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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 09.2010
AuflagenNr.: 1
Seiten: 98
Abb.: 13
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Dieses Buch fragt nach den neurobiologischen Grundlagen von wirkungsvollen Betreuungsbeziehungen in der klinischen Sozialarbeit. In einer interdisziplinär angelegten Untersuchung werden dabei drei Perspektiven verknüpft: Hirnforschung, Philosophie und die Fallbeschreibung eines Schlaganfallpatienten. Seit einigen Jahren werden geistige Aktivitäten im Gehirn in bisher nicht gekannter Qualität beobachtet. Denken, Fühlen und Handeln scheinen sich genau visualisieren und lokalisieren zu lassen. Die Fortschritte der modernen Bildgebung vermitteln jedoch nicht die subjektive Bedeutung des Erlebten. Der Autor ersetzt daher rein naturalistische Deutungen des Gehirns durch eine subjektorientierte und ökologische Konzeption des Zusammenhangs von Gehirn, Psyche und Umwelt. Das Gehirn als Beziehungsorgan wird in seiner entwicklungspsychologischen Bedeutung dargestellt. Die Interaktion von Organismus und Umwelt in der frühen Mutter-Kind-Bindung verändert die plastischen neuronalen Strukturen und ermöglicht so kindliches Lernen. Auch bei Erwachsenen führen soziale Interventionen zu Anpassungen in der Hirnstruktur und praktischen Erfahrungsprozessen. Es wird erläutert, wie die neurobiologischen Konzepte der Spiegelneurone und des autobiographischen Gedächtnisses das Verständnis für Empathie und Intersubjektivität vertiefen können. Zum Abschluss werden Folgerungen der Hirnforschung für Theorie und Praxis der klinischen Sozialarbeit dargestellt sowie ethische Fragestellungen aufgeworfen. Am klinischen Beispiel von Klaus O., der nach einen Schlaganfall kognitiv und affektiv erheblich beeinträchtigt ist, wird der Anspruch gesellschaftlicher Teilhabe diskutiert. Wie lassen sich Hilfeziele gemeinsam aushandeln und umsetzen, wenn Reflexionsvermögen und Motivation stark eingeschränkt sind? Gibt es eine aufgeklärte Einwilligung, einen informed consent und wie müsste er aussehen? Das Buch richtet sich an Lehrende und Studierende der Sozial- und Geisteswissenschaften sowie der Neurowissenschaften.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 4.2, Bindung und Intersubjektivität: Primäre Intersubjektivität. Das menschliche Gehirn entwickelt sich von der Pränatalzeit an in Resonanz mit der Mutter, deren körperliches und seelisches Befinden sich auf das ungeborene Kind überträgt. So können sich dauerhaft erhöhte Stressreaktionen der Mutter auf Gehirnreifung und Temperamentsentwicklung des Fötus auswirken. Kinder, die unter derart ungünstigen pränatalen Bedingungen aufwachsen, zeigen in ihrer weiteren Entwicklung nachweislich häufiger Verhaltensauffälligkeiten. Auch nach der Geburt kommt es zu einem fein abgestimmten Dialog zwischen Mutter und Kind. Vereinfachtes Verhalten wie die Ammensprache der Mutter erleichtert einen affektiven Austausch, der den Neugeborenen beruhigen oder auch stimulieren kann ( affekt-attunement ). Säuglinge ihrerseits haben zum Beispiel eine Vorliebe für die mütterliche Stimme, deren Klangmuster ihnen vertraut ist. Die Ergebnisse der Säuglingsforschung stützen die phänomenologische Konzeption Merleau-Pontys von einer ursprünglichen Sphäre kommunikativer ´Zwischenleiblichkeit` . Mutter und Kind spüren sich am eigenen Leib, lange bevor verbales und reflexives Verstehen einsetzt. Die Säuglinge verfügen über ein angeborenes intersubjektives Körperschema, das die Wahrnehmung des eigenen Körpers mit der des anderen verbindet. So imitieren Neugeborene gezielt, also nicht nur reflexhaft, mimische Signale wie das Zungezeigen oder Mundöffnen. Für unbelebte physische Objekte, selbst wenn sie sich bewegen, zeigen Säuglinge dagegen deutlich weniger Interesse als für das Verhalten lebender Personen. In den dyadischen Bewusstseinszuständen der ersten Lebensmonate lernt das Kind nun die mütterlichen Emotionen mit spezifischen Kontexten zu verbinden und seine Bedeutungen zu unterscheiden. Für Martin Dornes entwickelt sich die volle Interaffektivität bis zum Alter von etwa neun Monaten. John Bowlby legte Mitte des letzten Jahrhunderts mit der Bindungstheorie einen Erklärungsansatz vor, der die Entwicklung einer primären Intersubjektivität beim Säugling psychologisch und neurobiologisch anschaulich macht. Inzwischen sind aktuelle Modelle der Bindungstheorie zu einem wichtigen Forschungsfeld von Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaften geworden. Die Bindungstheorie geht von einem angeborenen Bindungsbedürfnis aus, das zur Regulation von Nähe und Distanz zu wichtigen Bezugspersonen beiträgt. Das Kind hält bedeutsame Beziehungserfahrungen in inneren Arbeitsmodellen von Bindung und in sicheren oder auch unsicheren Bindungsstilen (Anm.8) fest. Die Bindungsstile haben im limbischen System und in koritikalen Hirnstrukturen neuronale Korrelate und werden durch Neurotransmitter, wie körpereigenen Opiaten und das Bindungshormon Oxytoxin moduliert. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Bindung zu wichtigen Personen (Partner, eigenes Baby) das neuronale Belohnungssystem in Gang setzen sowie eine Deaktivierung von negativen Gefühlen ( Liebe macht blind ) bewirken . Bauer geht sogar davon aus, dass eine Mindestdosis von verstehender Resonanz ein elementares biologisches Bedürfnis ist, ohne das wir letztendlich gar nicht leben können . Thomas Fuchs beschreibt die frühe Mutter-Kind-Dyade als ein biologisches System nach dem Schema des Funktionskreises (…), wobei hier der Kreis zwei Subjekte umfasst, von denen eines die Umwelt für das andere darstellt . Die Bindung zur Mutter ermöglicht eine Reifung der biologischen und psychischen Potentiale oder Vermögen des Säuglings. Die offenen Schleifen seines noch unreifen Gehirns suchen im Bindungsverhalten nach Homöostasen mit dem ausgereiften System der Mutter, bis es durch die Verinnerlichung von inneren Arbeitsmodellen und einer erfolgreichen Erprobung von Selbstwirksamkeit an Autonomie gewinnt. Bei angemessener Fürsorge wächst Vertrauen und eine sichere Basis für die Erkundung der Umwelt. Die Bindungsperson ist dann für das Kind auch ein Rückzugsort, wenn es auf Schwierigkeiten stößt und Trost oder Schutz braucht. Bei kurzzeitigen Störungen der Bindungsbeziehung, die unvermeidlich sind, wird der Stresskreislauf des Kindes durch beruhigende Aktivitäten der Mutter oder auch des Vaters interaktiv repariert . Anhaltende Vernachlässigung von nahen Bezugspersonen, Verlust und traumatische Erfahrungen können die Entwicklung des Kindes nachhaltig beeinträchtigen. Die Folge ist die Ausbildung von inkonsistenten Bindungsstilen und Störungen der Gehirnreifung. Die Verminderung des Hippokampusvolumens und eine Übersensibilität der Amygdala kann dann von Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit, der Impulskontrolle, des Sozialverhaltens oder der Affektregulation, wie etwa bei den Borderline-Persönlichkeitsstörungen begleitet sein. Von besonderem klinischen Interesse ist dabei auch die transgenerationale Weitergabe von Störungen des mütterlichen Fürsorgeverhaltens, die bei Untersuchungen an Ratten und auch in der humanen Bindungsforschung belegt ist. Die klinische Forschung beschäftigt sich verstärkt mit der Veränderbarkeit von Bindungsstilen, die mit dysfunktionalem Verhalten im Zusammenhang stehen. Fonagy et al. konnten nachweisen, dass sich die Bindungssicherheit bei vierzig Prozent der Patienten mit unsicherer Bindung nach einer einjährigen Psychotherapie deutlich erhöht hat. Eine ähnliche Wirkung hat die soziale Unterstützung durch einen sicher gebundenen Lebenspartner und, dies ist zu vermuten, in einer stabilen sozialarbeiterischen Betreuungsbeziehung. Sekundäre Intersubjektivität: Ab dem neunten Lebensmonat ermöglicht eine Neunmonatsrevolution sprunghafte Entwicklungsschritte für den Säugling. Die Synaptogenese, also die Neubildung von synaptischen Verschaltungen erreicht zu diesem Zeitpunkt seinen Höhepunkt, bevor sie im zweiten Lebensjahr wieder deutlich. In der Neunmonatsrevolution zeigt der Säugling auf Situationen und Objekte, statt sie anzufassen. Die Mutter soll die unterbrochene Bewegung geistig zu Ende führen. In umgekehrter Bewegung lenkt der Säugling seine Aufmerksamkeit auf einen visuellen Fokus, auf den die Mutter ihn hinweist (Abb.10: Joint attention von Mutter und Kind). Das Kind weiß nun, dass das Objekt Teil der eigenen Aufmerksamkeit und der der Mutter ist, und beide wissen, dass dies ihr beider Fokus ist. Die von beiden verstandene joint attention stellt so den intersubjektiven – weil sich bewusst zwischen beiden abspielenden – Kontext dar, innerhalb dessen ein erster Symbolisierungsprozess stattfinden kann. Das Kind, das die Mutter als intentional handelndes Wesen erfasst, gewinnt die Fähigkeit, nicht nur durch sie, sondern auch von ihr zu lernen. Die Zeigegesten von Mutter und Kind drücken Bedeutung aus und sind damit erste symbolische Handlungen. Mit der Modulation der Stimme und dem Erlernen von Sprachregeln löst sich die Kommunikation des Kleinkindes von ihrem primär physischen Ausdruck zum symbolischen Medium der Sprache. Genauso wie im kommunikativen Funktionskreis des Kleinkindes Zeigen immer auch ein unterbrochenes Greifen ist, bleibt Sprechen immer auch Zeigen. In Wahrheit ist das Wort immer auch Gebärde und es trägt seinen Sinn in sich wie die Geste den ihren . Die bedeutungsvolle sekundäre Intersubjektivität liegt jenseits der primären zwischenleiblichen Intersubjektivität der Mutter/Vater-Kind-Dyade. Die primären Affekte werden in dieser Zeit durch sekundäre Gefühle überformt und sozialisiert . Aus der joint attention entwickelt sich die joint action , also das gemeinsame Handeln, das ein Aktionsverstehen des anderen voraussetzt und hohe Effizienz bei kooperativer Zusammenarbeit bei der Bewältigung von Problemen und Aufgaben in der (gemeinsamen) Umwelt bereitstellt . Die neuen interaktionellen Erfahrungen sind spezifisch menschlich, denn andere Primaten können, wie im Kapitel 3.2. gezeigt wurde, keine bedeutungshaltige Aufmerksamkeit und Handlung einer sekundären Intersubjektivität entwickeln. Thomas Fuchs sieht hier einen entscheidenden Schritt zur der Entwicklung der exzentrischen Position , in der sich die menschliche Personalität ausdrückt. Monate bevor das Kind die Fähigkeit zu mentalen und sprachlichen Symbolisierungen erwirbt, hat es ein implizites Wissen von der Intention der Anderen, denn sie ist sichtbar in den Sinngestalten ihrer Handlungen und verkörpert in den Gesten ihres Leibes im Kontext der gemeinsamen Situation . In der vorsprachlichen Kommunikation lernt das Kind Muster und Rhythmen von affektiv-leiblichen Austauschprozessen, die mit der Entwicklung der sekundären Intersubjektivität, in echte, nämlich zweiseitige Interaktionen übergehen und noch später, mit dem Spracherwerb zur Form der verbalen, symbolischen Interaktion finden .

Über den Autor

Sven Bahlmann, geb. 1962, arbeitet als Diplom-Sozialpädagoge (M.A., Klinische Sozialarbeit) in einem Wohnprojekt für Aidskranke in Berlin. Sein besonderes Interesse gilt sozialen, psychischen und physiologischen Zusammenhängen in Betreuungsbeziehungen, die eine interdisziplinäre Verbindung von Geistes- und Neurowissenschaften in der praktischen sozialen Arbeit notwendig machen.

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