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- Mündigkeit und Schulautonomie. Eine Analyse für Volksschulen und ihre Schüler*innen nach Immanuel Kant
Pädagogik & Soziales
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Verlag:
Diplomica Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 08.2025
AuflagenNr.: 1
Seiten: 68
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Das Autonomiepaket der österreichischen Bildungsreform 2017, mit dem Ziel einer selbstverantworteten, chancengebenden Schule (Autonomiepaket 2017), wirft grundlegende Fragen über die Grenzen und Möglichkeiten von Schulautonomie auf. Autonomie ist dabei besonders wichtig, da die Entwicklung von Autonomie und Mündigkeit in frühen Lebensjahr ein wesentlicher Bestandteil der Entwicklungsaufgaben ist und weitere Entwicklungen beeinflussen kann (Kubsda 2018, S. 33). In dieser Untersuchung wird daher vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen untersucht, inwiefern die österreichischen Schulreformen den Bedürfnissen der Schülerinnen Rechnung tragen und ob Autonomie tatsächlich bis auf die Ebene der Lehrerinnen und Schülerinnen reicht. Dies wirft ein kritisches Licht auf die aktuellen Bildungsstandards und Zielvorgaben, und hinterfragt, ob diese die Mündigkeit der Schülerinnen fördern oder einschränken. Innerhalb dieses Buches wird somit das dynamische Zusammenspiel von Mündigkeit und Autonomie im Bildungssystem erkundet.
Textprobe: Juristische Sicht In Österreich wird im bürgerlichen Recht zwischen … Volljährigkeit, die ab dem 18. Lebensjahr eintritt, und Strafmündigkeit, die ab dem 14. Lebensjahr wirksam wird, unterschieden. (Volljährigkeit 2020) Volljährigkeit findet im weniger gebräuchlichen Wort Majorennität (Volljährigkeit 2020) seine etymologischen Wurzeln, welche die lateinischen Begriffe majorennitas und pubertas widerspiegeln, in denen verschiedene lateinische Altersstufenbezeichnungen (Sommer 1984, S. 11512) deutlich werden. Bei dieser Unterscheidung geht es um das semantische Problem, in juristischer Begrifflichkeit den Status des Noch-nicht von dem des Jetzt-schon der Mündigkeit durch eine klare Zäsur zu unterscheiden, obwohl die Kontinuität des Lebensprozesses für die genaue Markierung dieser Grenze keinen sicheren Anhalt bietet. (A.a.O., S. 11513) Im rechtlichen Sinn existieren diverse Mündigkeiten (ebd.): Erb-, Ehe- und Geschäftsfähigkeit (Zivilrecht 2020). Darin zeigt sich, dass im Recht mit diskreten Schnitten anhand des Alters verschiedene Mündigkeiten hergestellt werden. Ein Vorgang, der in einer anthropologischen Dimension als Kontinuum existiert und sich durchaus von Person zu Person unterschiedlich in der individuellen Entwicklung darstellen kann. Philosophischer und pädagogischer Zugang Der Begriff Mündigkeit entsteht ursprünglich als Rechtsbegriff und aus dem althochdeutschen Wort Munt, das in mittelalterlichen Quellen den Haushalt und darin die Stellung des Hausherrn gegenüber Frau, Kindern und Gesinde bezeichnet: Die Munt bedeutet nach innen Herrschaft und Fürsorge, nach außen Haftung und Schutz. (A.a.O., S. 11512) Mündigkeit bedeutet in diesem Kontext, schlicht außerhalb der Munt des Hausherrn bzw. Vaters zu leben. Die gegensätzliche Bedeutung von Munt und Mündigkeit erklärt sich dadurch, dass das Wort Mündigkeit wohl als Verkürzung der erloschenen Selbst-Mündigkeit entstanden ist. (Ebd.) Auf diese Weise sind in dem Begriff Mündigkeit zwei Bedeutungen aufgehoben: Unabhängigkeit als Negation eines vergangenen und Selbstständigkeit als Behauptung eines gegenwärtigen Zustandes. (Ebd.) Es muss betont werden, dass ein solcher Prozess lediglich für Söhne galt: Für Frauen war Mündigkeit keine soziale Möglichkeit, was wiederum auf eine Geschichte der patriarchal induzierten Unmündigkeit ganzer Bevölkerungsteile verweist. In seinem Aufsatz von 1784 mit dem Titel Was ist Aufklärung löst Kant den Begriff der Mündigkeit aus dem Rechtskontext und macht ihn für einen sozialphilosophischen Gebrauch nutzbar. Dieser Gebrauch erhält im deutschsprachigen Raum insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg erneut Bedeutung. Es erscheint sinnvoll, Kants Begriffsprägung aus dieser Rezeption her zu verstehen, da Mündigkeit in genau dieser Zeit für die Pädagogik erneut relevant wird. In einem Radiogespräch zwischen Theodor W. Adorno und Hellmut Becker anno 1969, das später unter dem Titel Erziehung zur Mündigkeit erscheint, weist Adorno gleich zu Beginn auf die Relevanz von Kants Definition von Aufklärung hin – als den Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit wird darin negativ bestimmt, als Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen (Kant 1784/2004, S. 5). Adorno betont zugleich, dass es Kant dabei nicht um einen Mangel an Verstand geht, wenn er von selbstverschuldet spricht, sondern um ein fehlendes Maß an Mut und Entschließung , sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen (Adorno 2013, S. 120). Dementsprechend kulminiert Kants Begriffsumkreisung in dem Ausspruch: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! (Kant 1784/2004, S. 5) Zu diesem Prozess gehört auch, dass die Vernunft sich über sich selbst aufklärt , weil sie in der Lage ist, sich in ihrer eigenen Spekulation in eine Logik des Scheins zu verstricken. Sie hat eine Tendenz, Begriffe und Ideen, die sie schafft, nicht als regulative, also ordnende anzusehen, sondern verdinglicht sie als Tatsachen, als ihre eigenen Fabrikate. In dem Sinn kann nur eine Vernunft, die sich letztlich über sich selbst aufklärt, ihrem eigenen Anspruch genügen, da sie sonst in Unvernunft umzuschlagen droht. (Kubsda 2018, S. 29) Indem Adorno und Becker fortfahren, über Begabung zu diskutieren und deren genetische Komponente in Zweifel zu ziehen, und zugleich davon sprechen, dass Kinder nicht begabt sind, sondern dass sich Fähigkeiten durch Herausforderungen und Förderungen entwickeln, man also gleichsam ‘begaben’ kann (Adorno 2013, S. 121), dann sprechen sie von dem, was heute, 50 Jahre später, in Österreich und anderswo nach wie vor grundlegende Fragen von Bildung, Bildungspolitik und Bildungsgerechtigkeit ausmachen. In Frage sei gestellt, inwiefern ein solches Begaben im Zuge von Schulautonomie, ein Ermutigen zum Mut und zur Entschlusskraft, sich seiner eigenen Vermögen tatsächlich ohne die Leitung eines anderen, also selbstbestimmt, zu bedienen vermag. Dies schließt zwar prinzipiell eine Hinführung und Begleitung nicht aus, aber zu den Fähigkeiten gehört, für die gegenwärtig wirkliche Bedingungen geschaffen werden, ob sie überhaupt als Fähigkeiten angesehen werden, die es wert sind, ausgebildet zu werden. Adorno geht noch einen Schritt weiter, wenn er von Begabung sagt, dass sie Funktion gesellschaftlicher Bedingungen sei, so dass schon die Voraussetzungen der Mündigkeit, von der eine freie Gesellschaft abhängt, von der Unfreiheit der Gesellschaft determiniert ist . (Adorno 2013, S. 122) Wenn Begabung Funktion gesellschaftlicher Bedingungen ist, dann lässt sich nicht nur fragen, wie Kinder und Menschen generell in und von einer Gesellschaft begabt werden, sondern auch, wer auf welche Weise. Dieser letzte Frage-Fokus wird in öffentlichen Debatten meist unter Begriffen von Chancengleichheit und Integration diskutiert, doch weist eine solche Frage auch auf institutionellen bzw. strukturellen Rassismus und Sexismus hin, gepaart mit existierenden Hindernissen zur Frage nach sozialer Herkunft, die Adorno und Becker noch unter dem Begriff Klasse benennen. Daraus resultiert eine immense Aufgabe gegenwärtiger Bildungspolitik im Sinn eines umfassenden Abbaus präexistenter Hürden auf dem Weg zur Realisierung konkreter Mündigkeit als tatsächliche Selbstbestimmung bei heranwachsenden Menschen. Wenngleich dies über den Horizont der vorliegenden Untersuchung hinausgeht, lässt sich daran ablesen, was mit Bildung, Erziehung und Mündigkeit auf dem Spiel steht, was deren Vorbedingungen sind, was mitgedacht werden muss. Mit Becker, Adornos Gesprächspartner, lässt sich sodann auf weitere, heute aktuelle und relevante Fragen blicken, wenn er von der Auflösung eines festen Kanons in der Schulreform spricht und eine Schule mit breiter Wahldifferenzierung und ausgedehnter innerer Differenzierung innerhalb der einzelnen Fächer (Adorno 2013, S. 131) vorstellt, in der Schüler*innen an der Bestimmung des Lehrplans mitwirken können: Im Sinne einer demokratischen Teilhabe würde so, was in der Schule geschieht, zur Folge der Entscheidungen der Schüler*innen. Dies zeigt wiederum eines der eingangs formulierten Probleme an: Es kann nicht allein um die formale Autonomie von Schulen gehen. Adorno fügt dem Punkt Beckers hinzu, dass solche Überlegungen noch immer in einem institutionellen Rahmen verhaftet seien, und fragt, wie die Konkretisierung der Mündigkeit aussehen könne (Adorno 2013, S. 131). Wo müsste sie sonst noch ansetzen? Eine Antwort, die gleichzeitig keine ist und doch das Ausmaß präsentiert, wäre: überall dort, wo Schule nicht ist. Im weiteren Gesprächsverlauf kommt Adorno auf Kants Unterscheidung zu sprechen, mit der Kant fragt: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? Die Antwort ist: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung (Kant 1784/2004, S. 9) Womit er also Mündigkeit nicht als eine statische, sondern ganz konsequent als eine dynamische Kategorie, als ein Werdendes und nicht als ein Sein bestimmt hat. (Adorno 2013, S. 130) Fokussiert formuliert: Kant versteht Aufklärung als regulative Idee, die nicht auf etwas Abgeschlossenes oder gar Abschließbares verweist. Denn Vernunft würde niemals aufhören, sich irren zu können, was die Notwendigkeit einer fortwährenden Selbstreflexion begründet. (Kubsda 2018, S. 33). Dieses Prozessuale zeigt wiederum die Schwierigkeiten an, die der Mündigkeit in der Welt durch die Einrichtung der Welt entgegenstehen. Da diese heteronom eingerichtet sei, könne niemand völlig selbstbestimmt handeln. Daraus ergibt sich die offene Frage: Wie dem entgegenwirken ? (Adorno 2013, S. 130) Bünger untersucht aus einer Perspektive der kritischen Pädagogik den Begriff der Mündigkeit sowie die Tücken in der pädagogischen Anwendung des Begriffs seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts er schließt dabei ebenfalls an Mündigkeit als dynamische Kategorie an, wie sie Adorno herausgestellt hat (Bünger 2018, S. 51). Als eine der historischen Fallen, die in der pädagogischen Praxis im Umgang mit Mündigkeit aufgetaucht sind, beschreibt Bünger die normative Anwendung des Begriffs mit dem Effekt einer hierarchisierenden Unterscheidung von jenen schon Mündigen gegenüber den noch Unmündigen [...], die alle Mehrdeutigkeiten und Widersprüche zugunsten einer teleologischen Perspektive ausblendet. (Bünger 2018, S. 48) Die Tücke – so lässt sich schließen – eines solchen teleologischen Verständnisses ist die Ausrichtung auf ein Erreichen von Mündigkeit, sowie fixes Wissen über sie, das dann weitergegeben werden kann, von Lehrperson zu Schüler*in, von Eltern zu Kind, etc. – in dem Sinne eine Art Fiktion. An dieser Stelle lässt sich eine Analogie zu Rancières Joseph Jacotots Einsicht aufmachen, jene Einsicht in die Notwendigkeit einer Umkehrung der Logik des Erklärsystems : Der Erklärende braucht den Unfähigen, nicht umgekehrt. Er ist es, der den Unfähigen als solchen schafft. Jemandem etwas erklären heißt, ihm zuerst zu beweisen, dass er nicht von sich aus verstehen kann. Bevor die Erklärung ein Akt des Pädagogen ist, ist sie der Mythos der Pädagogik, das Gleichnis einer Welt, die in Wissende und Unwissende geteilt ist, in reife Geister und unreife Geister, fähige und unfähige, intelligente und dumme. (Rancière 2007, S. 16–17) Und für Rancière ist es gerade die des Aufgeklärten , welche die Trauerarbeit der Erklärung in Gang setzt. (a.a.O., S. 18) Ein solcher Glaube an zwei qualitativ verschiedene Intelligenzen ist Bünger zufolge, der Gernot Böhme zitiert, eine eigene Form der Unfreiheit, eine Norm, der der einzelne Mensch in seiner Entwicklung entsprechen muss, will er als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft angesehen werden. (Bünger 2018, S. 48) Es geht also darum, dass aus einem Erziehungsziel, einer pädagogischen Idee und Phantasie, ein Verhaltensanspruch werden kann. Einer solchen Gefahr begegnet Bünger, in Anlehnung an Adorno, mit der Idee eines Problemhorizont[s] von Bildungsprozessen , die er in der Chiffre der Politizität der Bildung begreift, in welcher es insbesondere um die Mehrdeutigkeit, die Verstrickung und die Gebrochenheit eines solches Prozesses geht, der Bildung in den Strukturen [...] und Dynamiken von Macht und Herrschaft zu thematisieren sucht . (2018, S. 49-50) Als notwendig offene wird damit zudem eine Idee entworfen, die nicht ausschließlich subjektzentriert gedacht wird, sondern in der zugleich die leibliche wie auch die transsubjektive, soziale Dimension von Mündigkeit Raum bekommt. (Bünger 2018, S. 50) Dieser letztere Aspekt wird in der vorliegenden Untersuchung wiederholt aufgegriffen. Daran anknüpfend, erscheint es als hilfreich herauszustellen, dass es, sozial gesehen, verschiedene Ebenen von Mündigkeit gibt, auf denen diese verwirklicht werden kann: Erstens, und das wurde zuvor angeschnitten, ginge es um eine Verminderung von Hürden in Aus-/ Weiter-/Bildung, also um die Schaffung von gerechten Bedingungen. Zweitens geht es um das eigentliche Lernen und Sich-Bilden als ein Selbstbestimmtes, als selbst geleitete Aktivität, die durchaus nicht allein den Verstand betrifft, sondern das ganze Wesen eines Menschen – ein Aspekt, der beispielsweise durch Schiller mit der Idee der ästhetischen Erziehung erstmals formuliert wird. Drittens geht es, mit Adorno gesprochen, um die Erlangung eines Bewusstseins von versuchter Fremdsteuerung vermittelst Kulturindustrie und sich aktualisierender und voranschreitender Formen von Kapitalismus, der im Zeichen und mithilfe von Konsum eine Vorformung von Geschmack, Trieb und Begehren betreibt. Viertens – das setzt unmittelbar an eine Bewusstseinsbildung an und erweitert die negative Perspektive einer Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand , die Adorno hervorhebt – ginge es konkret um die Frage: Wie wollen wir leben? Wo lassen sich im Kleinen, im Partikularen und im Mikrologischen, Formen mündiger Selbstverhältnisse und mündigen Miteinanders gestalten? Kant sieht in seinem Aufsatz in Bezug auf seine Zeit speziell die Religion sowie ihre Ausübung und institutionelle Einbettung als Schauplatz der Unmündigkeit. (Kant 1784/2004, S. 9) Daran zeigt sich im Vergleich zu Adornos Diagnosen, in welchen er insbesondere auch die Unfreiheit in den Wissenschaften und an den Universitäten seiner Zeit beklagt, wie entscheidend es ist, Kants Aufsatz und Aufruf zur Mündigkeit nicht blind und programmatisch im Sinne eines zeitlosen Selbstverständnisses von dem, wovon Kant spricht, aufzufassen. Er selbst weist auf eine solche Gefahr indirekt hin, wenn er Hindernisse von Mündigkeit analysiert: Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Missbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. (Kant 1784/2004, S. 5) In jedem historischen Moment besteht die Möglichkeit, Kants Ermutigung in einer Formel versteinern zu lassen. Mit dem Bewusstsein scheint heute unvergleichbar mehr auf dem Spiel zu stehen, gerade weil die kapitalistische Produktion und Wertschöpfung ein Ausmaß erreicht hat, dem Unmündigkeit zur Bedingung geworden ist, und verhältnismäßig wenige von einer Fortführung und Ausweitung von der Unmündigkeit vieler profitieren. Darüber hinaus, mit Blick auf ein selbst gestaltetes Leben als Mündigkeit (Kubsda 2018, S. 33), ist es heute nicht allein personale Selbstbestimmung, die gefährdet ist, sondern auch kollektive, wozu genau jene ökologischen Bedingungen zählen, auf denen menschliche Freiheit fußt: der Erhalt und die Erneuerung planetarer Ökosysteme. Angesichts dieser Lage lässt sich mit dem eingangs eingebrachten Zitat Foucaults aus dessen Aufsatz Was ist Aufklärung fragen: Welche Haltung, welches Ethos braucht es heute innerhalb und außerhalb von Bildung, um gesellschaftliche Begrenzungen von Mündigkeit aufzulösen und über sie hinauszugehen? Wie lassen sich die Bedingungen für ein Ethos von Mündigkeit und Selbstbestimmung schaffen? Und wie ist es möglich, Autonomie nicht allein als Selbstbestimmung, sondern ebenso als kollektive, transsubjektive Bewegung zu begreifen? Beispiele aus der Primarstufe Mündigkeit nimmt ihren Anfang nicht erst zu Beginn der Primarstufe, vielmehr, wie bereits im vorhergehenden Kapitel beschrieben, richtet sie sich auf ein selbst gestaltetes Leben (Kubsda 2018, S. 33). Das Streben nach Mündigkeit beginnt, wenn Leben seinen Anfang nimmt und erstreckt sich daher ebenso über die Primarstufenphase. Einzelne Aspekte dieser frühen Form der Mündigkeit eines Kindes, sollen in diesem Unterkapitel beschrieben werden. Schuhbänder Bereits im Vorwort dieses Buches ist die persönliche Erfahrung und Position der Autorin als Primarstufenlehrerin, aber auch als Mutter zweier Kinder, kurz beschrieben. Aus dieser Erfahrung heraus zeigt sich, dass das Streben nach Eigenständigkeit, nach Mündigkeit, auch über das Binden der Schuhbänder zum Ausdruck gebracht wird. Sich unabhängig von Erwachsenen selbst ankleiden zu können, stellt einen kleinen Meilenstein der Selbstständigkeit dar und sollte nicht erst in der Primarstufe, sondern bereits davor (im Kindergarten und vor allem zuhause) positive Verstärkung erfahren. Alternativen, welche die Bequemlichkeit fördern, wie etwa Schuhe mit Klettverschluss, sollte eine Mutter bzw. ein Vater eher vermeiden, da sie die Kinder vom Streben zur Selbstständigkeit abbringen. Schuhe zu binden, eine Schleife zu binden, zählt zu den Basisfähigkeiten und sollte so früh als möglich gelernt und gelehrt werden. Wassertrinken Zu solch vermeintlich kleinen Anzeichen von Mündigkeit zählt auch das Wassertrinken. Kinder lernen bestenfalls bereits im Heranwachsen auf gesunde Weise ihr Bedürfnis nach Durst zu artikulieren. Dies geschieht anfangs noch völlig nonverbal, ist jedoch nicht weniger wichtig, da das Kind genau dabei lernt, sich auf die eigenen Körpersignale zu verlassen. Darüber werden die Grundlagen dafür gelegt, was sich als körperliche Mündigkeit verstehen lässt. Wenn Kinder früh lernen, ihren körperlichen Bedürfnissen nachzugehen und auch die Möglichkeit bekommen, diese auszuleben, dann braucht es auch in der Schule keine verordneten Trinkpausen o.ä. Die Kinder haben bereits gelernt, ihren Bedürfnissen nachzugehen. Eine Voraussetzung für die Lehrperson dabei ist, dass Kindern gewährt wird, dann zu trinken, wenn sie durstig sind, und diese Bedürfnisse nicht auch für die Unterrichtszeit nicht zu unterbinden. Ein solches Verbot würde sich schädlich auswirken auf die Selbstständigkeit von Kindern, ihren natürlichen körperlichen Bedürfnissen nachzugehen. Sitzplatz im Klassenzimmer Die Art und Weise, wie Kinder sich in der Klasse verteilen, kann als Ausdruck von Entscheidung und Selbstbestimmung gelesen werden. Dass Kinder die Möglichkeit bekommen, ihre freie Wahl zu treffen, wenn es um ihre Sitzplätze geht, erscheint deshalb als wichtig, weil dann keine willkürliche Form von dem*der Lehrer*in von außen aufgezwungen wird. In der Sitzplatzwahl spiegeln sich Anziehung und Ablehnung, Sympathie und Antipathie, denen Raum gegeben werden sollte, da auch in solchen scheinbar kleinen Entscheidungen eine wichtige Form der Eigenständigkeit eingeübt wird. Eine Lehrperson sollte (aus Sichtweise der Autorin) nur dann intervenieren, wenn eine ständige Störung auftritt oder Kinder ausgegrenzt werden. Und auch in solchen Fällen geht es nicht unbedingt darum, eine unmittelbare Entscheidung durch das wahllose Umsetzen von Kindern von außen vorzugeben. Es gilt zu verstehen, weshalb eine Störung oder eine Ausgrenzung auftreten kann, und mit den Kindern gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Auf diese Weise wird die Gefahr verringert, dass seitens der Lehrerposition Macht über die Kinder ausgeübt wird. Diese werden in den Entscheidungsprozess als mündige Menschen miteinbezogen. Denn selbst wenn Kinder ihre Mündigkeit noch entwickeln, kommt es dennoch darauf an, ihnen so zu begegnen, als sei diese bereits erfolgt. Habermas schreibt zu diesem Vorgang, dass es auf diese Weise ermöglicht wird, unter der Obhut vorgeschossener Mündigkeit mündig zu werden (Sommer 1984, S. 11520). Schultasche und Federschachtel Gegenstände wie Schultasche und Federschachtel sind als Teil der persönlichen Sphäre eines Kindes zu anzusehen. Dementsprechend ist es wichtig, dass Lehrpersonen diesen Raum respektieren. Daraus folgt auch, dass Lehrer*innen es sich nicht erlauben dürfen, Schultasche und Federschachtel zu kontrollieren, da dies ein Eindringen in eine persönliche Sphäre bedeuten würde – ein Machtmissbrauch. Die Frage stellt sich, welche und in welchen Fällen Ausnahmen gemacht werden können oder dürfen. Selbst der Verdacht, ein Kind Gegenstände würde Gegenstände mit sich führen, mit denen andere verletzt werden könnten, darf noch nicht rechtfertigen, sich Zugang zu den persönlichen Sachen eines Kindes zu verschaffen. Auch hier muss die Selbstständigkeit eines Kindes gewahrt werden: Kooperation geht hier vor Hierarchie. Turnkleidung Häufig wird vorgeschrieben, was als angemessene Turnkleidung gilt, und was nicht. Dies kann problematisch werden, wenn Kinder aus armen oder einkommensschwachen Haushalten kommen, da Kleidung, darin auch Turnkleidung, für Kinder zu einem schamhaften Thema werden kann, wenn sie sich finanziell nicht leisten können, was die meisten ihrer Mitschüler*innen tragen. In anderen Fällen kann es vorkommen, dass sich Kinder in ganz bestimmten, vor allem oftmals geschlechtlich codierten Kleidungsstücken schlicht nicht wohlfühlen. Sei es, weil diese zu eindeutig gegendert sind oder weil deshalb Körperteile preisgegeben werden, die in einer bestimmten Alters- und Entwicklungsphase nicht gezeigt werden möchten. Die Gründe dafür können vielfältig sein. In allen Fällen gilt jedoch, dass die Lehrpersonen solche Schwierigkeiten antizipieren: Indem zum einen die Vorschriften so gering wie möglich gehalten werden, zum anderen es Kindern ermöglicht wird, ih-nen Ansprechpersonen zu nennen, um heikle Themen besprechen zu können, damit sie sich als einzelne vor einer Klasse nicht bloßstellen müssen. Solche Angebote können Kindern helfen, ihre teilweise noch eingeschränkte oder sich in Entwicklung befindliche Mündigkeit zu wahren und weiterzuentwickeln.
Marie-Christin Grobner, MEd. BEd. wurde 1989 in Niederösterreich geboren. Nach ihrem Studium hat sie 13 Jahre als Volksschullehrerin und stellvertretende Schulleitung in Niederösterreich gearbeitet, ist nun seit 2021 als Hochschullehrgangsleitung für Freizeitpädagogik, als Lehrende und Forschende an der Pädagogischen Hochschule NÖ tätig. Derzeit schreibt sie an ihrer Dissertation im Fachbereich Pädagogik
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