehen interkulturelle Missverständnisse, weil Höflichkeitsnormen und -erwartungen nicht beachtet oder falsch interpretiert werden. Empirische Untersuchungen zur interkulturellen Kommunikation dokumentieren zahlreiche Situationen, in denen Kommunikationspartner unbeabsichtigt gegen kulturelle Konventionen verstoßen – sei es durch die Thematisierung kulturell sensibler oder tabuisierter Inhalte oder durch nonverbale Handlungen, die in der jeweiligen Kultur als unhöflich oder unangemessen gelten (vgl. u.a. Kotthoff 1989a/b Günthner 1993, Wieland 1990). Beispiele hierfür sind etwa das Sichtbarwerden der Schuhsohlen, das Naseputzen in der Öffentlichkeit oder das Verwenden der linken Hand beim Überreichen von Gegenständen. Auch der Grad an Direktheit oder Indirektheit in der sprachlichen Ausdrucksweise kann kulturell unterschiedlich bewertet werden und zu Irritationen führen. In vielen dieser Fälle handelt es sich um eine Nichtbeachtung der in der jeweiligen Kultur geltenden Höflichkeitsstandards. Im Folgenden sollen exemplarisch Situationen analysiert werden, in denen genau solche Missverständnisse aufgrund kulturell unterschiedlicher Höflichkeitskonzepte auftreten.Wenn sich z.B. Deutsche und Araber gegenseitig einladen, so können Missverständnisse entstehen, die nicht durch mangelhafte Beherrschung der sprachlichen Formen, sondern vielmehr auf Verletzung soziokultureller Höflichkeitsnormen zurückzuführen sind. Dies lässt sich an folgender Situation darlegen: Szene 1: Angenommen Sie arbeiten als deutscher Gastdozent an einer marokkanischen Universität und ihr marokkanischer Kollege lädt Sie nach Hause zum Abendessen ein. Weil es Ihnen gut schmeckt, essen Sie couscous mit Fleisch bis Sie satt sind. Unerwartet kommt der aus Hühnchen und Pommes frites bestehende zweite Gang. Der Gastgeber bietet Ihnen ein Stück Hühnchen an. Da Sie schon satt sind, lehnen Sie ab: Oh! Nein, danke schön . Der Gast­geber aber lächelt und besteht darauf, dass Sie weiter essen. Sie antworten: Nein, wirklich. Ich kann nicht mehr , worauf der Gastgeber beharrlich reagiert mit: Ach, kommen Sie, nur noch ein bisschen . Sie lehnen wieder ab, aber er besteht immer noch darauf, dass Sie essen und hält Ihnen das Stück Hühnchen hin. Die Situation wird peinlich. Szene 2: Diesmal laden Sie einen marokkanischen Kollegen an einem Spätnach­mittag ein, um ihn in Ihrer Wohnung zu empfangen. Nachdem er Platz genommen hat, fra­gen Sie ihn, ob er Kaffee oder Tee trinken möchte. Er sagt: Nein, danke . Weil Sie selbst Lust darauf haben, machen Sie sich eine Tasse und fra­gen noch einmal, ob Ihr Gast nicht doch eine Tasse möchte. Da er noch ein­mal ablehnt, trinken Sie Ihren Kaffee, während Sie mit ihm sprechen. Ihr Gast ist überrascht, weil er nichts zu trinken oder zu essen bekommt. Er geht nach Hause und klassifiziert Sie als einen seltsamen Menschen. (Bouchara 2002: 1) Was ist in diesen beiden Episoden geschehen? Warum führten die Interaktionen zu unangenehmen Gefühlen und Missverständnissen? In beiden Fällen kam es zu interkulturellen Missverständnissen, die auf mangelndem Wissen über kulturelle Kommunikationskonventionen beruhten. Die jeweiligen Handlungen wurden von den Gesprächspartnern nicht neutral, sondern im Licht der eigenen kulturellen Normen interpretiert – und dadurch als unangemessen, unhöflich oder gar beleidigend wahrgenommen. Die Ursache liegt in der Nichtbeachtung kulturspezifischer Höflichkeitsstandards. Handlungen, die in der einen Kultur als neutral oder sogar höflich gelten, können in einer anderen Kultur negative Reaktionen auslösen. Diese Differenz wird häufig nicht bewusst wahrgenommen, führt aber auf der Beziehungsebene zu Irritation, Rückzug oder im schlimmsten Fall zum Abbruch der Kommunikation. Das Missverständnis lässt sich somit als Folge einer fehlenden interkulturellen Sensibilität erklären: Die Kommunikationshandlungen wurden nicht im Kontext der jeweiligen Kultur verstanden, sondern aus der eigenen Perspektive heraus bewertet. Damit geraten grundlegende Werte wie Respekt, Höflichkeit und soziale Hierarchie in Konflikt – mit entsprechenden Auswirkungen auf das emotionale Klima der Interaktion. Im marokkanischen Kontext erwartet man von einem Gast, dem etwas angeboten wird, dies nicht umgehend zu akzeptieren, um nicht gierig zu erscheinen. Auf der anderen Seite soll der Gastgeber versuchen, den Gast dazu zu bringen, das Angebot zu akzeptieren. Unter solchen Umständen fühlen sich aber Deutsche nicht wohl oder sind sogar verärgert, wenn der Gastgeber so beharrlich ist, obwohl sie etwas ganz klar und deutlich abgelehnt haben. Im Gegensatz dazu sind Marokkaner irritiert, wenn deutsche Gastgeber ihr Angebot nicht mehrfach wiederholen. In den genannten Beispielen handelt es sich um kulturell bedingte Missverständnisse, die auf unterschiedlichen Auffassungen und Normen von Höflichkeit beruhen. Die analysierten Situationen zeigen, dass kommunikative Handlungen je nach kulturellem Hintergrund unterschiedlich interpretiert werden können. Damit verbunden ist das Risiko, unbeabsichtigt gegen soziale Erwartungen zu verstoßen. Die Entstehung dieser Missverständnisse wurde bislang auf anschauliche Weise mithilfe alltagsnaher Begriffe erklärt, die ohne spezielle fachliche Vorkenntnisse verständlich sind. Um die Dynamiken interkultureller Kommunikationsprozesse nun systematisch zu erfassen und zu analysieren, soll im nächsten Schritt ein wissenschaftlich fundiertes Höflichkeitsmodell herangezogen werden. Ein solches Modell kann dabei helfen, die zugrunde liegenden Mechanismen interkultureller Irritationen differenzierter zu verstehen und mögliche Präventionsstrategien zu entwickeln. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das im vorherigen Abschnitt beschriebene Missverständnis nicht auf mangelnde linguistische Kenntnisse im engeren Sinne zurückzuführen ist. Vielmehr liegt die Ursache darin, dass für eine erfolgreiche Kommunikation über rein sprachsystematische Kompetenzen hinaus auch kulturspezifisches Wissen erforderlich ist – insbesondere darüber, wie sprachliche Mittel in bestimmten sozialen und kulturellen Kontexten angemessen verwendet werden. Diese Perspektive ist das Ergebnis eines grundlegenden Paradigmenwechsels in der Sprachwissenschaft, der als pragmatische Wende bezeichnet wird. Bis in die späten 1960er-Jahre dominierte ein systemlinguistischer Zugang, bei dem Sprache primär als ein abstraktes System von Zeichen betrachtet wurde. Im Zentrum der Analyse standen dabei grammatische Strukturen sowie syntaktische und semantische Regularitäten. Mit Beginn der 1970er-Jahre verlagerte sich der Fokus auf die funktionale und kontextbezogene Verwendung von Sprache in sozialen Interaktionen. Diese Entwicklung markiert den Übergang zur sogenannten kommunikativ-pragmatischen Wende. Seither wird Sprache zunehmend als soziales Handlungsinstrument verstanden, das in konkreten Kommunikationssituationen eingesetzt wird – mit all den kulturellen, kontextuellen und interaktiven Bedingungen, die damit verbunden sind. Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei grundlegende Betrachtungsweisen von Sprache unterscheiden: Systemlinguistik, die sich mit den strukturellen Eigenschaften sprachlicher Systeme befasst, insbesondere mit Grammatik, Syntax, Semantik sowie weiteren Teildisziplinen wie Phonetik, Phonologie und Morphologie. Pragmatik, die den Gebrauch von Sprache in konkreten kommunikativen Zusammenhängen untersucht. Im Zentrum stehen dabei unter anderem implizite Bedeutungen, Sprechakte, Höflichkeitsstrategien sowie kulturell geprägte Normen sprachlicher Interaktion. Diese Unterscheidung bildet eine zentrale theoretische Grundlage für das Verständnis interkultureller Kommunikationsprobleme sowie für die Analyse von Missverständnissen, wie sie in den zuvor behandelten Beispielen aufgezeigt wurden. Während sich die traditionelle Linguistik vorrangig mit dem Aufbau und den Regeln des Sprachsystems befasst hat, rückte die Pragmatik erst im Zuge der kommunikativen Wende in der Sprachwissenschaft verstärkt in den Fokus. Ziel der pragmatischen Perspektive ist es, die Prinzipien und Regeln zu beschreiben, nach denen Sprache in sozialen Situationen verwendet wird – die sogenannten Regeln des Sprachgebrauchs. Werden sprachsystematische Regeln verletzt, etwa durch eine fehlerhafte Kasusbildung im Akkusativ, gilt die Äußerung als ungrammatisch – in der Alltagssprache spricht man in solchen Fällen oft von schlechtem Deutsch . Wird hingegen gegen Regeln des Sprachgebrauchs verstoßen, liegt das Problem nicht auf der Ebene der Sprachbeherrschung, sondern auf der Ebene der kommunikativen Angemessenheit. So wird es beispielsweise als unhöflich empfunden, auf einen Gruß nicht zu reagieren oder eine indirekte Bitte wie Hast du eine Uhr? lediglich mit Ja zu beantworten, ohne auf die eigentliche kommunikative Absicht einzugehen. Solche Verstöße betreffen weniger die sprachliche Korrektheit als vielmehr das sozial angemessene Verhalten im Rahmen sprachlicher Interaktion (vgl. Linke et al. 1991: 9–10). Gleiches gilt für die Missverständnisse in den zuvor beschriebenen Szenen 1 und 2: Auch hier liegt keine mangelnde Sprachkompetenz im engeren Sinne vor, sondern vielmehr ein Verstoß gegen kulturspezifische Höflichkeitsnormen und Konventionen der Interaktion. Es handelt sich um Handlungen, die im jeweiligen kulturellen Kontext als unangemessen oder sogar beleidigend wahrgenommen werden. Solche kommunikativen Irritationen sind nicht der Systemlinguistik, sondern der Pragmatik – genauer: der interkulturellen Pragmatik – zuzuordnen. Die interkulturelle Pragmatik geht davon aus, dass Fehlkommunikation und Missverständnisse im interkulturellen Kontext häufig auf Interferenzphänomene (auch negativer Transfer genannt) zurückzuführen sind. Darunter versteht man die unangemessene Übertragung sprachlicher und kommunikativer Muster sowie kulturell geprägter Verhaltensweisen aus der Erstsprache und -kultur auf die Zielsprache bzw. Zielkultur. In diesem Zusammenhang zählt die Höflichkeitstheorie von Brown und Levinson (1987) zu den einflussreichsten und am häufigsten zitierten Arbeiten innerhalb der interkulturellen Pragmatik. Sie bietet ein theoretisches Instrumentarium zur Analyse sogenannter politeness phenomena – also sprachlicher und nicht-sprachlicher Höflichkeitsstrategien –, das sich besonders für die Untersuchung interkultureller Missverständnisse eignet. Im Folgenden wird das Modell kurz vorgestellt und anschließend auf die zuvor beschriebenen Szenen und Missverständnisse angewendet, um die darin aufgetretenen Kommunikationsprobleme analytisch zu erfassen

Über den Autor

Abdelaziz Bouchara ist Professor für Linguistik und interkulturelle Kommunikation an der Fakultät für Literatur- und Geisteswissenschaften der Universität Hassan II. Casablanca, Marokko. Dort leitete er von 2017 bis 2021 die Abteilung für deutsche Studien. Im Jahr 2000 promovierte er an der Universität Heidelberg zum Thema Höflichkeit in der Interaktion zwischen Deutschen und Arabern. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen in den Bereichen interkulturelle Kommunikation und Deutsch als Fremdsprache.

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