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Pädagogik & Soziales

Anja Lemke

Die Konstruktion nationaler Identität in Ost- und Westdeutschland während des Mauerfalls

Eine Diskursanalyse deutsch-deutscher Gegenbilder

ISBN: 978-3-8428-6337-8

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Produktart: Buch
Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 07.2011
AuflagenNr.: 1
Seiten: 148
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Seit Anderson wissen wir, dass die Nation etwas Erfundenes ist. Dennoch besitzt seit dem 19. Jahrhundert kaum ein anderes Konzept eine solche politische Zugkraft und genießt eine so unerschütterliche weltanschauliche Verankerung wie die Nation. Nicht von ungefähr war auch seit der Teilung Deutschlands in zwei Staaten die deutsche Wiedervereinigung ein in den Verfassungen festgeschriebenes Ziel: Die deutsche Nation sollte wieder unter einem Staat vereint werden. Die konträren Lebensumstände, in denen sich die beiden deutschen Staatsvölker bis 1990 entwickelten, wurden nicht berücksichtigt. Dabei fand sich in dem geteilten Deutschland eine Situation, die einzigartig war: Es bündelte sich die Aufteilung der Welt in einen kapitalistischen und einen sozialistischen Block an der Grenze zwischen BRD und DDR. Unter der Blockkonfrontation und Systemkonkurrenz bildeten sich zwei eigenständige Einheiten aus. Trotzdem wurde - von westdeutscher Seite bis zum Schluss, von ostdeutscher Seite bis 1972 - an der Idee einer zusammengehörigen Nation festgehalten. 1989, nach der Öffnung der Grenze, konnten sich Deutsche aus Ost und West real endlich wieder in die Arme fallen. Eine besondere Form des Nationalismus - der Nativismus - gab den Forderungen nach der Wiedervereinigung ihre mobilisierende Kraft. Dennoch ist fraglich, wo und wie die Grenzziehung zwischen dem, was zum eigenen Kollektiv gehört und was nicht, definiert wurde. Anja Lemke nimmt in ihrer Studie das Ereignis des Mauerfalls vom 9. auf den 10. November 1989 zum Anlass, die Konstruktion der deutschen nationalen Identität genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie untersucht Zeitungsartikel der auflagenstärksten deutschen Tageszeitungen zu dieser Zeit, der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen in Westdeutschland sowie der Neues Deutschland in Ostdeutschland hinsichtlich der Eigen- und Fremdbilder der beiden deutschen Lager. Sie macht dabei die Sicht des poststrukturalistischen Ansatzes von Laclau auf Identitätskonstruktionen für eine Diskursanalyse fruchtbar. In Kombination mit dem Akteurmodell ergibt sich ein Zugang zu den Texten, der zu reichhaltigen Ergebnissen führt: Es finden sich Konsumverhalten als brüchige Basis der Zusammengehörigkeit der deutschen Nation, überlegene Effizienz im Westen, das gute weil soziale Leben im Osten, eine fremdbeherrschte DDR-Bevölkerung, unmoralische SED-Funktionäre, dämonisierte Bedrohungen in Westdeutschland und der Nationalsozialismus als Mittel zur Abwertung des jeweils anderen Teil Deutschlands.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 2.2, Geschichte und Mythen als Basis der Nation: Um dem Kollektiv also einen besonderen Stellenwert zu verleihen, der die Basis für die Identifikation mit und Verteidigung des Kollektivs ist, können verschiedene Elemente herangezogen werden, die die Einzigartigkeit herausstellen. Eines dieser Elemente stellt der Rückgriff auf geschichtliche Ereignisse dar, die ‘beweisen’, dass die Nation tatsächlich schon immer vorhanden war. Dafür wird Geschichte auf die Elemente hin selektiert, die den Bestand einer Nation in der Gegenwart rechtfertigen, es sind nach einer bestimmten Logik ausgewählte Ereignisse. Auch Giesen betont, dass vergangene Ereignisse aus der Perspektive der gegenwärtigen Situation rekonstruiert werden, die ‘Geschichte’ einer Nation also nicht im Voraus feststeht, sondern das Produkt einer Selektion im Nachhinein ist. Um eine Nation als Fundament der gesellschaftlichen Ordnung zu zementieren, bedarf es aber der Rekonstruktion ihrer Existenz. Als Bestandteil der ‘natürlichen Ordnung’ war sie auch schon vor ihrer tatsächlichen Verwirklichung in einem Nationalstaat vorhanden, was durch die Geschichtsschreibung ‘bewiesen’ wird. Der Nachweis ihrer historischen Existenz ist damit Bestandteil der Konstruktionsweise einer Nation, durch die sie in die ‘natürliche Ordnung’ eingeordnet wird: ‘Erfolgreich gerahmte Identitätsarbeit besteht darin, den Konstrukt-Charakter in den Zustand einer Naturgegebenheit zu verwandeln und damit zu verhüllen’. Die Auswahl der geschichtlichen Ereignisse, wie die Betonung und Selektion einzelner Aspekte in den Ereignissen selbst, ist also funktional für die nationale Identität des Kollektivs. Durch den Rekurs auf vergangene Ereignisse wird die Besonderheit der eigenen Nation herausgekehrt. In der Geschichte sind die ‘Erinnerungen’ des Kollektivs gespeichert, die nur dieses Kollektiv gemacht hat: Geschichte besteht aus ‘den bemerkenswertesten Ereignissen des Lebens einer Nation’. Eine erfolgreiche Identifikation des einzelnen Mitglieds eines Kollektivs ist dann gegeben, wenn er sich nicht nur in seiner persönlichen, sondern auch mit der Vergangenheit des Kollektivs, dem er zugehörig ist, findet. Als Teile des nationalen Kollektivs, das schon vor dem Leben des einzelnen Individuums bestand und noch nach ihm andauern wird, können diese Teile über die Kenntnis von und die Identifizierung mit der Geschichte des Kollektivs zusammengeschlossen werden. Sie teilen alle dieselben ‘Erinnerungen’, die sie zudem mit den vorherigen und den nächsten Generationen verbindet. Dadurch und durch die Herausstellung der Einzigartigkeit der Vergangenheit des Kollektivs kann der Eindruck einer ‘[g]emeinsame[n] Herkunft und [eines] historischen Schicksal[s]’ hergestellt werden, der wiederum entsprechende Gefühle der Solidarität zwischen den Mitgliedern über Zeit und Raum hinweg herstellt. Anders herum können solche ‘Wir-Gefühl[e]’ bewusst bei den Mitgliedern eines nationalen Kollektivs hervorgerufen werden, wenn ein Hinweis auf das gemeinsam geteilte Schicksal gemacht wird. Der Rekurs auf die gemeinsame Geschichte fungiert damit gleichzeitig als Appell an das gemeinsame Schicksal. Eine andere, durch den Vergleich eines aktuellen Ereignisses mit vergangenen Ereignissen erzeugte Funktion ist die Möglichkeit, diesem aktuellen Geschehen eine bestimmte Bedeutung zu verleihen, beziehungsweise Verständnis dafür zu erzeugen. Durch den Vergleich mit einem geschichtlichen Ereignis, dessen Bedeutung allgemein bekannt und akzeptiert ist, kann das ‘neue’ Ereignis dieselbe Bedeutung zugeschrieben bekommen. Oder durch den Vergleich mit Vergangenem wird die Abgrenzung zu ihr betont, sie dient damit als negativer Bezug, was allerdings denselben Effekt hat wie bei dem positiven Vergleich: Es ist ein Verweis auf die verbindlichen Wertorientierungen und besonderen Lebensformen, den im Moment gefolgt wird. Die beiden deutschen Staaten wurden zum Beispiel in klarer Abgrenzung von der Vergangenheit des Dritten Reiches aufgebaut. An der Geschichte eines Kollektivs knüpft noch ein weiteres Element an, das für die Konstruktion einer nationalen Identität von Bedeutung ist: der Mythos, der nach Schöpflin auf Symbolen basiert und damit auch dieselbe Funktion für das Kollektiv hat wie diese: Durch ihn werden Gefühle der Zusammengehörigkeit und Solidarität geschaffen oder erneuert, ebenfalls ohne die Bedingung, dass die Teile des Kollektivs in Kontakt stehen oder tatsächlich Gleichheit aufweisen auch durch ihn kann die Vorstellung der Existenz eines nationalen Kollektivs erzeugt werden: Myth as the content of ritual, then, is an essential aspect of community maintenance. Thus consistency is created through communication and action, even while the participants have different beliefs and, indeed, conflicting beliefs. In the political real, this is significant because it creates potential means of allegiance on the basis of social identification. Auf der Seite der Mitglieder des Kollektivs bietet nach Schöpflin der Mythos ein hohes Identifikationspotential, weil er eine bestimmte Weltsicht reflektiert, er vermittelt Sinn für das Kollektiv und den Einzelnen. In ihm sind ebenfalls, wie in jedem kulturellen Element, Ideale, Werte und Richtlinien enthalten, die Orientierung geben und deshalb auch angenommen werden. In einem Mythos sind also auch die Kernelemente des Selbstbildes eines Kollektivs enthalten: ‘It gives content, at the same time, to the self-apperception of the community’. Ein solcher Mythos ist zum Beispiel der, dass Nationen in der Vergangenheit (also vor der Neuzeit, in der sie politisch tatsächlich relevant wurden) schon immer vorzufinden sind, die Wehler als ‘Mythos von der Langlebigkeit der Nationen’ bezeichnet. Geschichtsschreibung leistet damit einen erheblichen Beitrag zur Konstruktion von Mythen für die Nation. Eine weitere Form stellen Mythen über nationale Helden dar, in deren Charakterisierung und Taten dann die Werthaltungen für das Kollektiv enthalten sind. Hier soll insbesondere der Gründungsmythos von Nationen herausgehoben werden, der auch zum Beispiel für die BRD und die DDR nach dem Zweiten Weltkrieg vorzufinden ist. Mit der Gründung zweier neuer Staaten ‘wurde’ der davon eingeschlossenen Bevölkerung ein solcher Mythos ‘gegeben’, um aus den Erlebnissen mit dem Zweiten Weltkrieg die herauszufiltern, die auch eine kulturelle Neuorientierung zementieren und die Kriegserlebnisse sinnhaft bündeln. Entsprechend wird in diesem Mythos ein Neu-Anfang konstruiert, durch den sich von der Vergangenheit abgesetzt und auf eine ‘bessere’ Zukunft verwiesen wird: Every group, every political system, virtually every area of human endeavour has to make a start and seeks to mark that by some special act which is accorded mythic qualities. In this connection, one is dealing with a moment of novation which is not necessarily as drastic and radical as a revolution, but which, it is felt by the participants, deserves special note in order to point to the future. Die ‘Stunde Null’ als ein solcher offizieller Gründungsmythos für die BRD, muss in diesem Kontext gesehen werden. Durch ihn hat man sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit abgesetzt. Gleichzeitig wurde durch ihn auch auf eine ‘neue’ Zukunft verwiesen. Der geschichtliche Hintergrund des Zweiten Weltkriegs wurde auf die Erlebnisse aus den Bombenangriffen und der daraus resultierenden Zerstörung der Städte hin selektiert. Dies gründete das ‘neue’ deutsche Selbstverständnis auf den Erinnerungen an Not und Leid, aus dem das ‘Neue Deutschland’ sich wieder aufgerichtet hat: Der Nationalsozialismus war […] nicht die Vollendung der deutschen Geschichte, sondern der ‘Absturz des deutschen Volkes ins Bodenlose’ erst in der Not nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges steht das ‘deutsche Volk’ auf – wie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Die Deutschen erweisen ihr Deutschsein, nach dieser Phantasie, in der Fähigkeit zu entsagungsvoller Duldung von Leid, das wie ein ‘Schicksal’ über sie gekommen ist […]. Das kollektive Selbstbild gründet also in dieser Auffassung, wobei ein deutlicher Verweis auf eine ‘Schicksalsgemeinschaft’ zu finden ist, die sich aus dem ‘gemeinsamen Leiden’ an der Zerstörung ergibt. Der Verweis auf eine bessere Zukunft ergibt sich aus dem ‘wieder aufstehen’, das sich dann durch das sogenannte ‘Wirtschaftswunder’ bewiesen hat. Ein Beispiel für die Wertorientierung des neuen Selbstverständnisses gibt der Gründungsmythos der DDR, in dem auf den Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus aufgebaut wurde, was das antifaschistische Selbstverständnis der neuen Staatsgründung spiegelt: Auf ihrer eigenen Vergangenheit im Widerstand gründete die Überzeugung der Kommunisten, das bessere Deutschland zu schaffen, ebensosehr wie darauf, daß in der DDR antifaschistische Widerstandkämpfer alle führenden Positionen einnahmen. Die gemeinsame Vergangenheit war demnach die des antifschistischen Widerstandes, der mit der Befreiung durch die Rote Armee sein Ziel gefunden und die Zukunft in einem antifaschistischen sozialistischen Staat ermöglicht habe. Als Symbol dafür fungierte Buchenwald, ein Konzentrationslager, in dem sich – aus mythischer Sicht – die dort einsässigen Kommunisten zuerst selbst befreit haben, bevor ihnen dann noch die Rote Armee zur Hilfe eilte. Diese Elemente können also dazu dienen, die Besonderheit des eigenen Kollektivs heraus zustellen. Diese ergibt sich allerdings erst aus der Notwendigkeit, sie von anderen Kollektiven abzuheben, ist also nur in Bezug auf die Existenz vieler anderer Kollektive zu verstehen, von denen sich abgegrenzt werden muss. Dies verweist auf einen Aspekt der Konstruktion von Selbstbildern, ohne den diese nicht möglich wäre: der Bezug auf oder die Art der Abgrenzung einer Gruppe nach außen, die im nächsten Punkt ausgeführt werden soll.

Über den Autor

Anja Lemke, M.A., geboren 1983 in Mühldorf am Inn, studierte Soziologie und Pädagogik an den Universitäten Regensburg und Turku, Finnland. Sie schloss ihr Studium 2010 mit dem akademischen Grad der Magistra Artium in Regensburg ab. Während des Studiums arbeitete sie als Praktikantin in einer Institution zur Integration von Kindern mit Migrationshintergrund und betreute körperlich behinderte Menschen. Durch ihren Auslandsaufenthalt, die Arbeit mit Migrant/_innen und ihr Engagement in einer Bürgerinitiative für Flüchtlinge kam sie mehrfach in Berührung mit Fragen der nationalen Identität und insbesondere der Problematik des deutschen Selbstbildes. Mit dessen widersprüchlichen Facetten vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung beschäftigte sie sich intensiv.

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