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Pädagogik & Soziales

Renate Leeb-Brandstetter

Neue Heimat! Ferne Heimat? Identitätsfindungsprozesse Migrantenjugendlicher im sozialen Milieu

ISBN: 978-3-95934-758-7

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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 09.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 96
Abb.: 7
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Migration bedeutet für die Betroffenen einen Bruch in ihrer Lebensbiographie. Einwanderungsgesellschaften stehen Zuwanderern und deren Familien nicht gerade offen gegenüber. In diesem Buch geht es schwerpunktmäßig um Migrantenjugendliche der 2. und 3. Generation und deren soziale Lage. Wie kann Jugendlichen dieser Drahtseilakt – eine gute Entwicklung der eigenen Identität bei geichzeitiger Diskriminierung und Unerwünschtheit – gelingen? Das Buch gibt Auskunft über ein psychologisches Verständnis von Identität (Erikson) über Goffmanns Ausführungen zu Stigmata sowie über allgemeine strukturelle Rahmenbedingungen für Migrantenjugendliche. In einer explorativen Studie wird das soziale Umfeld der jungen Menschen untersucht und diskutiert. Als ein handlungstheoretischer Ansatz für wertschätzenden Umgang mit der Diversität wird ein Modell der interkulturellen Kompetenz vorgestellt.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2.4.1 Die Bedeutung der Sprache: […] Sprache ist ein symbolisches System, das in der Lage ist, Kultur zu vermitteln. Weiters determiniert die Sprache unser Denken, beeinflusst unser Handeln, unsere Emotionen und baut Beziehungen auf. Der Primärsprachenerwerb stellt beim Kind entscheidende Weichen für die spätere Entwicklung im Spracherwerb. Sprachen verändern sich, sie sind lebendig. Das Türkisch der Türken in Österreich ist nicht mehr identisch mit dem Türkisch der alten Heimat. Die Sprachen der Migranten stehen unter einem enormen Einfluss der Mehrheitssprache des Aufnahmelandes. Die Muttersprache oben genannter Migrantenkindern hat im öffentlichen Raum wenig Prestige und wird dadurch in die Familie zurückgedrängt. Das Erlernen der Umgangssprache findet im privaten Raum statt. Besonders auffällig ist bei der 2. Generation, dass die Eltern sehr wenig Deutsch können, jedoch (gebrochenes) Deutsch mit den Kindern sprechen, denn die Meinung hat sich etabliert, dass dies besser sei für den Zweitspracherwerb der Kinder. So kommt es einerseits zum Verlust der Muttersprache und andererseits lernen die Kinder fehlerhaftes Deutsch, Erst mit dem Eintritt in öffentliche Bildungsorganisationen (Kindergarten, Schule) wird die deutsche Sprache in Wort und Schrift erlernt. Für den Zweitsprachenerwerb wichtig ist die Beherrschung der Muttersprache. Die Sprache in der Familie ist ein wichtiges Indiz für die Herkunft, den Freundeskreis, aber auch um sich von der Gesellschaft abzugrenzen. Die mitgebrachte Sprache der Eltern fungiert als Medium des Ausdrucks einer affektiven Beziehung. Über Sprache werden emotionale Inhalte (z.B. Freude, Schimpfen, Disziplinieren) vermittelt (vgl. Binder, 2003 S.142). Die Kenntnisse der Herkunftssprache bewegen sich in der zweiten Generation auf einem unterschiedlichen Niveau. Oft wird von den Eltern nur eine Dialektform weitergegeben (siehe weiter unten), welche zu einer Mischform von Muttersprache und Zweitsprache führt (vgl. Ornig 2006, S.273f.). Die mangelnden Sprachfähigkeiten sind bei den Besuchen im Herkunftsland der Eltern/Großeltern ersichtlich. Jetzt bin ich hier in Österreich der Türk, aber komme ich heim (gemeint ist die Türkei, Anm. d. V.) sagen sie der Ausländer kommt, weil sie mich nicht richtig verstehen. Jugendliche bedienen sich häufig einer neuen Form der Sprache, indem verschiedene Sprachen gemischt werden. Das Code-Mixing (z.B. wird ein deutsches Wort im türkischen Satz eingebaut) oder das Code–Switching13 ist Standard-Repertoire von Jugendlichen, unterliegt sozialen Regeln und ist abhängig vom jeweiligen sozialen Stil. So grenzen sich Jugendliche bewusst von der Mehrheitsgesellschaft und anderen Sprachvarianten ab. Das Leben zwischen den Kulturen und Sprachen muss nicht unbedingt ein Problem für sie sein, sondern diese Mischsprache ist Teil ihrer Identität (vgl. Jeuk 2006, S.89ff.). Es muss jedoch aufmerksam gemacht werden, dass Migranten, obwohl sie Deutsch nicht notwendigerweise als Umgangssprache betrachten, Deutsch - in verschiedensten Differenzierungen - können. Dieser Anteil ist bei den Migrantenjugendlichen, häufig in der zweiten Generation, am höchsten (vgl. Simonitsch, Biffl 2007, S.38). Wichtig für das Erlernen der deutschen Sprache ist das Einreisealter in das Aufnahmeland und damit verbunden die frühestmögliche Sozialisation über die Sprache. Kontroversielle Theorien über den Spracherwerb: Ob der Sprachlernprozess von Migrantenkindern glückt, untypisch oder verzögert abläuft, ist u.a. auch vom ehestmöglichen Eintritt in Bildungseinrichtungen der zu lernenden Sprache abhängig. Im Kindergarten wird nicht nur die Sprache des Aufnahmelandes erlernt, ebenso findet die Vermittlung von kulturspezifischen Verhaltensweisen statt. Ein früher Eintritt in diese Sozialisationsinstanzen ermöglicht daher auch den Kindern im spielerischen Umgang das Erlernen sozialer, kultureller und sprachbezogener Kompetenzen. Esser (2003) betont den besonderen Stellenwert einer frühzeitigen Eingliederung in vorschulische Einrichtungen, um den Spracherwerb durch alltägliche interethische Kontakte zu forcieren. Im frühen Alter verpasste Chancen können später kaum noch 'kompensatorisch' durch spezielle Maßnahmen ausgeglichen werden . Gogolin, als Verfechterin der Zweisprachigkeit, vertritt den Standpunkt, dass Kinder sich nur Sprachen aneignen können, wenn sie in intensiven Kontakt mit der Umwelt treten (vgl. Gogolin, Krüger-Potratz 2006, S.174). Die Förderung der Zweitsprache und die Förderung der Zweisprachigkeit sind für Gogolin kein Gegensatz, denn: Bei der Förderung der Zweisprachigkeit, in der Menschen in Deutschland leben, wird zudem ein Mehrwert erwirtschaftet, denn es werden zusätzlich Lese- und Schreibfähigkeiten in den mitgebrachten Familiensprachen der Migranten vermittelt – Fähigkeiten, die für eine vollendete Entfaltung der gesamten sprachlichen Kompetenz eines in zwei Sprachen lebenden Menschen, und erst recht: für die Nutzung der Sprachfähigkeiten im beruflichen Leben, unabdingbar sind . Andererseits betont z.B. Cummins, dass erst nach erfolgreicher Alphabetisierung in der Muttersprache die Sprachenkompetenz für den Aufbau einer weiteren Sprache gegeben ist. Cummins siedelt daher den besten Zeitpunkt für den Erwerb der Zweitsprache im Alter von ca. 9 Jahren an (vgl. Brizic 2006, S.274). Sprachwissenschaftliche Erkenntnisse zeigten, dass ein Bruch im Spracherwerb (verursacht durch den Wechsel von der Erst- zur Zweitsprache) zu einer mangelhaften Spracherwerbsfähigkeit führen und weiterfolgend für die Identitätsentwicklung von Bedeutung sind (vgl. Binder 2003, S.143). Auffallend ist im täglichen Umgang mit Migrantenjugendlichen, dass sehr viele weder ihre Muttersprache noch die deutsche Sprache zur Gänze beherrschen. Dieses Defizit findet seine Fortsetzung in der Tatsache, dass Migrantenjugendliche vermehrt im unteren Leistungsniveau der NMS anzutreffen sind. Die soziale Zuschreibung der Lehrer, wie oben erwähnt, greift und trägt somit zur Chancenungleichheit bei. Sprachliches Lernen, das außerhalb der Schule stattfindet, fließt nicht in die Leistungsbewertung ein. Das hat nicht zuletzt die Konsequenz, dass sprachliche Fähigkeiten, die lebensweltlich erworben werden, nicht in den Genuss einer schulischen Zertifizierung kommen können (Gogolin 2006, S.183). Weitere, den Spracherwerb unterstützende oder behindernde, Faktoren sind der Bildungsgrad der Eltern und deren Zugang zu Bildungseinrichtungen im Herkunftsland. Ob Muttersprache Zweisprachigkeit sich positiv auf den Lebensweg Migrantenjugendlicher auswirkt, hängt auch vom kulturellen Kapital ihrer engsten Umwelt ab. Brizic (2007) beschäftigt sich mit der Frage, warum türkische bzw. kurdische Kinder sowohl in der Zweitsprache Deutsch als auch in ihrer ’Muttersprache’ Kompetenzschwächen aufweisen. Ihren Forschungsergebnissen zugrunde liegt die Ursache in der großen Sprachvielfalt, gegeben durch die zahlreichen Bevölkerungsminderheiten, der Türkei. In der Schule wird zwar Türkisch in Wort und Schrift gelehrt und gelernt, jedoch nicht als Umgangssprache gelebt. Damit ging auch die emotionale Sprache innerhalb der Familie verloren. Die Sprachen der Minderheiten werden in der Schule nicht gelernt, da diese seit 1924 im Zuge der Sprachreform sowohl in geschriebener als auch in gesprochener Form verboten und ihre Schulen geschlossen wurden (S.283). Brizic spricht von der Zeit des kurdischen Schweigens. Die elterliche Sprachkompetenz geht nicht auf die Kinder über, da die Eltern auf ihre Sprache verzichten, um Negativfolgen für die Schullaufbahn ihrer Kinder zu vermeiden. Mit der Sprache geht auch das Wissen um die ursprüngliche Identität verloren (vgl. ebenda). Das erklärt, warum Kinder von Migranten (besonders aus der östlichen) die türkische Sprache nicht sehr gut beherrschen (vgl. Brizic, S. 102ff.). Die Sprachreform, ein insgesamt ambitionierter Versuch gesellschaftlicher Modernisierung, konnte daher nur für eine kleine Minderheit – die Bildungsschicht – erfolgreich verlaufen für die Mehrheit der türkischen Bevölkerung tat sie dies nicht (ebenda, S.115). Die renommierte Sprachwissenschaftlerin Tracy wiederum sieht den Erwerb der Fremdsprache als etwas an, das Kinder systematisch, ausführlich und beständig lernen, wenn sie ein geeignetes Umfeld vorfinden. Darunter versteht Tracy unter anderem ein lustbetontes, anregungs- und variantenreiches Sprachangebot in natürlichen und realen Situationen. Kinder benötigen beim Spracherwerb ein reiches Sprachangebot von ihren Bezugspersonen. Das Vorhandensein von sprachlichen Anreizen veranlasst die Kinder, auf Gehörtes zu reagieren, Laute nachzubilden und sich durch Sprache verständlich zu machen. Kommunikationsfähigkeit gilt besonders auf dem stark expandierenden Sektor der personenbezogen Dienstleistungen (wie z.B. Sozial- und Gesundheitsberufe) als eine Grundvoraussetzung. Von zentraler Bedeutung sind die Deutschkenntnisse für Kinder und Jugendliche, da sowohl Schulerfolg und damit verbunden spätere Erwerbschancen von guten und fundierten Sprachkenntnissen abhängen.

Über den Autor

Mag. Renate Leeb-Brandstetter, BEd Professorin an der Pädagogischen Hochschule Linz, ÖO unterrichtete selbst viele Jahre in urbanen Gebieten, wobei sie täglich mit der Widersprüchlichkeit der Lebenswelt von Migrantenjugendlichen und der österreichischen Gesellschaft zu tun hatte. Sie erlebte viel Nicht Wissen auf beiden Seiten über die Unterschiedlichkeit und das Gemeinsame sowie das Verbindende der Kulturen. Die Autorin forschte schwerpunktmäßig im Bereich der Identitätsbildung. Heute lehrt sie interkulturelle Kommunikation und Persönlichkeitsbildung.

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